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Erinnerungsarbeit unter Druck – Wie Gedenkstätten heute auf Rechtsextremismus reagieren Interview mit Dr. Elke Gryglewski

Elke Gryglewski

/ 8 Minuten zu lesen

Prävention von Rechtsextremismus war schon immer Teil der Gedenkstättenarbeit, sagt Dr. Elke Gryglewski von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Im Interview spricht sie über neue pädagogische Ansätze, den Umgang mit dem Ende der Zeitzeugenschaft – und Angriffe auf Gedenkstätten durch Rechtsextreme.

Gegenwartsbezüge sind in der Gedenkstättenarbeit zentral: Die Geschichte des Rechtsterrorismus lässt sich nicht erzählen, ohne die Kontinuitäten von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Schuldabwehr nach 1945 sichtbar zu machen. (© bpb, bundesfoto/Laurin Schmid)

Redaktion InfoPool: Der Bildungsauftrag von Gedenkstätten soll neben historisch-politischer inzwischen auch demokratiebildende und rechtsextremismuspräventive Bildung leisten. Ist das ein neues Phänomen?

Dr. Elke Gryglewski: Eigentlich ist es schon immer Teil des Bildungsauftrags gewesen, und zwar wirklich von Beginn an. Die ersten Grundlegungen für Gedenkstätten sind von den Überlebenden selbst gesetzt worden. Mit dem Gedanken, über die Auseinandersetzung mit diesen Orten und der Geschichte, die dort passiert ist, eine Mahnung auszusprechen und so präventiv wirksam zu werden. Die Begrifflichkeiten haben sich etwas verändert, aber dieser Gedanke der Prävention war immer schon Teil der Gedenkstättenarbeit. Mitunter so stark, dass die Gedenkstätten in den 1980er-Jahren teilweise ganz explizit Gegenwartssituationen bearbeiteten. Erst über eine Professionalisierung der Gedenkstätten hat man reflektiert, dass das nicht wirklich sinnvoll ist.

Das ist jetzt etwas klischeehaft, aber um es zu verdeutlichen: In den 1980er-Jahren ist Gedenkstättenarbeit hauptsächlich zivilgesellschaftlich betrieben worden. Die ehrenamtlich tätigen Menschen haben das aus einer sehr ehrenwerten Begründung heraus gemacht. Sie wollten für bestimmte Themen sensibilisieren und deswegen wurde dann in Teilen – ich nenne es jetzt mal platt – sozusagen mit der Holzhammermethode auf die Gegenwart hingewiesen. Zum Beispiel hat die erste Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz mit einem Foto von zwei jungen Mädchen geendet. Das Foto zeigte eine deutsch-israelische Begegnung auf einem jüdischen Friedhof, wo ein Hakenkreuz auf einen Grabstein geschmiert wurde. Noch offensichtlicher hätte man gar nicht thematisieren können, dass Erlerntes aus der Geschichte auf den Umgang mit aktuellem Rechtsextremismus angewendet sollte. Erst im Zuge der Professionalisierung und der zunehmenden Diskussion über die Standards von Gedenkstättenarbeit, kam der Gedanke auf, dass den Besucher:innen mit dem historischen Wissen eine Orientierung geboten werden soll. Das heißt, die Besucher:innen sollen selbst begreifen, wo der Gegenwartsbezug dessen liegt, was wir ihnen an historischem Wissen anbieten und wir lediglich dabei unterstützen sollten.

Was sind da bewährte Ansätze und Methoden? Gibt es Best-Practice-Ansätze oder neue pädagogische Konzepte, die Sie empfehlen können?

Dr. Elke Gryglewski: So etwas wie ein Schema F gibt es grundsätzlich nicht. Es gibt Menschen, die sich mehr von einem Dokument ansprechen lassen – ob das jetzt ein Brief ist oder ein Tagebuch – und andere, die den Zugang eher auf andere Art finden. Das, was wir aber schon als Best Practice erleben, ist Zeit. Indem man wegkommt von dieser sogenannten Kurzzeitpädagogik wie beispielsweise einem Besuch von drei Stunden und einer Führung, die aufgrund des kurzen Zeitfensters frontal stattfinden muss – egal wie dialogisch sich die Guides bemühen, das zu tun. Die Formate, die zum Nachdenken anregen, sind in der Regel die, die eben länger dauern als drei Stunden, länger dauern als ein Tag. Am besten ist eine Woche Zeit, um mit einer Gruppe zu arbeiten. Dann ist auch nicht festgelegt, dass eine Frage in einem bestimmten Moment gestellt werden muss, sondern zum Beispiel beim gemeinsamen Abendessen aufkommen kann. Das ist der Konsens zwischen allen Gedenkstättenmitarbeitenden. Es bewährt sich, wenn mehr Zeit zur Verfügung steht. Und sonst gibt es inzwischen viele digitale Angebote oder Graphic Novels. Das sind alles Antworten auf Pilotprojekte, die gut funktioniert haben. Deswegen steht ein möglichst breites Angebot zur Verfügung, weil in unserem Publikum eben nicht alle den gleichen Geschmack haben und die gleiche Rezeptionsform bevorzugen. Zudem gilt es, bei den unterschiedlichen Formaten oder Angeboten solche auszuwählen, die das Nachdenken über die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart anregen.

Inwiefern tragen neue mediale Formen des Erinnerns und der Vermittlung in Gedenkstätten zur Interner Link: primären Rechtsextremismusprävention und Demokratiebildung bei?

Dr. Elke Gryglewski: Alle unsere Angebote, egal ob es die digitalen oder die Besuche sind, richten sich zum einen an ein Publikum, was interessiert ist und Wissen erlangen möchte. Und zum anderen an ein noch unentschiedenes Publikum. Die Menschen, die wir über Besuche erreichen, das ist nur ein Bruchteil. Deshalb sind Tools wie TikTok, Instagram, Storytelling oder Lernspiele wichtig, um eine Kontaktaufnahme mit den Menschen zu ermöglichen. Ich würde mir allerdings wünschen, dass es uns gelingt, unsere Angebote so zu gestalten, dass sie darüber hinaus Interesse wecken, sich tiefergehend mit der Thematik auseinanderzusetzen. Ich sehe das als einen Prozess und die digitalen Angebote sind ein Teil davon.

Wenn jemand bereits eine überzeugte rechtsextreme Haltung hat, werde ich die Person jedoch nicht mit diesen Tools erreichen. Das erfordert einen viel größeren, langwierigeren Prozess. In diesem kann an irgendeiner Stelle auch ein Besuch in einer Gedenkstätte stehen, aber das braucht sozialarbeiterische Unterstützung. Es gab vor vielen Jahren in Berlin-Marzahn einen Trainer, der mit sechs Neonazis so ein Projekt gemacht hat. Die sind dann auch in die Gedenkstätte Buchenwald gefahren. Das ist ein intensives, langwieriges Projekt gewesen, in dem dieser Besuch in Buchenwald einen kleinen Teil ausgemacht hat, neben ganz vielen anderen Interventionen.

Welche Herausforderungen ergeben sich für die Gedenkstättenpädagogik durch das Ende der Zeitzeugenschaft? Wie kann authentische Vermittlung weiterhin sichergestellt werden?

Dr. Elke Gryglewski: Wir reden seit Anfang der 1990er-Jahre über das Interner Link: Ende der Zeitzeug:innenschaft. Das bedeutet auch, dass unser Publikum mehrheitlich schon lange nicht mehr die Chance hat, Zeitzeug:innen kennenzulernen. Anders gesagt: Diejenigen Jugendlichen, die noch die Chance haben, Überlebende zu erleben, sind eine kleine Minderheit. Wir hatten neulich in Celle eine Veranstaltung mit dem Holocaust-Überlebenden Albrecht Weinberg, der sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben hat, nachdem die CDU mit Stimmen der AfD ihren Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik durchgebracht hat. 200 junge Leute haben daran teilgenommen. Trotzdem ist das nur eine kleine Gruppe. Der Großteil der Besucher:innen befindet sich schon lange in der Situation, dass sie auf andere Zeugnisse zurückgreifen müssen. Gedenkstätten und Ego-Dokumente bekommen für sie eine wichtigere Funktion. Da sind die Gedenkstätten schon lange gut gewappnet. Die andere Frage ist eine politische. Da gehen eine Lobby und eine Autorität verloren, die für die Gedenkstätten immens wichtig ist und war. Wenn Herr Weinberg sein Bundesverdienstkreuz zurückgibt, dann ist das eine Autorität. Denn es gibt viele Menschen, die daran glauben, was er zu sagen hat.

Für uns als Mitarbeitende ist das gravierend, weil die Generation nicht mehr da ist, die uns als Gedenkstättenmitarbeitende sozialisiert hat. Und für uns gehen viele Freund:innen verloren. Es gibt jüngere Gedenkstättenmitarbeitende, die schon keine Überlebenden mehr kennen. In Bergen-Belsen ist die Situation besonders, aufgrund der sehr vielen Child Survivors , die es noch lange gegeben hat. Aber auch da wird es einen Wandel geben, auf der politischen und auf der persönlichen Ebene. Den Verlust kann man nicht aufheben. Für die Besucher:innen-Gruppen spielt das nicht so eine zentrale Rolle. Im Diskurs wird so getan, als ob das Gespräch mit den Überlebenden das einzig Wirksame ist, um Menschen zu erreichen. Als wir regelmäßig mit Zeitzeug:innen gearbeitet haben und diese Zeitzeug:innen Gespräche geführt haben, war der emotionale Moment nicht unwichtig. Aber es war nicht so, dass die ganze Klasse dasaß und ihnen an den Lippen hing. Wir mussten auch immer wieder schauen, dass wir den Zeitzeugen nicht überfordern, weil der jetzt eine Gruppe vor sich hat, die nicht die Konzentrationsfähigkeit hat für seine Geschichte, die er eben nur in zwei Stunden erzählen kann. Das sind ja keine Roboter.

Die Zeitzeug:innen, die jetzt noch leben, sind zur Zeit des Nationalsozialismus drei oder vier Jahre alt gewesen. Das heißt, die Erwartung an sie kann nicht sein, eine historische Wahrheit zu erzählen. Ihre Aufgabe ist, da zu sein, Mensch zu sein und ihrem Publikum einen emotionalen Zugang zum Thema zu ermöglichen. Das sind Schräglagen in den Diskursen, aufgrund derer zum Beispiel mehr und mehr mit Hologrammen gearbeitet wird. Die kann man für meine Begriffe nutzen, wenn man sie eingebettet einsetzt in ein ganzes Seminar, in dem die Gruppe auch begreift, was für eine Bedeutung Zeitzeug:innen hatten, bevor sie Zeitzeug:innen wurden. Man vergisst, dass das politische Menschen waren, die ganz viel erkämpft haben, bevor sie die Rolle der Zeitzeug:innen eingenommen haben.

Einige Gedenkstätten widmen sich inzwischen auch rechtsextremer Gewalt nach 1945. Inwiefern verändert eine stärkere Gegenwartsorientierung die Gedenkstättenpädagogik?

Dr. Elke Gryglewski: Wir müssen Gegenwartsbezüge herstellen, wenn wir plausibel machen wollen, warum die Arbeit der Gedenkstätten so wichtig ist. Diese Thematisierung nach 1945 bezieht sich auf die Kontinuitätslinien von Rechtsextremismus auch in der Kombination mit Antisemitismus und Schuldabwehr. Wir sprechen beispielsweise darüber, dass Michael Kühnen als Neonazi in den 1970er-Jahren einen Anschlag auf die Gedenkstätte Bergen-Belsen geplant hatte. Die Geschichte des Rechtsterrorismus ist nicht erzählbar, wenn man sie nicht auch mit der Verweigerung der Bearbeitung der Geschichte nach 1945 erzählt.

In den letzten Monaten wurde sehr häufig debattiert, ob wir eine vergleichbare Situation zum Ende der Weimarer Republik haben. In den Gedenkstätten kam dazu die Frage auf, wie man das mit dem Publikum bearbeiten könnte. Ist das eine Ebene, die wir in Online-Posts behandeln oder bleiben wir bei der Arbeit mit den Besucher:innen doch bei der Historie? Da befinden wir uns noch in einem Findungsprozess. Diese gegenwartsbezogene Vergleichsebene kann den systematischen Massenmord nicht einschließen, weil das ein singuläres Ereignis war. Es ist allerdings durchaus hilfreich, sich die Phase von 1933 bis 1938 anzuschauen, um zu verstehen, wie bestimmte Mechanismen ausgesehen haben und wo wir vielleicht etwas lernen können für die Gegenwart.

Was sind – mit Blick auf gegenwärtigen Rechtsextremismus – die Ihrer Meinung nach größten Herausforderungen für NS-Gedenkstätten?

Dr. Elke Gryglewski: Eine Herausforderung stellt der Einfluss durch die sozialen Medien dar, die zum Beispiel die AfD nutzt, um Menschen zu erreichen. Die zweite Herausforderung ist die reale Bedrohungslage. Die Angriffe gegen Gedenkstätten haben nicht nur zugenommen, sondern sich in ihrer Form auch verschlimmert. Sie reichen von anonymen Anrufen, E-Mails, dem selbstbewussten Aufsuchen der Gedenkstätten durch Neonazis und Holocaustleugner:innen bis hin zu Zerschlagung von Fensterscheiben und Zerstörung von Informationstafeln wie in der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten 2023. Das macht einem Angst. Als beispielsweise der Anschlag gegen den Sitz der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten verübt wurde, hat das meine Mitarbeiter:innen zunächst sehr in Sorge versetzt. Dann ist man in einer Situation, sagen wir jetzt lieber nichts oder beziehen wir dezidiert Position? Wir haben Stellung bezogen. Es sind sogar Mitarbeiter:innen, die vorher noch nie auf einer Demo waren, mit auf die Demonstration gegen die AfD gegangen. Aber die Verunsicherung bleibt. Wir sind jetzt intensiver in Kontakt mit der Polizei. Bergen-Belsen liegt im Wald und wenn man mit dem Auto abends allein nach Hause fährt, kann einen das schon ängstigen. Hinzu kommen diese Droh-Mails und anonymen Anrufe. Es ist schon heftig, wie sich so die Grenze des Sagbaren verschoben hat. Ich frage mich: Wie können wir dem etwas entgegensetzen? Ist das etwas, mit dem wir jetzt leben müssen? Oder wird das etwas sein, was sich auch wieder einfangen lässt?

Das Interview wurde am 24. Februar 2025 geführt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ego-Dokumente sind zum Beispiel Tagebücher, Briefe, Autobiografien und andere Quellen, in denen ein historisches Subjekt ermöglicht, seine Lebenswelt zu rekonstruieren.

  2. Überlebende Kinder der Shoah.

  3. Die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten hatte mit einem zivilgesellschaftlichen Bündnis gegen den Parteitag der AfD in Celle aufgerufen. Kurz darauf wurden etliche Fenster am Stiftungssitz zerschlagen und eine Informationstafel zur Geschichte des Gebäudes (ehemals ein Schulungszentrum für die SS) von der Wand gerissen und zerstört. Die Täter:innen wurden nicht gefasst. Der Angriff stand jedoch mutmaßlich in Zusammenhang mit diesem Aufruf.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Elke Gryglewski für bpb.de

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Weitere Inhalte

Dr. Elke Gryglewski ist Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Sie studierte Politikwissenschaften und Geschichtsdidaktik in München, Berlin und Santiago de Chile und promovierte zur Frage der Erinnerung in der diversen Gesellschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte erstrecken sich über den Nationalsozialismus in globaler Perspektive, den Umgang mit dem NS nach 1945 und in der diversen deutschen Gesellschaft, sowie die Colonia Dignidad.