Gedenkstättenbesuchen wird in Bezug auf Demokratieförderung und Menschenrechtsbildung eine besondere Rolle zugeschrieben (Thimm/Kößler/Ulrich 2010, S. 10). Gleichzeitig stellt die pädagogische Praxis solcher Besuche eine anspruchsvolle Aufgabe dar.
Welche Funktion Gedenkstätten in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit erfüllen können, hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Ausstieg zum Einstieg e.V. (BAG Ausstieg) in der Innovationsgruppe Gedenkstätten (IG Gedenkstätten) erarbeitet.
Unterschiede zwischen historisch-politischer Bildung in Gedenkstätten und zivilgesellschaftlicher Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit
Gedenkstättenbesuche sollen – sowohl im Rahmen historisch-politischer Bildung als auch zivilgesellschaftlicher Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit – zur Reflexion aus unterschiedlichen Blickwinkeln anregen und nach der historischen und aktuellen Bedeutung des Ortes sowie den historischen, soziologischen und psychologischen Bedingungen, aus denen die nationalsozialistischen Verbrechen hervorgingen, fragen (Kaiser 2010, S. 21). Als Leitlinie ihrer Praxis orientieren sie sich dabei am
Auch wenn beide Fachdisziplinen – historisch-politische Bildung und zivilgesellschaftliche Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit – Gemeinsamkeiten aufweisen, erfolgt die pädagogische Auseinandersetzung mit (extrem) rechten Einstellungen und Verhaltensweisen in zwei unterschiedlichen Handlungsfeldern, die entsprechend ihrer Zielgruppe, Vorgehensweise und Zielsetzung variieren.
Für die pädagogische Arbeit von Mitarbeitenden in Gedenkstätten sind zwei Aspekte von (gleichwertiger) Bedeutung: auf der einen Seite die Vermittlung von Faktenwissen über den Nationalsozialismus und seiner Verbrechen und auf der anderen Seite Werturteile, die sich an Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten orientieren (Thimm/Kößler/Ulrich 2010, S. 13). Die pädagogische Arbeit von Mitarbeitenden in Gedenkstätten fokussiert sich dabei auf heterogene Zielgruppen wie Jugendliche (im schulischen und außerschulischen Kontext), verschiedene Berufsgruppen oder Erwachsene.
Zivilgesellschaftliche
Eine Grundvoraussetzung für den Besuch von Gedenkstätten im Rahmen einer zivilgesellschaftlichen Ausstiegs- und Distanzierungsberatung ist, dass dieser freiwillig geschieht. Auch wenn Mitarbeitende von Gedenkstätten ebenfalls auf Freiwilligkeit setzen, basiert der Besuch vor allem im schulischen Kontext in der Regel nicht auf einer bewussten Entscheidung, wodurch nicht zwangsläufig gegeben ist, dass sich Jugendliche auf die Auseinandersetzung mit der Gedenkstätte einlassen (Goetz 2022, S. 91). Ist der Besuch einer Gedenkstätte für Jugendliche eine Pflicht, könnte das zu Ablehnung führen und (bereits vorhandene) ablehnende Einstellungen verstärken (vgl. ebd.).
Im Gegensatz zu Ausstiegs- und Distanzierungsberatungen, die sich über mehrere Jahre erstrecken können, fallen Formate historisch-politischer Bildung in Gedenkstätten in der Regel kürzer aus. Somit steht Gedenkstättenmitarbeitenden auch eine geringere Zeitspanne als Ausstiegs- und Distanzierungsberatenden für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu den Adressat:innen zur Verfügung. Dieses Vertrauen braucht es jedoch vor allem, wenn offene Lernräume geschaffen werden sollen, in denen sich Adressat:innen authentisch zeigen und eigene Deutungsmodelle reflektieren können.
Demgegenüber ist der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zu Beginn einer Ausstiegs- und Distanzierungsberatung im Fokus und stellt einen wesentlichen Faktor für einen gelungenen Ausstieg und eine erfolgreiche Distanzierung (Goetz 2022, S. 15; Fraaß 2025, S. 87). Ein weiterer Unterschied der beiden Bereiche liegt in der Zahl der beteiligten Personen: Im Rahmen historisch-politischer Bildung werden Gedenkstättenbesuche meist in Gruppen durchgeführt, während sie in der Ausstiegs- und Distanzierungsberatung in Einzelsettings stattfinden.
Welche Rolle können Gedenkstätten in der zivilgesellschaftlichen Distanzierungs- und Ausstiegsarbeit einnehmen?
Auch wenn der Besuch von Gedenkstätten kein Regelangebot von Ausstiegs- und Distanzierungsberatungen darstellt, kann dieser einen Mehrwert für die inhaltlich-ideologische Distanzierung bieten. Die sogenannte Ideologiearbeit ist ein wichtiger Baustein von Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit. Zentral bei der Auseinandersetzung mit Elementen (extrem) rechter Ideologien ist dabei „die Entwicklung einer eigenen Haltung durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschenbild und den eigenen Werten“. Dies wird als ein Prozess der Selbstreflexion verstanden, in dem „Werte, Haltungen, Perspektiven und Grundannahmen sichtbar gemacht und hinterfragt werden“ (BAG 2023, S. 67).
Die Einbeziehung von Gedenkstätten in diesen Prozess kann sinnvoll sein, wenn Beratungsnehmende sich wie weite Teile (extrem) rechter Strukturen, (positiv oder leugnend) auf den Nationalsozialismus beziehen. Bei einem solchen Hintergrund können historische Bezüge und tradierte Ideologieelemente innerhalb der Beratung thematisiert werden (Innovationsgruppe Gedenkstätten, S. 154f.). Der Besuch einer Gedenkstätte bietet dann die Chance, sich mit der Geschichte durch Ausstellungen, Rundgänge oder andere pädagogische Vermittlungsangebote konkret auseinanderzusetzen. Damit einhergehend ergibt sich die Möglichkeit, Irritationsmomente zu setzen, Widersprüche aufzudecken und zur Reflexion anzuregen (Innovationsgruppe Gedenkstätten, S. 157). Zudem können Gedenkstättenbesuche ein historisch-politisches Bewusstsein fördern, in dem die verschiedenen Positionen der Betroffenen, der Täter:innen und der Gesellschaft aufgezeigt und Fragen für die Gegenwart, wie beispielsweise zu Menschenrechtsverletzungen, abgeleitet werden.
Auch wenn Gedenkstätten auf besondere Art und Weise für historisch-politische Bildung relevant sind, da sie „wie fast keine Einrichtung sonst Forschungsergebnisse und gesellschaftliche Erinnerungsdiskurse vervielfältigen“ sowie „öffentliches und privates Gedenken ermöglichen, aber auch Orte des Lernens, der Kunst und Kultur sind“ (Behrens 2011, S. 60), können auch andere Arten von Erinnerungsorten (analog und digital) wie Museen, Denkmäler oder Dokumentationszentren sinnvoller Teil der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit sein. Abhängig von dessen inhaltlich-thematischer Ausrichtung, Selbstverständnis und Auftrag verfügt jeder Erinnerungsort über eigene Potenziale und Grenzen. Daher sollten bei der Auswahl des Ortes die historischen Hintergründe und vorhandenen Angebote berücksichtigt werden.
Wie beide Bereiche voneinander lernen und profitieren können
Trotz der beschriebenen Unterschiede zwischen den zwei Handlungsfeldern können diese sowohl auf konzeptioneller und theoretischer Ebene als auch in der konkreten Praxis voneinander lernen und profitieren. So können Ausstiegs- und Distanzierungsberatende auf konkrete Herangehensweisen, Methoden und Ansätze der historisch-politischen Bildungsarbeit wie Quellen- oder Biografiearbeit
Ebenso können Gedenkstättenmitarbeitende Unterstützung aus den Erfahrungen von Ausstiegs- und Distanzierungsberatenden ziehen – beispielsweise im Umgang mit (extrem) rechten Vorfällen. Laut einer Recherche des Deutschlandfunks aus dem Jahr 2024 wurden seit 2019 mehr als 1.000 politisch motivierte Straftaten an deutschen Gedenkstätten registriert, die einen „rechtsextremen Hintergrund“ aufweisen (Deutschlandfunk 2024). Werden Mitarbeitende von Gedenkstätten mit (extrem) rechten Einstellungen und Verhaltensweisen konfrontiert, können sie konkret an die fachliche Expertise über aktuelle Dynamiken und Entwicklungen der (extremen) Rechten sowie an pädagogischen Methoden der zivilgesellschaftlichen Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit anknüpfen, insbesondere zum Umgang mit (extrem) rechten Äußerungen.
Die Innovationsgruppe Gedenkstätten spricht sich folglich dafür aus, historisch-politische Bildung an Erinnerungsorten und Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit als benachbarte Disziplinen zusammenzudenken und diese im fachlichen Austausch konzeptionell weiterzuentwickeln (Innovationsgruppe Gedenkstätten 2025, S. 151). So kann die zivilgesellschaftliche Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit durch ein tieferes Kennenlernen der inhaltlichen Arbeit von historisch-politischen Bildner:innen ihre Angebote weiterentwickeln. Außerdem können Mitarbeitende von Gedenkstätten durch Fortbildungen von Ausstiegs- und Distanzierungsberatenden in ihrer Handlungsfähigkeit beim Umgang mit (extrem) rechten Einstellungen und Verhaltensweisen gestärkt werden. Entstehen könnten daraus beispielsweise gemeinsam entwickelte Bildungsformate.
Was muss bei einem Gedenkstättenbesuch im Rahmen einer zivilgesellschaftlichen Ausstiegs- und Distanzierungsberatung beachtet werden?
Gedenkstättenbesuche als Teil zivilgesellschaftlicher Ausstiegs- und Distanzierungsberatung bergen Herausforderungen, denen durch eine sorgfältige Planung sowie Überlegungen bezüglich der Eignung des Besuches vorbeugend begegnet werden kann. Dabei ist es wichtig, das Potenzial des Besuches nicht zu überschätzen und nicht als Patentlösung gegen geschichtsrevisionistische und menschenverachtende Haltungen zu verstehen, sondern vielmehr als Reflexionsanstoß. Grundvoraussetzung des Besuches ist es, dass sich die Adressat:innen bereits in einem fortgeschrittenen Ausstiegsprozess befinden und der Ort eine Relevanz für denjenigen oder diejenige besitzt. Es empfiehlt sich, gemeinsam mit den Adressat:innen bestimmte Ziele für den Besuch zu formulieren. Hierfür muss jedoch bereits eine ausführliche Aufarbeitung der Ideologie stattgefunden haben (reset/VAJA e.V. 2020, S. 35).
Da Gedenkstätten insbesondere für Überlebende und deren Angehörige Orte des Leidens, der Trauer und des Totengedenkens sind (Knigge 2020, S. 444), ist der Schutz anderer Besucher:innen und der Mitarbeitenden von höchster Bedeutung. Vor dem Besuch sollte daher der Kontakt zu den Mitarbeitenden gesucht, ihre Grenzen und Bedenken erfragt und berücksichtigt werden. Außerdem ist es ratsam, die Gedenkstätte zu einem Zeitpunkt zu besuchen, an dem möglichst wenig Publikumsverkehr herrscht (reset/VAJA e.V. 2020, S. 19). Zusätzlich muss berücksichtigt werden, ob Beratungsnehmende von anderen Besucher:innen erkannt werden könnten und wie ihre Anonymität sichergestellt werden kann.
Eines der Ziele von Gedenkstättenbesuchen ist die Förderung von Empathie. Diese darf jedoch nicht in eine Identifikation mit den Opfern der NS-Verfolgung umschlagen. Aufgrund dessen sollte auf Entlastungserzählungen, in denen (Mit-)Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen relativiert wird und eine Instrumentalisierung von Inszenierungen der Opfer, insbesondere bei der Anwendung von biographischen Methoden, verzichtet werden. Hingegen sollte mit einem gesellschaftshistorischen Blick gearbeitet werden, der nach den Opfern fragt: Wer waren sie und wer hat sie zu Opfern gemacht? Wie hat die Gesellschaft funktioniert, die solche Taten ermöglichte? (Innovationsgruppe Gedenkstätten 2025, S. 157).
Der Besuch der Gedenkstätte allein reicht für die Zielsetzung der inhaltlich-ideologischen Distanzierungsarbeit nicht aus. Ein Großteil dieser Arbeit findet in der Nachbesprechung statt, in der die zuvor festgelegten Fragestellungen und das Anliegen noch einmal aufgegriffen, reflektiert und das Erlebte auf den Ausstiegsprozess übertragen wird (reset/VAJA 2020, S. 40f.).
Fazit
Im Rahmen der Innovationsgruppe Gedenkstätten wurde deutlich, dass Fachkräfte aus der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit und Gedenkstätten von einer Zusammenarbeit und Vernetzung profitieren können. Gedenkstätten und andere Erinnerungsorte können in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit neue Impulse setzen und zur Reflexion anregen. Ebenso können Ansätze und Methoden der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit historisch-politische Bildungsarbeit stärken – insbesondere in den Bereichen Gesprächsführung, Beziehungsaufbau und beim Umgang mit Widerständen. Beide Felder sollten kontinuierlich im Austausch bleiben und bei Bedarf gezielt die Expertise der jeweils anderen Fachkräfte einholen.