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Der Terror des NSU: Entstehung, Verlauf, Reaktionen | Der NSU-Komplex | bpb.de

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Der Terror des NSU: Entstehung, Verlauf, Reaktionen

Barbara Manthe

/ 11 Minuten zu lesen

Zehn Morde, Sprengstoffanschläge, Banküberfälle: Mitglieder des NSU begingen zwischen 1998 und 2011 zahlreiche Verbrechen, deren rechtsterroristischer Hintergrund erst im November 2011 ans Licht kam.

Das BKA zeigt im Rahmen einer Pressekonferenz Waffen des NSU, die im Wohnmobil in Eisenach sowie im ausgebrannten Haus in Zwickau sichergestellt wurden. (© IMAGO, Stockhoff)

Der Terror des NSU, 1998 bis 2011

Am 26. Januar 1998 wird im thüringischen Jena eine Bombenwerkstatt ausgehoben: Bei einer Durchsuchung entdeckt die Polizei in einer Garage funktionstüchtige Rohrbomben, Sprengstoff und Propagandamaterial. Die drei jungen Neonazis, die die Garage zum Bombenbau genutzt haben, tauchen am selben Tag unter. Es handelt sich um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die Kernmitglieder des späteren NSU.

Die Vorgeschichte des NSU beginnt im vereinigten Deutschland der frühen 1990er Jahre. Rechtsradikale, vor allem rassistische Übergriffe, Pogrome und Brandanschläge erreichten ein bisher nie gesehenes Niveau. Die neonazistische Gewalt war alltäglich geworden – auch in Jena, wo Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe aufwuchsen und sich als Jugendliche der rechtsradikalen Szene anschlossen. In der Jenaer Neonaziszene und der überregionalen Vernetzungsstruktur „Thüringer Heimatschutz“ entstanden und vertieften sich die Freundschaften und Netzwerke der drei mit vielen ihrer späteren Unterstützer*innen.

Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zogen ihre Schlüsse aus den Gewaltdebatten, die in der Neonaziszene intensiv geführt wurden: Sie begingen antisemitische Propagandataten, bauten Bomben und Bombenattrappen und platzierten sie in Jena, was schließlich zu der Durchsuchung im Januar 1998 führte. Nach ihrer Flucht versteckten sich die drei mit Hilfe von „Kameraden“ in Chemnitz und finanzierten ihr Leben mit Spenden aus der Szene sowie mit Raub- und Banküberfällen. Im Juni 1999 begingen sie den ersten Anschlag: In einer türkischen Gaststätte in Nürnberg explodierte eine mit einem Sprengsatz präparierte Taschenlampe und verletzte einen jungen Türken schwer.Im Mai 2000 zogen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe nach Zwickau um, wo sie bis 2011 wohnten.

Im September 2000 begann der NSU seine Mordserie – die ersten neun Opfer waren Kleingewerbetreibende mit Migrationsgeschichte, das zehnte eine Polizistin. Die Opfer waren zwischen 21 und 50 Jahren alt. Für ihre Angehörigen, Eltern, Ehefrauen und Kinder, brach mit den Morden eine Welt zusammen.

In Nürnberg wurde am 9. September 2000 auf den Blumenhändler Enver Şimşek geschossen; zwei Tage später starb er an seinen schweren Verletzungen. Für das Verbrechen benutzten die Täter eine Pistole vom Typ Česká 83, die sie von Ralf Wohlleben und Carsten S., zwei Freunden aus der Jenaer Zeit, erhalten hatten. Diese Tatwaffe wurde bei allen rassistisch motivierten Morden des NSU eingesetzt. Ab dem zweiten Mord im Juni 2001 stand also für die Ermittler*innen fest, dass eine Verbindung zwischen den Taten bestand.

Ende 2000 beging der NSU einen weiteren Sprengstoffanschlag auf ein Ladengeschäft in der Kölner Probsteigasse. Die 19-jährige Tochter der deutsch-iranischen Inhaberfamilie wurde schwer verletzt.

Zwischen Juni und August 2001 ermordete der NSU drei weitere Menschen: am 13. Juni 2001 Abdurrahim Özüdoğru in Nürnberg, am 26. Juni Süleyman Taşköprü in Hamburg und am 29. August Habil Kılıç in München.

Am 25. Februar 2004, also zweieinhalb Jahre später, ermordete der NSU Mehmet Turgut in Rostock.

Am 9. Juni 2004 explodierte in der Kölner Keupstraße, einer migrantisch geprägten Einkaufsstraße, eine Nagelbombe. Der Anschlag forderte über zwanzig teils schwer Verletzte.

Exakt ein Jahr später, am 9. Juni 2005, ermordete der NSU Ismail Yaşar in Nürnberg, am 15. Juni Theodoros Boulgarides in München. Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubaşık in Dortmund erschossen, am 6. April 2006 Halit Yozgat in Kassel.

Am 25. April 2007 ermordete der NSU – mit einer anderen Tatwaffe – in Heilbronn die 22-jährige Polizeimeisterin Michèle Kiesewetter und verletzte ihren Kollegen schwer.Der Mord an der jungen Polizistin war nach heutigem Kenntnisstand der letzte in der Mordserie des NSU.

Von Anfang an planten die Täter*innen, sich später öffentlich zu ihren Anschlägen zu bekennen. Sie fotografierten die Opfer und Tatorte direkt nach ihren Taten, um Nachweise für die Täterschaft zu schaffen. 2001 begannen sie mit der Arbeit an einem zynischen Bekennervideo, das erst nach der Selbstenttarnung 2011 publik wurde.Obgleich der NSU von zahlreichen Helfer*innen unterstützt wurde, konnten direkte Mittäter*innen bisher nicht ermittelt werden. Der jahrelange unerkannte NSU-Terror bildet eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik, steht aber mit seiner Brutalität und Zielsetzung in der Kontinuität rechtsterroristischer Taten seit 1945.

Was ist „Rechtsterrorismus“?

Wie unterscheidet man Rechtsterrorismus von rechtsradikaler Gewalt? Grundsätzlich ist es nicht einfach, Terrorismus zu definieren. Der Begriff beschreibt sehr unterschiedliche politische Gewaltphänomene und seine wissenschaftliche, politische und mediale Deutung unterliegt einem stetigen Wandel. Trotz aller widerstreitenden Ansätze hat sich aber spätestens mit den Überlegungen des Soziologen Peter Waldmann die Annahme durchgesetzt, dass ein, wenn nicht gar das zentrale Merkmal des Terrorismus sein kommunikativer Charakter ist.

Rechtsterrorismus kann als schwerwiegende Gewalt mit Symbolcharakter verstanden werden, die von konspirativ agierenden Gruppen oder Einzelpersonen gegen Personen oder Sachen ausgeübt wird. Die Täter*innen formulieren rechtsradikale Ziele und/oder sind in ein rechtsradikales Milieu eingebunden.

Die Taten verfolgen mindestens zwei der folgenden Ziele: a) ein Klima der Angst in der Bevölkerung oder bei bestimmten Bevölkerungsteilen zu erzeugen, b) Aufmerksamkeit zu erregen und/oder Öffentlichkeit herzustellen, c) staatliche, gesellschaftliche oder politische Akteure in ihrem Handeln zu beeinflussen oder eine Überreaktion durch die Behörden zu provozieren, d) die politische oder gesellschaftliche Ordnung zu destabilisieren oder sie (im Falle des sogenannten Vigilantismus) vermeintlich zu verteidigen. Opfer oder Ziele des Rechtsterrorismus werden zufällig gewählt oder repräsentieren ein größeres menschliches Publikum, auf das Terrorist*innen mit symbolischen Taten abzielen.Das Ziel des NSU-Terrors war es, mit Morden an willkürlich ausgewählten Opfern alle Migrant*innen in Deutschland zu terrorisieren und ein Klima der Angst bei ihnen zu erzeugen.

Von rechtsradikaler Gewalt lässt sich der Rechtsterrorismus durch seinen Symbolcharakter sowie das vorrangige Ziel abgrenzen, eine Botschaft durch schockierende Anschläge an eine größere Gruppe oder die gesamte Öffentlichkeit zu übermitteln. Nicht als Rechtsterrorismus, wohl aber als rechtsradikale Gewalt – oder auch „rechter Terror“, wenn es um alltägliche und omnipräsente Gewalt geht – ist situative rechtsradikale Straßengewalt zu verstehen, die oftmals spontan entsteht und direkt gegen die Opfer gerichtet ist. Auch lässt sich Rechtsterrorismus von in aller Öffentlichkeit stattfindenden rassistischen Pogromen wie 1992 in Rostock abgrenzen.

Das Versagen von Staat und Gesellschaft

In den 1990er und 2000er Jahren wurde in Sicherheitsbehörden, durch verfassungsschutznahe Wissenschaftler*innen und in der Politik sehr häufig die Frage aufgeworfen, ob sich eine „Rote Armee Fraktion“ von rechts, eine „Braune RAF“ gebildet habe. Da der Rechtsterrorismus aber grundsätzlich anders als der Linksterrorismus agiert und auf feste Kommandostrukturen und ausgefeilte Manifeste verzichtet, wurde diese Frage stets verneint.Die Öffentlichkeit war beruhigt: Auch wenn rechtsradikale Gewalt immer noch ein politisches Problem war, schien die Gefahr eines organisierten und konspirativen Rechtsterrorismus weit entfernt.

Wie fatal diese Fehldeutung war, zeigte sich erst nach der Selbstenttarnung des NSU 2011. Die Verfassungsschutzbehörden – insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz – wären allerdings durchaus in der Lage gewesen, die richtigen Rückschlüsse aus der Flucht von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zu ziehen. Seit Mitte der 1990er Jahre waren zunächst in Thüringen zahlreiche Neonazis als V-Leute angeworben worden, die sich im Umfeld des untergetauchten Trios bewegten. Weitere V-Männer aus anderen Bundesländern lieferten ebenfalls Hinweise zum Verbleib des geflüchteten Trios. Nach den drei Flüchtigen wurde zwar gefahndet, aber nicht mit der nötigen Konsequenz, so dass Hinweise auf ihren Aufenthaltsort nicht zu einer Festnahme führten. Ungeklärt ist bis heute die Frage, ob V-Leute über die Taten des NSU Bescheid wussten, und wenn ja, ob sie dieses Wissen geheim hielten oder darüber berichteten.Wir wissen aber, dass V-Leute von Verfassungsschutzbehörden militante neonazistische Netzwerke mit aufbauten, steuerten und am Leben erhielten.

Doch nicht nur beim Erkennen terroristischer Strukturen versagten staatliche Behörden, sondern auch bei den konkreten Ermittlungen zu der Mord- und Anschlagsserie des NSU. Staatsanwaltschaften und Polizei ermittelten jahrelang in die falsche Richtung und verdächtigten die Mordopfer und ihre Familien, in kriminelle Machenschaften verstrickt gewesen zu sein.Die Angehörigen wurden beschuldigt, mit dem Mord zu tun zu haben oder wichtige Informationen zurückzuhalten. Diese Unterstellungen wurden nach jedem Mord erneuert und auch in der Presse unhinterfragt wiedergegeben. Ab 2005 war abwertend von „Döner-Morden“ die Rede. Dieses Wort offenbart die Geringschätzung, die den Mordopfern und ihren Familien in der Öffentlichkeit entgegengebracht wurde.Die Vorstellung, aus der türkischen und griechischen Herkunft der Opfer ließen sich Kontakte zur Organisierten Kriminalität oder ins Drogenmilieu herleiten, beruht auf rassistischen Vorannahmen, und die entsprechenden Verdächtigungen stigmatisierten und traumatisierten die betroffenen Familien massiv.

Dass es sich bei dieser Täter-Opfer-Umkehr nicht um einen Ausnahmefall handelte, zeigen die Ermittlungen nach dem NSU-Anschlag auf der Kölner Keupstraße Anfang Juni 2004, der weitgehend als unpolitische kriminelle Tat gedeutet wurde. Die Bewohner*innen und Ladenbetreiber*innen mussten nicht nur das traumatische Erlebnis des Attentats verarbeiten, sondern wurden jahrelang verdächtigt, mit dem Anschlag zu tun gehabt zu haben.

Im Mai und Juni 2006 demonstrierten auf Initiative der Familien Yozgat und Kubaşık Angehörige und Unterstützer*innen in Kassel und Dortmund. Sie trugen Transparente mit den Aufschriften „Kein zehntes Opfer“ und „Stoppt die Mörder“. Die Teilnehmer*innen brachten den Verdacht eines rechtsradikalen Hintergrunds zur Sprache, was aber in den Medien ohne größere Resonanz blieb.

2006 endete die Česká-Mordserie. 2007 erfolgte der Mordanschlag auf Michèle Kiesewetter und ihren Kollegen – nach heutigem Kenntnisstand war dies der letzte Mord. Was die Täter*innen dazu bewogen hat, das Morden zu beenden, ist ungeklärt. Gesichert ist einzig, dass die Verbrechensserie durch die Täter*innen selbst gestoppt wurde und nicht durch Ermittlungen, Fahndungserfolge oder Hinweise aus den Verfassungsschutzämtern.

Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes

Die Selbstenttarnung des NSU begann am Freitag, dem 4. November 2011 mit einem Überfall auf eine Sparkassenfiliale in Eisenach (Thüringen). Die beiden Täter, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, flüchteten auf Fahrrädern und versteckten sich in einem Wohnmobil. Als sich die Polizei näherte, setzten die beiden Männer das Fahrzeug in Brand und töteten sich selbst. Am selben Tag explodierte ein Wohnhaus in Zwickau – die mit Benzin präparierte und in Brand gesetzte Wohnung war der letzte Unterschlupf des Trios gewesen. Beate Zschäpe, die das Haus in Brand gesetzt hatte, stellte sich am 8. November der Polizei. Die eigentliche Tragweite der Verbrechen kam aber erst einige Tage später ans Licht, als in den Trümmern des Wohnhauses die Česká-Pistole und das Bekennervideo gefunden wurden. Letzteres hatte Zschäpe während ihrer Flucht an rund 15 Empfänger versandt.

Die Öffentlichkeit reagierte mit großem Entsetzen. Was jahrelang als Gewissheit galt – dass es keine rechtsterroristischen Untergrundstrukturen in der Bundesrepublik gebe – hatte sich als Fehlannahme herausgestellt. In den Fokus gerieten in den Tagen nach der Entdeckung vor allem die gescheiterte Fahndung nach den drei Untergetauchten und die Frage, welches Wissen der Verfassungsschutz hatte. Auch die Forderung nach dem Verbot der rechtsradikalen NPD wurde erhoben. Vor allem aber musste sich die Öffentlichkeit damit auseinandersetzen, dass die Terroropfer und ihre Angehörigen über ein Jahrzehnt lang verdächtigt und stigmatisiert worden waren.

Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes geschah auf mehreren Ebenen: Die parlamentarische Aufarbeitung erfolgte in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (PUA). Im Fokus standen das Wissen und die Fehleinschätzung der Verfassungsschutzämter, eine mögliche Verstrickung von V-Leuten in die Mordserie und die Fehler und Versäumnisse bei den polizeilichen Ermittlungen zur Mord- und Anschlagsserie. Zwischen 2012 und 2025 haben Untersuchungsausschüsse im Bundestag und in acht Landesparlamenten ihre Arbeit aufgenommen und zum Großteil abgeschlossen.

Dass es innerhalb der Sicherheitsbehörden ein Wissen über die Existenz des NSU gegeben hat, konnten die Ausschüsse nicht bestätigen. Die Abgeordneten stießen aber auch an die Grenzen der Aufklärung, da sie nicht alle erforderlichen Informationen von den Verfassungsschutzämtern erhielten. Ungeklärt blieb etwa die Rolle von Andreas Temme, einem V-Mann-Führer beim hessischen Verfassungsschutz, der sich im April 2006 zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat in dessen Internetcafé in Kassel aufgehalten hatte. Temme wurde nach der Tat verhaftet und galt zeitweise als Verdächtiger. Bis heute behauptet er, von dem Mord nichts mitbekommen zu haben.

Ein weiteres Mal wurde das Vertrauen in den Verfassungsschutz erschüttert, als im Frühsommer 2012 bekannt wurde, dass im BfV seit dem 4. November 2011 wichtiges Beweismaterial vernichtet worden war – unter anderem Akten zu einer Verfassungsschutzoperation im Umfeld des „Thüringer Heimatschutzes“. Als Folge bat der Präsident des BfV, Heinz Fromm, um eine Versetzung in den Ruhestand. Weitere Rücktritte und Versetzungen in den Ruhestand von Verfassungsschutzpräsidenten aus Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin folgten.Zu einer grundlegenden Reform der Verfassungsschutzämter, wie sie Ende 2011 diskutiert wurde, kam es gleichwohl nicht, auch wenn einzelne Reformschritte wie eine engere Kooperation von Bund und Ländern sowie der Sicherheitsbehörden untereinander eingeleitet wurden.

Parallel zur politisch-parlamentarischen Aufarbeitung begann 2013 vor dem Münchner Oberlandesgericht die Gerichtsverhandlung gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte, die die drei Untergetauchten über Jahre hinweg unterstützt hatten: Ralf Wohlleben, Holger G., Carsten S. und André E. 93 Nebenkläger*innen waren zugelassen. Beate Zschäpe äußerte sich nur in schriftlichen Einlassungen und erklärte, von den Taten immer erst im Nachhinein erfahren zu haben. Das Gericht verurteilte nach fünf Jahren Beweisaufnahme im Juli 2018 Zschäpe wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe. Die Mitangeklagten erhielten Haftstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren.

Viele Angehörige von NSU-Mordopfern und Überlebende des NSU-Terrors waren von dem Verfahren und dem Urteil enttäuscht. Sie hatten sich mehr Aufklärung über die Rolle des Verfassungsschutzes erhofft; auch dass neben Zschäpe nur vier weitere Männer angeklagt wurden, obgleich die Zahl der Helfer*innen und Mitwisser*innen weitaus größer war, wurde kritisiert. Gamze Kubaşık, Tochter des 2006 ermordeten Mehmet Kubaşık, sagte 2018: „Es ist ein ungutes Gefühl, wenn ich auf der Straße bin und weiß, es könnte irgendein Nazi rumlaufen, der vor der Ermordung meines Vaters wusste, dass mein Vater ermordet wird.“

Die Angehörigen und Überlebenden des NSU-Terrors haben dennoch gemeinsam mit anderen Betroffenen für mehr Sichtbarkeit von Betroffenenperspektiven in der Öffentlichkeit gesorgt. Wirksam zeigen sich solche Bemühungen auch in einer neuen Gedenk- und Erinnerungskultur, die die lange Geschichte des Rechtsterrorismus seit 1945 mit einbezieht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Matthias Quent, Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät, Weinheim/Basel 2016, S. 210–234, 297–298, 321–322.

  2. Quent, Rassismus, S. 256.

  3. Deutscher Bundestag, Drs. 17/14600, 22. 8. 2013, S. 71–73, 505.

  4. Urteil des Oberlandesgerichts München, 11. 7. 2018, 6 St 3/12, Bl. 91, 126–128.

  5. Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 10–14.

  6. Ausführlich Barbara Manthe, On the Pathway to Violence: West German Right-Wing Terrorism in the 1970s, in: Terrorism and Political Violence 33 (2021), S. 49–70.

  7. Jan Schedler, Rechtsterrorismus: Radikale Milieus, Politische Gelegenheitsstrukturen und Frames des NSU, Wiesbaden 2021, S. 19–45.

  8. Vgl. Gideon Botsch, Was ist Rechtsterrorismus? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (2019), Heft 49/50, S. 10.

  9. Vgl. Heike Kleffner, „Szenetypische Straftaten“. Zur Rolle der Sicherheitsbehörden im NSU-Komplex, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 73 (2023), Heft 37/38, S. 21.

  10. Henrik Dosdall, Die NSU-Ermittlungen 1998–2011. Eine organisationssoziologische Perspektive, Wiesbaden 2021.

  11. Vgl. Elke Grittmann/Tanja Thomas/Fabian Virchow, „Das Unwort erklärt die Untat“. Die Berichterstattung über die NSU-Morde – eine Medienkritik. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/M. 2015.

  12. Kleffner (Anm. 10), S. 20–22.

  13. Landtag Nordrhein-Westfalen, Drs. 16/14400, 31. 3. 2017, S. 329–416.

  14. Grittmann/Thomas/Virchow (Anm. 12), S. 28.

  15. „BKA ermittelt gegen braune Terrorzelle“, Der Spiegel, 11. 11. 2011,Externer Link: www.spiegel.de (abgerufen am 24. 3. 2025).

  16. Deutscher Bundestag, Drs. 17/14600, 22. 8. 2013, S. 622–633.

  17. Ebd., S. 744–798, 902.

  18. Urteil des Oberlandesgerichts München, 11. 7. 2018, 6 St 3/12.

  19. „Sie warten immer noch auf Antworten“, 9. 7. 2018, Externer Link: www.tagesschau.de (abgerufen am 25. 3. 2025).

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Weitere Inhalte

Dr. Barbara Manthe studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Köln und promovierte dort 2013. Danach arbeitete sie als Referentin in der politischen Bildungsarbeit; zwischen 2015 und 2017 war sie Fachreferentin der SPD-Fraktion des Landtags Nordrhein-Westfalen für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss NSU. Seit 2018 forscht sie, zuerst am Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus an der Hochschule Düsseldorf und seit 2020 an der Universität Bielefeld, zur Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland.