Nach dem Bekanntwerden der Mord-, Anschlags- und Raubüberfallserie der rechtsextremen terroristischen Vereinigung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) standen schnell verschiedene Fragen im Raum, die auf Defizite, Fehler und strukturelle Probleme in den Sicherheitsbehörden hinwiesen: Warum waren diese Taten so lange nicht als eine zusammenhängende rassistisch motivierte Mordserie erkannt worden? Was wussten oder ahnten Polizei und Nachrichtendienste von den Vorgängen und den darin involvierten Personen? Wie sind die offensichtlich aufgetretenen Pannen und Fehler bei den Ermittlungen zu erklären? Begriffe wie „Staatsaffäre“ oder der Vorwurf eines „Staatsversagens“ machten die Runde.
Fragen und Vorwürfe an Polizei und Nachrichtendienste
In den Fokus geriet einerseits das polizeiliche Vorgehen im Rahmen der Ermittlungen zu den Morden an den Gewerbetreibenden mit türkischer, kurdischer und griechischer Einwanderungsgeschichte. Hier stand und steht noch heute die Frage im Raum, inwieweit vorhandene rassistische Vorurteile oder für polizeiliches Erfahrungswissen gehaltene Stereotype die Ausrichtung der Ermittlungen mit beeinflusst haben. Warum klammerte man sich über lange Zeit ohne jedes Indiz an bestimmte Hypothesen? Warum schien den allermeisten ermittelnden Beamtinnen und Beamten eine rassistische Tatmotivation abwegig? War die anhaltende falsche Verdächtigung von Angehörigen der NSU-Opfer eine bewusste Kriminalisierung von rassistischer Gewalt betroffener Menschen?
Weiter standen andererseits vor allem die Verfassungsschutzbehörden in der Kritik. Welche Rolle spielten sie beim Aufbau und der Stärkung der rechtsextremen Szene in den neuen Bundesländern, etwa durch finanzielle Zahlungen an Szeneaktivisten, die als Informanten – sogenannte V-Leute – gewonnen worden waren? Behinderten die Inlandsnachrichtendienste polizeiliche Ermittlungen gegen militante Strukturen wie etwa den Thüringer Heimatschutz, aus dem die Aktivisten des NSU kamen, um ihre Quellen zu schützen bzw. ihren Einblick in die Szene nicht zu gefährden?
Weitere offene Fragen lauten: Warum ließ ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) nur wenige Tage nach dem Auffliegen des NSU in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zahlreiche Akten mit inhaltlichem Bezug zum NSU schreddern? Diese Akten der sogenannten „Operation Rennsteig“ betrafen gemeinsame Aktivitäten des BfV, der Verfassungsschutzbehörden mehrerer Bundesländer sowie des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) aus den Jahren zwischen 1997 und 2003 mit dem „Ziel, die rechtsextremistische Szene in Thüringen zu untersuchen“.
Untersuchungsausschüsse und Strafprozess
Dem NSU-Komplex und der Aufklärung dieser und vieler weiterer Fragen widmeten (und widmen)
Um es vorwegzunehmen: Viele der aufgeworfenen Fragen sind bis heute nicht hinreichend oder zufriedenstellend beantwortet, einige Sachverhalte sind kaum bzw. gar nicht bearbeitet worden. Gleichwohl haben die Untersuchungsausschüsse in einem ungeheuren Ausmaß Informationen zusammengeführt und gesichert, die auch noch in späterer Zeit politische Debatten, juristische Diskussionen und geschichtswissenschaftliche Studien bereichern dürften. Auch unsere Kenntnisse über die militante NS-Szene wurden wesentlich erweitert. Sicher waren die Ausschüsse nicht zuletzt ein Lehrstück über Aushandlungsprozesse zwischen Legislative und Exekutive, zwischen Parlamentsabgeordneten und Sicherheitsbehörden.
Als erstes Parlament setzte der 17. Deutsche Bundestag im Januar 2012 zur Aufklärung der Hintergründe und Zusammenhänge den ersten NSU-Untersuchungsausschuss
Neben den Erkenntnissen zum NSU-Komplex enthält der von allen damals im Bundestag vertretenen Parlamentsfraktionen einstimmig beschlossene Bericht siebenundvierzig Schlussfolgerungen und Empfehlungen für notwendige Reformmaßnahmen bei Polizei, Justiz und Verfassungsschutz. Einundzwanzig Handlungsempfehlungen richten sich dabei dezidiert an die Institution Polizei. Sie zielen auf eine Verbesserung der Ermittlungsarbeit, der polizeilichen Arbeits- und Fehlerkultur sowie der Aus- und Fortbildung. Gefordert wurde die erneute Überprüfung von Tötungsdelikten seit 1990 auf ein mögliches rechtes terroristisches oder rassistisches Motiv. Der Ausschuss mahnte weiter eine Überarbeitung des Themenfeldkatalogs zur Erfassung politisch motivierter Kriminalität (PMK) an und sprach sich für einen besseren Informationsaustausch zwischen Polizei, Justiz und Verfassungsschutzbehörden aus. Zur Verbesserung der Analysekompetenz und als Antwort auf offensichtlich vorhandene rassistische Stereotype wurde die Erhöhung behördeninterner sozialer Diversität und interkultureller Kompetenz angeregt. Vorgeschlagen wurden verstärkte Bemühungen, Menschen mit Migrationsgeschichte für den Polizeidienst zu gewinnen, ein sensiblerer Umgang der Behörden mit Opfern, Opferzeugen und Hinterbliebenen sowie eine zukünftige Einbindung externen Sachverstandes aus demokratischer Zivilgesellschaft und Wissenschaft.
Auch an die Adresse der Verfassungsschutzbehörden richteten sich Empfehlungen des parlamentarischen Gremiums. Angeregt wurden eine Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle sowie eine Überprüfung verschiedener Praktiken und Abläufe etwa hinsichtlich der Informationsauswertung oder der Auswahl und des Führens von V-Personen. Insgesamt wurde ein „Mentalitätswechsel“ eingefordert.
Staatliche Maßnahmen – Konsequenzen und Leerstellen
Bund und Länder begannen parallel zur Arbeit des ersten NSU-Untersuchungsausschusses, durch eine Reihe konkreter Maßnahmen den ganzheitlichen Bekämpfungsansatz der Sicherheitsbehörden zu stärken. Zu nennen ist insbesondere die 2012 erfolgte Einrichtung der sogenannten „Rechtsextremismusdatei“ (RED) und des „Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums“ (GETZ). Dieses ging aus dem kurzfristig eingerichteten Gemeinsamen Abwehrzentrum Rechtsextremismus (GAR) hervor. Tragender Bestandteil dieser neuen Zusammenarbeitsformen ist die verbesserte Kooperation sowie ein engerer Informationsaustausch zwischen Polizei und Nachrichtendiensten bei gleichzeitiger Wahrung des auf alliierte Vorgaben der frühen Nachkriegszeit zurückgehenden grundsätzlichen Gebotes der Trennung von Polizei und Geheimdiensten.