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NSU-Aufklärung im Bund und in den Ländern | Der NSU-Komplex | bpb.de

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NSU-Aufklärung im Bund und in den Ländern Zur Rolle und Bedeutung der Untersuchungsausschüsse des Bundestags und der Länderparlamente

Prof. Dr. Dr. Maximilian Pichl

/ 10 Minuten zu lesen

Die Untersuchungsausschüsse des Bundestags und der Länderparlamente haben eine Vielzahl an Defiziten in den Sicherheitsbehörden aufgearbeitet - einige Fragen bleiben aber bis heute unbeantwortet.

Dr. Wolfgang Schäuble als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages (© Getty Images, Johannes Eisele )

Die NSU-Mordserie markierte im Jahr 2011 eine politische Zäsur und führte zu einer beispiellosen Abfolge von rechtsstaatlichen Aufarbeitungen in Kommissionen, Bund-Länder-Arbeitsgruppen, Ausschüssen und Gerichtsverfahren. Rückblickend mag es irritieren, dass die Beteiligung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse (PUA) an der Aufklärung der Mordserie und der Rolle der Sicherheitsbehörden anfangs noch umstritten war. Einige Politiker:innen und Journalist:innen teilten die Annahme, dass der Strafprozess vor dem Oberlandesgericht München gegen Beate Zschäpe und weitere Unterstützer des NSU für die Aufklärung hinreichend sei und eine parlamentarische Untersuchung lediglich zu parteipolitischem Streit führen werde. Da sich der Prozessauftakt jedoch verzögerte und schrittweise in den Medien skandalöse Vorgänge in den Verfassungsschutzämtern ans Licht kamen (z.B. der Einsatz von V-Personen im Umfeld des NSU), wurde der NSU-Komplex zu einer parlamentarischen Angelegenheit erklärt. Der Untersuchungsauftrag eines PUA wird auf Antrag von mindestens einem Viertel der Abgeordneten festgelegt und zielt vorrangig darauf ab, Vorgänge in Ministerien und Behörden mittels Zeug:innenbefragungen und Akteneinsicht aufzuklären. Die Arbeitsdauer ist prinzipiell auf die Wahlperiode beschränkt, weshalb mitunter in der nächsten Wahlperiode ein neuer Antrag erforderlich ist (sog. Diskontinuitätsgrundsatz). Die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen im Bundestag sowie in Thüringen, Bayern und Sachsen markierte im Jahr 2012 den Startpunkt einer über zehnjährigen Aufarbeitungsphase.

Dabei genossen die beiden Untersuchungsausschüsse des Bundestags eine größere öffentliche Aufmerksamkeit als ihre Pendants in den Ländern. Der Bundestag führte die Beweisaufnahmen von 2012 bis 2013 sowie von 2015 bis 2017 durch und beschäftigte sich auch mit Sachverhalten in den Bundesländern. In den Jahren 2012 bis 2025 haben sich parallel auf der Ebene der Bundesländer dreizehn Untersuchungsausschüsse mit der NSU-Mordserie befasst (darunter in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen). Einige Landtage setzten sogar zweimal einen PUA ein, weil im Rahmen der oft kurzen Beweisaufnahmephasen nicht alle Aspekte des NSU-Komplexes behandelt werden konnten. In Hessen tauchte das Thema NSU auch in den Untersuchungsausschüssen zum Mord an Walter Lübcke und zum rechtsterroristischen Attentat in Hanau auf. Bei der Aufklärungsarbeit in den Untersuchungsausschüssen entstanden fast 20.000 Seiten an Abschlussberichten mit Sachverhaltsaufklärungen und politischen Handlungsempfehlungen. In fast allen Bundesländern begleitete die zivilgesellschaftliche Initiative NSU-Watch die Arbeit der Ausschüsse und dokumentierte sie in eigenen Protokollen.

Zur Bedeutung der parlamentarischen Aufarbeitung

Untersuchungsausschüsse sind neben parlamentarischen Anfragen und den regulären Ausschüssen ein zentrales Mittel eines Parlaments, um die Handlungen von Regierungen und Behörden zu kontrollieren. Da die Arbeit in Untersuchungsausschüssen oft sehr ressourcen- und zeitintensiv ist, werden sie für besondere politische Skandale und auf öffentlichen Druck hin eingesetzt. Die Abgeordneten können dann Instrumente nutzen, die mit einem Gerichtsverfahren vergleichbar sind: Dazu gehört die Beiziehung von (zum Teil als geheim eingestuften) Akten und die Befragung von Zeug:innen, in der Regel öffentliche Bedienstete und verantwortliche Politiker:innen. Im Unterschied zu einem Gerichtsverfahren beschäftigt sich der PUA aber nicht mit der strafrechtlichen Schuld von Einzelpersonen, sondern mit der Kontrolle der Exekutive und der Verantwortung für politische Skandale. Auch vor einem PUA gibt es eine Wahrheitspflicht und falsche uneidliche Aussagen können strafrechtlich verfolgt werden.

Der Soziologe Max Weber, ein Vordenker des deutschen Untersuchungsausschussrechts, sah die größte Bedeutung eines PUA darin, dass das Parlament überhaupt in die Lage versetzt wird, der Verwaltung in Ausübung seiner Kontrollfunktion auf Augenhöhe zu begegnen. Ohne ein solches Mittel sei das Parlament „zum Dilettantismus, auch zur Unkenntnis verurteilt“, weil ihm das Wissen aus der Verwaltung fehle. Untersuchungsausschüsse wurden historisch zwar als Instrumente parlamentarischer Minderheiten gegen die Regierung eingesetzt, aber gerade im Falle des NSU-Komplexes ließ sich stellenweise eine einzigartige Zusammenarbeit zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen bei der Sachverhaltsaufklärung feststellen.

Für eine effektive Arbeit des PUA sind jedoch die rechtlichen Instrumente alleine nicht ausreichend, vielmehr bedarf es kompetenter Abgeordneter, die diese Mittel auch zu nutzen wissen. Die Befragung von Zeug:innen aus Behörden ist oft nicht einfach. Mitunter liegen die Sachverhalte, um die es geht, Jahre zurück und es bedarf einer aufwendigen Rekonstruktionsarbeit. Die politische Aufarbeitung des NSU-Komplexes hat gezeigt, dass sich Zeug:innen häufig auf vermeintliche Erinnerungslücken zurückziehen. Die Aufklärungsarbeit gelang oft nur dann effektiv, wenn Abgeordnete in der Lage waren, eine Befragung mit Nachdruck zu führen, um Zeug:innen mit belegbaren Tatsachen aus den Akten zu konfrontieren. Hierfür war es hilfreich, wenn die Parteien im PUA die Befragungen sachverhaltsbezogen und gemeinsam führten und auf parteipolitischen Wettstreit verzichteten. Nicht nur im Bundestag ließ sich ein solches Zusammenspiel der unterschiedlichen politischen Kräfte beobachten. Auch im Thüringer Landtag erbrachte ein solches Vorgehen profunde Erkenntnisse.

Als politisches Gremium ist der PUA wesentlich von der Öffentlichkeit abhängig. Die Untersuchung wird oft geführt, weil medialer und zivilgesellschaftlicher Druck die Einsetzung eines PUA unumgänglich werden lassen. Gerade im Falle der NSU-Mordserie war die effektive Aufklärung davon abhängig, dass anschließend die öffentliche Aufmerksamkeit nicht nachließ. Reportagen von Investigativjournalist:innen oder antifaschistische Interventionen verliehen der Beweisaufnahme Nachdruck. Waren die Zuschauerränge im Saal voll, wurden auch Zeugenvernehmungen mitunter engagierter geführt. Umgekehrt ging die nachlassende öffentliche Aufmerksamkeit für die NSU-Mordserie mit einem reduzierten Druck auf die Parlamente einher.

Als ein konkretes Problem der parlamentarischen Aufarbeitung erwies sich die Aktenherausgabe. Bei Vorgängen mit Bezug zum NSU-Komplex ging es oftmals um Akten aus den Polizei- und Geheimdienstbehörden, aber auch aus der Justiz und der Bundeswehr. Diese enthielten häufig geschwärzte Passagen oder Abkürzungen, die auch die Abgeordneten nicht kannten. Zudem entstand in nahezu allen Untersuchungsausschüssen ein „Kampf um die Akten“ , da insbesondere die Ämter für Verfassungsschutz Akten zurückhielten, unzulässige Schwärzungen vornahmen oder behaupteten, bestimmte Vorgänge seien nicht in den Akten dokumentiert.

Die Ausschussarbeit endet schließlich mit der Wahlperiode des jeweiligen Landtags und der Übermittlung des Abschlussberichts an den Landtag bzw. den Bundestag. In den Abschlussberichten sind der Arbeitsverlauf des Ausschusses, Sachverhaltsfeststellungen sowie Bewertungen und Handlungsempfehlungen für Regierung und Sicherheitsbehörden enthalten.

Grenzen der Aufklärung in den Untersuchungsausschüssen der Länder

Ein großes Problem bei der parlamentarischen Aufarbeitung war die länderübergreifende Vorgehensweise der NSU-Mord- und Anschlagsserie. Der NSU mordete – womöglich strategisch bewusst – in unterschiedlichen Bundesländern, wodurch schon die damaligen polizeilichen Ermittlungen erheblich erschwert wurden. Für die parlamentarische Aufarbeitung ergab sich daraus die Herausforderung einer rechtlich korrekten Abgrenzung der jeweiligen Untersuchungskompetenzen. Denn die Landesparlamente dürfen prinzipiell ihre Kontrollbefugnis nur gegenüber den landeseigenen Behörden ausüben. Gerade die enge Vernetzung der extrem rechten Szene über die Grenzen von Bundesländern hinweg war jedoch ein wichtiger Gegenstand der Aufarbeitung. Beispielsweise gab es in Nordhessen – wo der NSU den neunten Mord an Halit Yozgat in Kassel verübte – eine Verzahnung mit Neonazis aus Nordrhein-Westfalen und Thüringen, jenem Bundesland also, aus dem der Kern des NSU-Netzwerks stammte. Problematisch war hierbei, dass das Untersuchungsrecht eine länderübergreifende Zusammenarbeit für solche Fälle nicht institutionalisiert. Zwar tauschten sich gelegentlich Abgeordnete aus den verschiedenen Untersuchungsausschüssen miteinander aus (oft aber nur im Rahmen ihrer eigenen Parteienfamilie), teilten Wissen und suchten nach Verbindungen zwischen den Bundesländern. Aber dies geschah nicht auf eine koordinierte Weise und das Wissen aus den Ausschüssen wurde nicht konsequent miteinander abgeglichen. Eine mögliche Aufgabe für die zukünftige Aufarbeitung könnte darin bestehen, die PUA-Abschlussberichte und die Aktenbestände aus den Bundesländern anhand von übergeordneten Kategorien systematisch miteinander abzugleichen, um womöglich bislang unerkannte Vernetzungen des NSU sichtbar zu machen.

Im Bundestag und im Thüringer Landtag gelang eine bis dato beispiellose parteiübergreifende Zusammenarbeit auf der Ebene der Sachverhaltserforschung. In den Untersuchungsausschüssen anderer Bundesländer dominierten hingegen häufig die eingeschliffenen politischen Konflikte. Dass Parteien unterschiedliche Positionen zur Rolle des Verfassungsschutzes und der Polizei haben, ist selbstverständlich. Aber der NSU-Komplex hatte die Besonderheit, dass praktisch alle Parteien während der Mordserie in politischer Verantwortung standen. Auseinandersetzungen zwischen den Parteien erschwerten die Aufarbeitung: Wenn während der Befragung eines Zeugen unter den Abgeordneten Konflikte ausbrachen, ob bestimmte Fragen überhaupt gestellt werden dürften, gelang es kaum noch, die geladenen Zeugen mit Nachdruck zu vernehmen. Die Möglichkeiten und Grenzen einer parlamentarischen Aufarbeitung hängen daher von unterschiedlichen Faktoren und der je eigenen Dynamik des Untersuchungsablaufs ab.

Zentrale Erkenntnisse der Untersuchungsausschüsse der Bundesländer

In der Rückschau auf die NSU-Aufarbeitung lässt sich feststellen, dass der PUA des Bundestags das zentrale Instrument für eine effektive Aufklärungsarbeit war. Die umfassendsten Erkenntnisse zum Netzwerk des NSU und zu den Verfehlungen von Polizei und Verfassungsschutz lieferten neben dem Thüringer PUA die Bundestagsabgeordneten. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags beschäftigte sich punktuell auch mit den Vorgängen in den Bundesländern; der zweite Ausschuss (2015 bis 2017) ließ sogar Gutachten zu offenen Fragen bestimmter Tatorte wie zum Mord an Halit Yozgat in Kassel erstellen. Aber das bedeutet nicht, dass die Aufklärung in den Bundesländern keinen Mehrwert erbrachte, ganz im Gegenteil.

Der Abschlussbericht des 1. Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses beschäftigt sich auf 1.800 Seiten mit dem gesellschaftlichen Klima, in dem sich die Mitglieder des NSU in den 1990er radikalisierten und den Fehlern und Defiziten des thüringischen Verfassungsschutzes, der Polizei und der Justiz. (© picture-alliance/dpa, Michael Reichel)

Während der parlamentarischen Aufklärung fand zeitgleich der NSU-Strafprozess am Oberlandesgericht in München statt. Nicht selten konnten Ausschussmitglieder Themen, die Nebenklagevertreter erfolglos in den Strafprozess einbrachten, in den Sitzungen der Untersuchungsausschüsse behandeln. So ergab sich zum Teil ein produktives Zusammenwirken der juristischen und parlamentarischen Aufarbeitung. Ein Beispiel hierfür war die Auseinandersetzung mit der Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme am Tatort in Kassel. Erkenntnisse seitens der Nebenklage der Familie Yozgat wurden im hessischen PUA diskutiert, während sie im NSU-Prozess nur bedingt als Verfahrensgegenstand verhandelt wurden.

Ein sehr wichtiger Aspekt der Aufarbeitung in den Ländern war die Radikalisierung der extrem rechten Szene und ihrer Netzwerke in den 1990er Jahren sowie deren politische Kontinuität. Vor allem das Blood & Honour-Netzwerk, Combat 18, die extrem rechte Skinheadszene und die freie Kameradschaftsszene waren in nahezu allen Untersuchungsausschüssen ein Thema. Die Abgeordneten brachten in ihren Beweisanträgen zum Teil journalistische Investigativrecherchen und antifaschistisches Wissen ein; in Verbindung mit Erkenntnissen aus den Akten von Polizei und Verfassungsschutz konnte so eine dichte Beschreibung der extrem rechten Szenen in den einzelnen Bundesländern geliefert werden. Zugleich wurde deutlich, wie stark die Sicherheitsbehörden die extrem rechte Szene unterschätzten. So heißt es im Abschlussbericht des PUA Nordrhein-Westfalen: „Den Sicherheitsbehörden lagen die beschriebenen rechtsterroristischen Konzepte bereits vor den Taten des NSU vor.“ Und: „Obwohl das Fachwissen theoretisch im Verfassungsschutz NRW vorhanden war, wurden weder die Bombenanschläge in der Probsteigasse und der Keupstraße noch die Ceska-Mordserie mit Rechtsterrorismus […] in Verbindung gebracht.“ Der erste Thüringer NSU-Abschlussbericht stellte zudem fest, dass die Sicherheitsbehörden die extrem rechte Gewalt von Jugendlichen „entpolitisiert und verharmlost“ haben: „Diese Bewertungen erleichterten den Rechtsextremen die Ausübung von Alltagsterror sowie das Erreichen lokaler Hegemonien […].“ Ähnliche Befunde lieferten auch die Ausschüsse in den anderen Bundesländern.

Zusammenfassend lässt sich daher von einem systematischen Versagen der Sicherheitsbehörden in Bezug auf den NSU-Komplex und rechtsterroristische Gewalt sprechen. Die Aufarbeitung durch die Ausschüsse war umso wichtiger, als es ab 2014 eine Zunahme extrem rechter Terrorattentate in Deutschland gab und zum Beispiel der Täter im Mordfall Walter Lübcke zur Zeit der NSU-Mordserie sozialisiert und radikalisiert wurde.

Handlungsempfehlungen und Konsequenzen aus den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen

Trotz der genannten Stärken der parlamentarischen Aufarbeitung wird das Gesamtergebnis der NSU-Aufklärung von zivilgesellschaftlichen Initiativen, den juristischen Nebenklagevertreter:innen und den Betroffenen als unzureichend wahrgenommen. Viele zentrale Fragen zur Größe des NSU-Netzwerks und zur Auswahl der konkreten Opfer bleiben bis heute unbeantwortet. Eine von allen NSU-Untersuchungsausschüssen geteilte Handlungsempfehlung zielte auf eine verbesserte Aus- und Fortbildung der Polizei und Justiz, um Rassismus und extrem rechte Taten besser einordnen zu können. Über die Wirksamkeit dieser Empfehlungen gibt es jedoch kaum belastbare Evaluationen. Die Forschungsarbeit von Julia von Eitzen zur juristischen Verarbeitung menschenverachtender Motive nach dem NSU-Komplex skizziert immerhin das neue juristische Potenzial, das die Gesetzesänderungen mit sich gebracht haben.

Der erste NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss, getragen von allen beteiligten Parteien, forderte „mit Nachdruck eine Verstetigung und Neuordnung der Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus“. Doch alle Initiativen für ein Demokratiefördergesetz auf Bundesebene sind bislang gescheitert. Die Bundesländer haben als Folge der parlamentarischen Aufarbeitung zum Teil eigene Demokratieförderrichtlinien aufgesetzt, aber insgesamt bleibt die Arbeit von Demokratie- und Deradikalisierungsprojekten prekär finanziert. Mitunter gingen die Bundesländer bezüglich der weiteren Erforschung von Rechtsextremismus eigene Wege.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Abschlussberichte der NSU-Untersuchungsausschüsse auf Länderebene eine Fülle an Material zur Geschichte der extremen Rechten und zu den Ursachen von Behördenversagen zusammengetragen haben. Sie lieferten somit essenzielle Puzzlesteine für die Aufarbeitung des NSU-Komplexes – wenngleich immer noch große Teile fehlen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Unter den NSU-Tatortländern hat lediglich Hamburg keine parlamentarische Aufklärung in einem PUA betrieben, sondern eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, vgl. Hamburgische Bürgerschaft, NSU-Komplex: Beginn der wissenschaftlichen Aufarbeitung, 14. 2. 2025, Externer Link: www.hamburgische-buergerschaft.de

  2. Hessischer Landtag, Drs. 20/11359, Bericht v. 12. 7. 2023.

  3. Hessischer Landtag, Drs. 20/11754, Bericht v. 30. 11. 2023.

  4. Über die Seite von NSU-Watch gibt es Verknüpfungen zu allen Landesprojekten und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen: Externer Link: www.nsu-watch.info

  5. Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders., Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988, S. 306–443, hier S. 352.

  6. Entsprechende Berichte aus den Landesuntersuchungsausschüssen finden sich in den Beiträgen des folgenden Sammelbandes: Benjamin-Immanuel Hoff et al. (Hrsg.), Rückhaltlose Aufklärung. NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungsausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl, Hamburg 2019.

  7. Maximilian Pichl, Untersuchung im Rechtsstaat. Eine deskriptiv-kritische Beobachtung der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zur NSU-Mordserie, Weilerswist 2022, S. 164 ff.

  8. Wolfgang Seibel/Kevin Klamann/Hannah Treis, Verwaltungsdesaster. Von der Loveparade bis zu den NSU-Ermittlungen, Frankfurt/M. 2017, S. 219 ff.

  9. Martin Steinhagen, Das Netzwerk der NSU-Terroristen, in: Frankfurter Rundschau (FR), 13. 1. 2019,Externer Link: www.fr.de

  10. Deutscher Bundestag, Drs. 18/12950, S. 866 ff.

  11. Pichl (Anm. 8), S. 227 ff.

  12. Landtag Nordrhein-Westfalen, Drs. 16/14400, S. 84.

  13. Ebd., S. 80.

  14. Thüringer Landtag, Drs. 5/8080, S. 1340.

  15. Pichl (Anm. 8), S. 302

  16. Von einem Forschungsprojekt des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) werden Ergebnisse zum Umsetzungsstand der Handlungsempfehlungen aus den NSU-Untersuchungsausschüssen erwartet.

  17. Julia von Eitzen, Rassistische und fremdenfeindliche Gewalttaten in Deutschland vor dem Hintergrund internationaler Vorgaben und Entwicklungen. Die Aufdeckung des NSU als Wendepunkt – eine Analyse der juristischen Verarbeitung menschenverachtender Motive im Wandel der Zeit, Berlin 2021.

  18. Deutscher Bundestag, Drs. 17/14600, S. 866.

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Weitere Inhalte

ist Rechts- und Politikwissenschaftler. Er ist Professor für Soziales Recht als Gegenstand Sozialer Arbeit an der Hochschule RheinMain. Seine juristische Doktorarbeit „Untersuchung im Rechtsstaat“ (2022 bei Velbrück erschienen) beschäftigte sich mit der Aufarbeitung des NSU-Komplexes.