Der Rechtsstaat und die RAF
Auch wenn der Rechtsstaat nach 1977 anders aussah als zuvor - seine wichtigste Bewährungsprobe hatte er bestanden. Der Jurist Christoph Gusy im bpb-Interview zum Verhältnis von Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit.Der Terrorismus der RAF wird immer wieder als Angriff auf den deutschen Rechtsstaat beschrieben. Die Bundesrepublik habe vor ihrer bis dato größten innenpolitischen Herausforderung gestanden. Wie sah diese Herausforderung konkret aus?

Hier nun setzte ein Kalkül der RAF ein: Sie wollte dem Rechtsstaat "die Maske herunterreißen"; ihn durch neuartige Kampfmethoden zwingen, gegen sein eigenes Recht zu handeln. Dadurch sollte nicht allein die Legitimation des Strafrechts oder des Strafprozessrechts, sondern diejenige der Bundesrepublik insgesamt erschüttert werden. Der neue, republikanische und demokratische Rechts- und Gesetzesstaat sollte als der alte, autoritäre und letztlich entfesselte Staat "entlarvt" werden.
Und tatsächlich: Das alte Recht war auf die neuen Herausforderungen nur zum Teil vorbereitet. Geiselnahmen zur Freipressung von Untersuchungs- oder Strafgefangenen, die Politisierung der Strafprozesse, Hungerstreiks zur Durchsetzung von Forderungen: Nicht alle Instrumente waren neu. Doch noch aus der Haft heraus blieb die RAF eine Bedrohung für den Rechtsstaat.
Wie hat sich der deutsche Rechtsstaat während des "Deutschen Herbstes" verändert? Welche Maßnahmen und Gesetze wurden im Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt?
Der deutsche Rechtsstaat versuchte, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu reagieren. Soweit Gesetze geschaffen oder geändert wurden, blieb formal die Logik der Rechtsstaatlichkeit gewahrt. Im Strafrecht wurden einzelne neue Tatbestände geschaffen, namentlich gegen terroristische Vereinigungen (§ 129 a). Sie sollten der Beweisnot Abhilfe schaffen: Da im Einzelfall kaum aufgeklärt werden konnte, welche Person welchen Tatbeitrag geleistet hatte, konnte fortan bestraft werden, wer schon vorher dabei gewesen war oder die Vereinigung auch nur unterstützte. Nicht weniger als viermal wurde die Strafprozessordnung geändert, dabei sollen 27 Beschränkungen der Rechte der Verteidigung angeordnet worden sein. Davon waren zum Teil traditionsreiche Garantien betroffen, wie etwa das Recht des Angeklagten auf persönliche Anwesenheit im Prozess oder die freie Anwaltswahl. Auch wenn hier die Logik der Legalität beachtet worden ist: Der Rechtsstaat wurde durch jene Gesetze wenig gestärkt. Der Nachweis für die Notwendigkeit mancher Einschränkungen basierte eher auf Vermutungen; die Gesetzgebungsverfahren wirkten punktuell und überhastet; manche Gesetze eher einzelfallorientiert als Sonderrecht für konkrete Terroristenprozesse denn als abstrakt und generell. Mehrere Neuerungen – etwa die Einführung der so genannten "Kronzeugen" - blieben umstritten, deren Beweiswert in den Prozessen war gering.
Daneben fanden sich aber auch einzelne Maßnahmen jenseits der Gesetze. Die Freilassung von Untersuchungs- oder Strafgefangenen im Austausch gegen Geiseln der RAF; Rasterfahndungen, welche auch die Daten Millionen Unverdächtiger erfassten, aber damals immerhin zu einem Fahndungserfolg führten: Deren Grundrechtsrelevanz war seinerzeit allerdings allenfalls im Ansatz erkennbar. Hierfür gab es damals keine Rechtsgrundlagen. Wo sie fehlten, blieb nur die Berufung auf den "übergesetzlichen Notstand", eine Figur, welche letztlich die Idee des Rechtsstaats verlässt. Doch blieben dies namentlich aus der Retrospektive Einzelfälle.
Gab es eine Verlagerung von Kompetenzen?
Unterhalb der gesetzlichen Ebene vollzogen sich erhebliche Änderungen. Sie betrafen namentlich die Organe der Inneren Sicherheit. Die Verfassungsschutzbehörden waren auf die neuen Gefahren nicht vorbereitet und konnten zu ihrer Aufklärung sehr wenig und sehr spät beitragen. Dies war die Stunde der Polizei – und des damaligen Präsidenten des BKA, Horst Herold. Er nutzte die Krise zur Veränderung der Sicherheitsarchitektur unter dem Stichwort "Innere Sicherheit": Zentralisierung, Annäherung von strafverfolgenden und gefahrenabwehrenden Polizeikompetenzen sowie – damals viel diskutiert – die informationelle Aufrüstung der Polizei. Das waren Tendenzen, die damals im Zug der Zeit lagen und bis in die Gegenwart fortdauern. Sie wurden durch die Herausforderungen des Terrorismus nicht begründet, wohl aber erheblich beschleunigt. Am Ende stand die Polizei personell gestärkt, informationell aufgerüstet und deutlich unabhängiger von der Staatsanwaltschaft dar, die in Kriminalsachen eigentlich "Herrin des Verfahrens" sein sollte. Das war sie fortan noch weniger als zuvor.
Der Großteil dieser neuen Zuständigkeiten entfiel auf den Bund. Seine Aufgaben, seine Behörden und sein Personal expandierten gewaltig – Entwicklungen, welche seitdem fortgesetzt wurden.