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"Microsoft liebt Raupkopierer" | Open Source | bpb.de

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"Microsoft liebt Raupkopierer"

Fernanda Weiden

/ 6 Minuten zu lesen

Die einen wollen sie abschaffen, die anderen programmieren selber welche: Fernanda Weiden erklärt, was Freie Software für Entwicklungsländer bedeutet und warum Software-Riesen wie IBM und Microsoft so unterschiedlich mit ihr umgehen.

Fernanda Weiden (gpoo) Lizenz: cc by/2.0/de

Die Regierungen von Entwicklungsländern fördern Open-Source-Software – warum?

Ich werde mehr über Lateinamerika sprechen, weil ich von daher stamme. Es gibt dort zwei größere Initiativen, eine in Brasilien, die andere in Venezuela. Die brasilianische Regierung hat sich entschieden, freie Software als Weg zu nutzen, um mit der Abhängigkeit von Anbietern proprietärer Software zu brechen. Sie haben sich die Frage gestellt: Ich als Regierung habe Daten, Dateien, die mir praktisch nicht gehören. Warum sollte ich all diese Daten in einem Format speichern, das ich in der Zukunft nicht lesen können werde, wenn ich nicht weiter Lizenzgebühren zahle? Wie kann ich vor Ort eine Technologie-Industrie aufbauen? Und vor allem: Wie kann ich meiner Bevölkerung Zugang zu Technologie verschaffen?

Wenn ich über freie Software rede, betone ich immer, dass es dabei um Freiheit geht, dass Freiheit das Wichtigste daran ist. Aber es gibt natürlich noch andere Dinge, die damit einhergehen. Entwicklungsländer wie Brasilien oder Venezuela haben nicht das Geld, ihrer Bevölkerung auf die Weise Zugang zu Technologie zu verschaffen, die der Markt bislang verlangt . Das ist einfach nicht möglich.

Zudem haben Regierungen angefangen zu erkennen: Selbst wenn ein Unternehmen in ihr Land kommt und ihnen Software kostenlos gibt – was wird in der Zukunft passieren? Unternehmen geben einem immer heute etwas kostenlos, damit man morgen dafür bezahlt. Microsoft liebt Software-Piraterie. Sie sind die grössten Fans von Raubkopien, denn je mehr ihre Produkte kopiert werden, um so mehr gewöhnen sich die Leute an sie und werden sie auch in Zukunft benutzen wollen. Microsoft wird nicht zu ihnen nach Hause gehen, nachsehen, ob sie Raubkopien verwenden und sie eine Strafe zahlen lassen, aber Microsoft wird zu ihrem Unternehmen gehen – und die Software, die sie kennen und daheim verwenden, ist die Software, die sie auch in ihrem Arbeitsumfeld benutzen wollen.

Diese Kette der Abhängigkeit zu durchbrechen, war der erste Grund, warum die brasilianische Regierung entschied, freie Software zu verwenden. Der zweite war, dass der Grossteil freier Software mit offenen Standards umgesetzt wird; wenn die Regierung also in Zukunft eine andere Technologie oder freie Software verwenden möchte, kann sie das auch tatsächlich tun. Je nachdem, welche Software-Lösung sie von einem Unternehmen kaufen, das proprietäre Software herstellt, haben sie keine solche Wahlmöglichkeit: Sie können sich ihren Lieferanten nicht aussuchen, sie können sich nicht aussuchen, wer für sie den Support macht. Sie sind immer abhängig. Das ganze Geschäftsmodell beruht darauf, sie abhängig zu halten.

Können Sie konkrete Projekte nennen?

Venezuela ist dabei, all seine Systeme in freie Software zu überführen. Die brasilianische Regierung migriert ihre Systeme ebenfalls zu freier Software. Und sie haben angefangen, Software für die Dinge zu entwickeln, mit denen Bürger zu tun haben, wie etwa Einkommenssteuern – Software, die unabhängig von jeder Plattform funktioniert, so dass man nicht gezwungen wird, eine bestimmte Plattform zu verwenden. Man muss also nicht Microsoft Windows kaufen, um in der Lage zu sein, mit seiner Regierung zu sprechen oder Formulare für Einkommenssteuern auszufüllen.

Außerdem haben sie grosse Programme für digitale Inklusion gestartet. Die Regierung finanziert und schafft "Telecenter", Orte mit Computern und Internetanschluss, die den Leuten kostenlosen Zugang bietet. In der Regel fängt die Regierung mit einem Telecenter an, und dann übernimmt die Gemeinde die Verantwortung für den Betrieb. Die Gemeinden organisieren sich selbst, sie fördern Vorträge, Minikurse und ähnliches, um anderen die Technologie beizubringen. In der Stadt São Paulo haben über 500.000 Menschen Zugang zu Technologie – viele von ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben –, indem sie in solchen Orten freie Software verwenden.

Ein anderes Projekt, das ich sehr schön finde, sind die "Pontos de Cultura" oder "Kulturpunkte" des brasilianischen Kultusministeriums. Das Projekt wurde ursprünglich von einer Gemeinde entwickelt – ich habe an der Entwicklung teilgenommen. Brasilien ist ein riesiges Land. Wir haben viele verschiedene kulturelle Szenarien in Brasilien. Uns wurde klar, dass diese Menschen keinerlei Möglichkeit haben, ihre eigene Kultur zu produzieren, wenn sie dafür von einer großen Plattenfirma oder Filmfirma abhängen. Also testete das Projekt, welche Hardware mindestens erforderlich wäre, um ein Multimedia-Studio einzurichten, und verteilte dann diese Hardware – zusammen mit freier Software – an die Gemeinden, damit die Multimedia-Zentren einrichten und vor Ort Kultur produzieren.

Neben dem Ausbruch aus der Abhängigkeit: Welche Chancen bieten Open-Source-Modelle für Entwicklungsländer im allgemeinen?

Nehmen sie die lokale Wirtschaft, die lokale IT-Industrie. In Brasilien wandert zum Beispiel ein Drittel aller Investitionen in die IT-Industrie in andere Länder, als Lizenzzahlungen für proprietäre Software. Das ist nicht viel. Aber wenn dieses Geld in Brasilien bleibt, hilft es, eine stärkere nationale IT-Industrie aufzubauen. Derzeit bauen wir keine IT-Industrie auf; die meisten Unternehmen, die wir haben, sind Zwischenhändler anderer Unternehmen aus dem Ausland, und die kümmert die brasilianische Bevölkerung wenig.

Genau so, wie einem freie Software Zugang zum Quellcode gewährt und die Freiheit, sie zu verändern und weiterzuverbreiten, gibt sie einem auch die Möglichkeit, darum ein Geschäftsmodell aufzubauen. Mittlerweile gibt es in Brasilien eine Reihe von Beispielen für Unternehmen, die ein Geschäft um freie Software herum entwickelt haben, und denen geht es gut.

Anders gefragt: Was sind die Grenzen?

Wir müssen uns klar sein, dass es nicht genügt, Menschen nur die Werkzeuge, die Technologie zu geben, ohne ihnen zu sagen, wie man sie einsetzt. Aber es gibt auch Studien, die zeigen, dass Menschen mehr über Technologie lernen, wenn der Zugang zu ihr ein natürlicher Teil des Lebens ist. Wenn sie keinen Zugang haben, befindet sich die Technologie auf einem anderen Planeten, sozusagen; die Leute entwickeln kein Interesse an ihr. Wir müssen also noch in viele andere Dinge investieren. Brasilien hat riesige Probleme in der Bildung, zum Beispiel.

Was sind die Voraussetzungen, um die Möglichkeiten der Open Source-Software für Entwicklungsländer auszuschöpfen?

Eine Sache ist, dass die Hochschulen noch nicht auf freie Software vorbereitet sind, nicht nur in Entwicklungsländern, auch in entwickelten. Die meisten Hochschulen sind – um es drastisch zu sagen – Hundeschulen geworden. Man verbringt vier Jahre seines Lebens mit Lernen, und wenn die Produkte, mit denen man zu arbeiten gelernt hat, nicht mehr auf dem Markt sind, wenn man die Hochschule verlässt, ist man völlig aufgeschmissen, weil man nicht die technischen Grundlagen gelernt hat, die hinter den Produkten stecken. Einem wird beigebracht, ein Technik-Konsument zu sein.

Freie Software gibt einem diese Möglichkeit, sich die Grundlagen anzusehen. Und die Hochschulen müssen begreifen, dass es bei freier Software nicht einfach um neue Produkte geht, sondern dass sie einen in Kontakt bringt mit dem Kern der Technologie. Nicht länger: "Wir haben nur die alte Version, also lernen wir dieses Programm erst gar nicht." Sondern man hat so viel Zugang zu hochentwickelter Technologie, wie man nur will. Es ist also wichtig, in den Hochschulen ein Bewusstein für diese Dinge zu schaffen.

Sie haben bereits über Microsoft gesprochen, und Sie arbeiten zur Zeit für Google. Wie stehen solche großen Hersteller proprietärer Software zu den Open-Source-Bewegungen in Entwicklungsländern?

Die zwei Unternehmen, die für die brasilianische IT-Gemeinde am sichtbarsten auftreten, sind Microsoft und IBM. Microsoft interessiert sich nicht für freie Software. Sie wollen höchstens herausfinden, wie man sie zerstört. Was sie nicht gemerkt haben, ist, dass sie nicht in der Lage sein werden, sie zu zerstören, zum Glück. Microsoft geht mit freier Software um, als ob sie es mit Autoreparaturen zu tun hätten: Wir haben keine Ahnung von Autoreparaturen, also kümmern wir uns auch nicht darum.

IBM hat einen ganzen Firmenteil, der in der Freie-Software-Community mitarbeitet, und das ist wirklich erfreulich. Aber ihre Beiträge zur Community machen sie noch nicht zu "guten Menschen". Sie denken an ihren Profit. Sie sehen, dass freie Software ein Weg ist, mehr Profit zu machen, also wirken sie in der Community mit. IBM hat heute riesige Entwicklungszentren für freie Software, rund um den Globus. Ich habe für IBM gearbeitet, und als ich gegangen bin, waren dort 700 Menschen mit freier Software beschäftigt. Sie helfen der Community also sehr. Aber das entschuldigt nicht, dass sie weiterhin andere Software proprietär halten. IBM ist eine Firma aus vielen Firmen, und einige von ihnen entwickeln immer noch proprietäre Software.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Sebastian Deterding

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Fernanda Weiden ist Vorstandsmitglied der Free Software Foundation Latin America und Mitglied der Entwicklercommunity Debian Women. Sie arbeitet als Programmiererin für Google in Zürich.
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