Radikalisierung in der Migrationsgesellschaft – Ursachen und Motive
In Deutschland zeigen sich verschiedene Radikalisierungstendenzen, die sich durch polarisierende Debatten um Migration aufladen und sich gegenseitig verstärken können. Ein Blick auf Ursachen und Motive gesellschaftlicher Radikalisierung – insbesondere in migrantischen Milieus.
Radikalisierungsformen wie


Zum Phänomen "Radikalisierung"
Im Ursprung bezeichnet "Radikalität" bzw. "Radikalismus" eine Denk- und Handlungsweise, die gesellschaftliche Probleme von der Wurzel her anpacken will, ohne dabei den demokratischen Verfassungsstaat noch die damit verbundenen Grundprinzipien der Verfassungsordnung beseitigen zu wollen. Radikalisierung ist kein Ereignis, sondern ein Prozess, in deren Verlauf sich das Denken und/oder Handeln einer Person oder Gruppe dahingehend ändert, dass – ausgehend von gesellschaftlichen Konfliktlinien – Personen oder Gruppen zunehmend kompromisslos auf ihren politischen, intellektuellen oder religiösen Grundpositionen beharren und dabei gegenüber den Einstellungen und Werten anderer immer intoleranter werden: "In gesellschaftlichen Konflikten bezeichnet Radikalisierung einen Prozess, in dem die Abgrenzung zwischen Gruppen zunehmend verschärft und mit feindseligen Gefühlen aufgeladen wird. Dieser Prozess ist zumeist verbunden mit einer Betonung der sozialen Identität, die durch die positive Bewertung der Eigengruppe und die Ablehnung einer anderen Gruppe verbunden ist".[2] Hierin gründet auch ein sehr wichtiges Grundphänomen von Ungleichwertigkeitsideologien: die Abwertung und Delegitimierung der Anderen. Diese steht zweifelsohne auch in Zusammenhang mit sozioökonomischen und politischen Interessen. Radikalisierungsprozesse entstehen gerade in Zeiten, in denen Krisen den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft stark belasten und gesellschaftliche Spaltungs- und Abgrenzungslinien stärker zum Vorschein treten.[3]Die polarisierenden Diskussionen über die Neoliberalisierung und zunehmende grenzüberschreitenden Vernetzung der Gesellschaft, die ökonomischen, kulturellen und politischen Umbrüche der letzten Jahrzehnte sowie u.a. die Tendenz, in insbesondere medialen und politischen Debatten Geflüchtete und Migrant_innen als Gefahr für die Werte, die Sicherheit und die Interessen der Gesellschaft darzustellen ("moralische Panik")[4], haben dazu beigetragen, dass sich gesellschaftliche Spaltungslinien weiter vertiefen. Sie verlaufen nicht nur zwischen Einheimischen und Zugewanderten, sondern ziehen sich auch durch die Mehrheitsgesellschaft und verschiedene migrantische Communities. In der Konsequenz haben diese Polarisierungen den Weg für verschiedene Radikalisierungsformen geebnet. Sie reichen von einer immer stärkeren Abkehr von herrschenden sozialen Normen und der Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bis hin zu einer immer stärkeren Akzeptanz von Gewalt zur Durchsetzung ideologischer Ziele. Radikalisierungsdynamiken stehen in engem Zusammenhang mit dem Legitimationsverlust eines gesellschaftlichen Systems. Sie sind nicht nur ein Randphänomen, sondern gehen immer auch aus gesamtgesellschaftlichen Prozessen hervor.
Re-Ethnisierung und Radikalisierung durch den Import von Konflikten
Im Zuge polarisierender Debatten um eine Pluralisierung der Gesellschaft mit Blick auf in Deutschland lebende Menschen mit Migrationshintergrund sowie in den vergangenen Jahren der nach Deutschland geflüchteten Menschen, haben Re-Ethnisierungstendenzen an Bedeutung gewonnen: Es wird verstärkt die Bedeutung von Ethnizität und kultureller Identität als eine Abgrenzung zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen betont. Anzeichen dafür ist z.B. die zunehmende Zahl von Muslim_innen, die sich in Deutschland der salafistischen Szene anschließen. Der Islam hat mit Blick auf religiös begründete Radikalisierungen also an Bedeutung gewonnen. Umgekehrt sind Muslim_innen seit dem 11. September 2001 verstärkt als "Fremde" markiert worden: Viele Angehörige der Mehrheitsgesellschaft sehen im Islam eine Bedrohung [5], da er mit westlichen Werten nicht vereinbar sei. Diese Entwicklungen verstärken sich gegenseitig: Je mehr Muslim_innen sich ausgeschlossen und diskriminiert fühlen, desto eher könnte die Neigung begünstigt werden, sich in die vermeintliche "Wir-Gruppe" zurückzuziehen und ggf. sogar islamistischen Positionen zuzustimmen. Solche Rückzüge und Radikalisierungstendenzen in muslimischen Communities können in der Mehrheitsgesellschaft wiederum zu verstärktem Misstrauen gegenüber Muslim_innen führen bis hin zu offen und gewaltsam ausgetragener Muslimenfeindlichkeit und extrem nationalistischen Positionen. Diese Wechselwirkung sich verhärtender Grenzziehungen zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen bedrohen den Zusammenhalt der Gesellschaft.Gegenwärtig zeigt sich insbesondere in der Auseinandersetzung um den Islam, die Türkeithemen, die Palästina-Frage, den Antisemitismus, die Kurdenpolitik, die Armenier-Frage und nicht zuletzt um Fluchtbewegungen, dass Radikalisierungsprozesse auch durch den Import von innenpolitischen Konfliktthemen der sogenannten Herkunftsgesellschaften befeuert werden und zu Zerklüftungen und Konflikten in Migrationscommunities – aber auch darüber hinaus – führen können. Sichtbar werden solche Konflikte und Polarisierungen zum Beispiel unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Schulen oder Jugendzentren, aber auch in öffentlichen Debatten beispielsweise in den (sozialen) Medien. Hier nehmen in den letzten Jahren insbesondere nationalistische Mobilmachungen und/oder antisemitische Positionierungen aus den Herkunftsgesellschaften einen wichtigen Platz ein. Je mehr sich die Konfliktlinien in den Gesellschaften der Herkunftsländer zuspitzen, desto eher bilden sich auch innerhalb der migrantischen Communities in Deutschland Verwerfungen und Spaltungslinien.[6] Zugleich zeigen gerade diese Auseinandersetzungen die Tendenz zur Ethnisierung gesellschaftlicher Probleme in Deutschland. Das bedeutet, dass Zugewanderte als Ursache gesellschaftlicher Konflikte (z.B. eine angespannte Situation auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt) gesehen werden. Das wiederum kann zu Rückzugstendenzen in oder von migrantischen Communitys führen.
Wie Ausgrenzung und Rassismus auf Selbstethnisierungsprozesse wirken können
Der mit einer Selbstethnisierung verbundene Rückzug von Migrant_innen in "Wir-Gruppen" kann auch Resultat erlebter Ausgrenzung und Diskriminierung in Deutschland sein. Zum Beispiel zeigen die seit 2006 regelmäßig durchgeführten sogenannten "Mitte-Studien"[7], dass zum einen menschen- und demokratiefeindliche Einstellungen auch bei denjenigen weit verbreitet sind, die die Mitte der Gesellschaft bilden und zum anderen auch Abwertungen gegenüber verschiedenen Bevölkerungsgruppen bzw. gegenüber diversen als "anders" markierten Gruppen weit verbreitet sind.[8] Ferner schaffen die mangelnde politische und öffentliche Anerkennung von Zugewanderten und ihren Nachkommen – die darin resultiert, Menschen mit Migrationshintergrund (immer noch) als "die Anderen" zu sehen – sowie das durch
Antisemitismus als "flexibler Code"
Bei genauerer Betrachtung der verschiedenen Extremismen in der Einwanderungsgesellschaft – Rechtsextremismus,
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für die politische Bildung
Im Einwanderungsland Deutschland lassen sich verschiedene Radikalisierungsformen ausmachen, die auch als Ungleichwertigkeitsideologien beschrieben werden können: Sie alle verbindet die Abwertung und Delegitimierung von Menschen, die nicht der eigenen Gruppe angehören. Auslöser für die Übernahme einer extremistischen Ideologie können u.a. Identitätskonflikte, Ausgrenzungserfahrungen, politische, soziale und religiöse Spannungen, die Suche nach "Schuldigen" oder der Wunsch nach Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft sein. Neben der Radikalisierung einzelner Personen und Gruppen können Radikalisierungsprozesse auch ganze Milieus und schließlich sogar die Gesamtgesellschaft betreffen. Die politische Mitte ist in Deutschland zwar traditionell stark verankert. Das kann sich aber ändern. Das zeigen zum Beispiel die "Mitte-Studien", die seit 2006 die Verbreitung von rechtsextremen, menschenfeindlichen und anderen antidemokratischen Einstellungen in der Gesellschaft messen. Demnach radikalisieren sich vor allem die politischen Ränder, wodurch – so die Autoren –aber auch die Mitte ihren festen Boden verlieren könne.[10]Die Aufgabe der politischen Bildung muss darin bestehen, die Ursachen und Motive für die Entstehung von Radikalisierungsformen in der "Gesellschaft der Vielen" zu analysieren, einzuordnen und erfolgreiche Konzepte und Gegenstrategien zu entwickeln. Dabei sollten auch die Zusammenhänge und Parallelen unterschiedlicher Radikalisierungsformen und ihre sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirklungen in den Blick genommen werden. Denn in einer sich zunehmend polarisierenden und ggf. radikalisierenden Gesellschaft steigt auch die Bereitschaft für Gewaltanwendung. Der gesellschaftliche Zusammenhalt kann verloren gehen. Gerade durch eine Politik der Anerkennung muss ein gemeinsames "Wir" entwickelt und Tendenzen der Aus- und Abgrenzung sowie der Desintegration entgegengetreten werden. Dieser gesellschaftspolitische Balanceakt erfordert angesichts der Zunahme existierender Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozesse ein hohes Maß an Sensibilität, Offenheit, Verantwortung und gesellschaftlichem Dialog. Bundesweite Programme wie "Demokratie Leben!" sowie landesweite und kommunale Präventionsangebote bieten hierbei wichtige Ansätze.
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers "Migration und Sicherheit".
Literatur
Bauman, Zygmunt (2016): Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin: Suhrkamp.Bozay, Kemal / Borstel, Dierk (Hrsg.) (2017): Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.
Bozay, Kemal (2009): "Ich bin stolz, Türke zu sein!" – Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der Globalisierung. 2. Auflage. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
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Eckert, Roland (2012): Die Dynamik der Radikalisierung. Über Konfliktregulierung, Demokratie und die Logik der Gewalt. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
El-Menouar, Yasemin (2019): Religionsmonitor: Religiöse Toleranz weit verbreitet – aber der Islam wird nicht einbezogen. Bertelsmann Stiftung, 11. Juli. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2019/juli/religioese-toleranz-weit-verbreitet-aber-der-islam-wird-nicht-einbezogen/ (Zugriff: 16.12.2019).
Herschinger, Eva / Bozay, Kemal / Decker, Oliver / Drachenfels, Magdalena von / Joppke, Christian / Sinha, Klara (2018): Radikalisierung der Gesellschaft? Forschungsperspektiven und Handlungsoptionen. Hrsg. vom Leibniz-Institut/HSFK, Report Reihe "Gesellschaft Extrem", Nr. 8. Frankfurt am Main.
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Kiefer, Michael (2012): Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen – Randphänomen oder Problem? Verfügbar unter: https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/145728/antisemitismus-unter-muslimischen-jugendlichen-randphaenomen-oder-problem (Zugriff: 31.5.2019).
Pickel, Gert / Yendell, Alexander (2018): Religion als konfliktärer Faktor im Zusammenhang mit Rechtsextremismus, Muslimfeindschaft und AfD-Wahl. In: Decker, Oliver / Brähler, Elmar (Hrsg.): Flucht ins Autoritäre: Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 223–224.
Zick, Andreas / Küpper, Beate / Berghan, Wilhelm (2019): Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Hrsg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter. Bonn: Verlag Dietz.
Zick, Andreas / Küpper, Beate / Krause, Daniela (2016): Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtextreme Einstellungen in Deutschland 2016. Hrsg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf Melzer. Bonn: Verlag Dietz.