Das zeitgenössische ukrainische Kino und der Nation-Building-Prozess ab 2014
Bernd Buder
/ 21 Minuten zu lesen
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Die jüngere Geschichte des ukrainischen Kinos ist eng mit dem Nation-Building-Prozess im Land verknüpft. Die Filme liefern nicht nur eine Chronologie der kriegerischen Ereignisse aus der Betroffenheitsperspektive, sondern stecken auch die Parameter für den politischen Weg der Ukraine Richtung Westen ab. Zur Geschichte eines europäischen Filmlandes im Wechselspiel mit den hegemonialen Einflussversuchen des russischen Nachbarn.
Die Anfänge des Kinos: Sowjetisch-ukrainische Filmkultur
Die Ukraine blickt auf eine lange Filmgeschichte zurück, die mit Namen wie Dziga Vertov, Alexander Dovzhenko und Kira Mouratova verbunden ist. In Odesa wurde die legendäre Treppenszene für Sergej Eisensteins "Interner Link: Panzerkreuzer Potemkin" ("Bronenosez Potemkin", UdSSR 1925) gedreht. In der pulsierenden Schwarzmeer-Metropole entstand bereits 1907 ein privates Filmstudio, dessen Überbleibsel 1919 in das unter sowjetischer Herrschaft gegründete Odessa Film Studio übergingen. Die Aufnahmen für Vertovs Dokumentarfilm-Klassiker "Der Mann mit der Kamera" ("Tschelowek s kinoapparatom", UdSSR 1929) entstanden in Kyjiw, Charkiv und Odesa, sein 1931 erschienener "Enthusiasmus (Donbass-Sinfonie)" ("Entusiasm: Simfonija Donbassa", UdSSR 1931) gehört zu den ersten sowjetischen Tonfilmen. Dovzhenko ging mit seinen vom Expressionismus beeinflussten Filmen wie "Arsenal" (UdSSR 1929) und "Erde" ("Semlja", UdSSR 1930) in die internationale Filmgeschichte ein. Eng verbunden mit der Ukraine ist auch das Werk des armenischen Regisseurs Sergei Paradjanov, der hier einige seiner wichtigsten Filme drehte. Mit seiner spielerischen Extravaganz wurde der Paradiesvogel des sowjetischen Kinos zum Wegbereiter des ukrainischen poetischen Kinos. Dabei geriet er immer wieder in Konflikt mit staatlichen Stellen. 1964 zeigte er seinen "Feuervogel" (auch „Schatten vergessener Ahnen“/„Teni sabytych predkow“, UdSSR 1964) in ukrainischer Sprache und musste die Arbeiten am Folgeprojekt "Kiev Frescoes" ("Kievskie Freski", UdSSR 1966, unvollendet) unter dem Vorwurf, mit ukrainischen Nationalisten zusammengearbeitet zu haben, einstellen. 1974 wurde er wegen Homosexualität für fünf Jahre inhaftiert. Mit ihrem reduzierten Stil und den vorwiegend weiblichen Heldinnen gehört die 2018 in Odesa verstorbene Kira Muratova zu den interessantesten osteuropäischen Regisseurinnen der späten 1980er-Jahre und den darauffolgenden Jahren des Postsozialismus. "Das Asthenische Syndrom" ("Asteniceskij Sindrom", UdSSR 1989), mit dem sie 1990 den Silbern Bären der Berlinale gewann, gilt als letzter Film, der in der Sowjetunion zensiert und vorübergehend verboten wurde – wegen der derben Sprache, mit der sich die Heldin ihrer Umwelt gegenüber ausdrückt.
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Der Euromajdan: Filmische Begleitung einer Revolution
Im November 2013 weigerte sich die ukrainische Regierung des damaligen Präsidenten Viktor Janukovych, ein bereits ausgehandeltes Interner Link: Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Die darauffolgenden, zum Teil gewaltsamen Proteste rund um den von Demonstrant*innen besetzten Platz der Unabhängigkeit (Majdan Nesaleschnosti) in Kyjiw gingen als Interner Link: "Euromajdan" in die ukrainische Geschichte ein. Sie gelten als Beginn weitgehender Demokratisierungsprozesse in der Ukraine.
Zahlreiche Filmschaffende begleiteten die Proteste vor Ort, etwa das Art Collective #BABYLON ’13, zwölf junge Filmemacher*innen, die mit ihrem Kompilationsfilm "Almanach #Babylon ’13" (UA 2014) auf dem Majdan und im Donbass eine Chronik eines zivilen Protests drehten, ein Kaleidoskop aus Stimmungen, Meinungen und Ereignissen. Zur gleichen Zeit mischte sich Igor Parfenov für seinen Spielfilm "Es war einmal in der Ukraine" ("Odnazhdy v Ukraine", UA 2014) unter die Majdan-Demonstrant*innen. Die Geschichte über eine junge Frau, die von einem korrupten Polizisten vergewaltigt wurde und Zuflucht im Protestcamp sucht, beschreibt ein revolutionäres Chaos zwischen Aufbruchstimmung und Bedrohungsszenario – wer hält zu wem und welche Mittel sind im Kampf für Freiheits- und Bürgerrechte legitim?
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Als Klassiker gilt Sergei Loznitsas Dokumentarfilm Interner Link: "Maidan" (UA, NL 2014), der die Chronologie der Ereignisse mit protokollarischer Strenge und analytischer Schärfe beobachtet und dabei als wesentliches Momentum einer nationalen Neudefinition festhält. In seinem umfangreichen Gesamtwerk beschäftigt sich Loznitsa immer wieder mit den totalitaristischen Versatzstücken in der politischen Kultur Russlands, nicht aufgearbeiteter Zweite-Weltkriegs-Vergangenheit im Osten Europas und den Folgen russischen Hegemonialstrebens für die Nachbarländer. Sein ebenso wie "Maidan" in Cannes gezeigter Spielfilm "Donbass" (DE, UA, F, NL, RO 2018) zeigt in dreizehn Episoden die Willkürherrschaft in der Interner Link: sogenannten Volksrepublik Donezk, die sich seit 2014 mit russischer Unterstützung von der Ukraine abzuspalten versucht.
Der Fall Oleg Sentsov: Russische Einschüchterung und anti-russische Kulturpolitik
Eine Zäsur war die Verhaftung des Regisseurs Oleg Sentsov im Mai 2014. Der auf der Krim lebende Sentsov wurde unter fadenscheinigen Gründen der Vorbereitung terroristischer Anschläge auf sowjetische Denkmäler sowie der Mitgliedschaft in der rechtsradikalen ukrainischen Organisation "Rechter Sektor" angeklagt und von einem Moskauer Gericht zu 20-jähriger Arbeitslagerhaft verurteilt. Sentsov hatte 2011 mit seinem Spielfilmdebut "Gamer" ("Gámer", UA 2011) über einen Jugendlichen, der sich in der Scheinwelt der Computerspiele verliert, reüssiert. Der Film war weltweit auf Festivals zu sehen, unter anderem in Rotterdam, Fukuoka, Wiesbaden und São Paulo. In einer Solidaritätsveranstaltung in dem Berliner Kino in der Brotfabrik kurz nach der Verhaftung bezeichnete Wim Wenders "Gamer" als "einen unpolitischen Film, der politischer ist als so mancher politische Film." Sentsov kam 2019 im Rahmen eines Gefangenenaustausches zwischen der Ukraine und Russland wieder auf freien Fuß. Zuvor hatten sich die internationale Filmszene auf Initiative der Europäischen Filmakademie, Menschenrechtsorganisationen sowie zahlreiche westliche Politiker*innen für seine Freilassung eingesetzt.
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Die Verurteilung von Sentsov wurde in der osteuropäischen Filmbranche als Exempel verstanden, Filmschaffende aus der Region, auch aus Russland selbst, vor kritischen Haltungen und einer Zusammenarbeit mit westeuropäischen Akteur*innen zu warnen. Bei ukrainischen Filmemacher*innen beschleunigte der Fall die Orientierung in Richtung Westeuropa, die auf politischer Ebene durch die russische Einflussnahme auf die Sezessionsbestrebungen in der Donbass-Region und die Annexion der Krim befeuert wurde. Mit Aleksei German Jr.‘s Silbernem-Bär-Gewinner "Under Electric Clouds" ("Pod elektricheskimi oblakami", RU, UA, PL 2015), einer dystopischen Vision über ein Russland 100 Jahre nach der Oktoberrevolution, und Sergej Jewgenjevich Mokrizkis "Red Sniper – Die Todesschützin" ("Bitva za Sevastopol", UA, RU 2015) wurden 2015 die letzten großen ukrainischen Spielfilm-Koproduktionen mit Russland fertiggestellt. Mokrizkis Zweite-Weltkriegs-Drama verklärt die Scharfschützin Ljudmila Pawlitschenko, die nach eigenen Angaben 309 deutsche Militärangehörige getötet hat, pathetisch zur Heldin des sogenannten Interner Link: Großen Vaterländischen Krieges. Mit seiner militaristischen Idealisierung der Rotarmistin kann man den Titel zu den Filmen zählen, die der ukrainische Regisseur Roman Bondarchuk in einem Plädoyer für einen Boykott russischer Kultur als Vorbereitung des Angriffskrieges auf die Ukraine geißelte: "Culture prepared the ideological basis for this war. A culture that can covertly justify Russia's aggression. A culture that Russia knows how to use for its purposes. After the war, when Ukraine's existence will not be threatened by tanks and missiles, it will be possible to return to it, study it, research it and structure it. Just like nowadays, we study Riefenstahl's films (…)."
Gleichzeitig verschwanden russische Filme zunehmend aus den Programmen ukrainischer Filmfestivals. Dazu dürften auch Interner Link: ab 2015 in der Ukraine erlassene Gesetze beigetragen haben, die unter anderem Geldstrafen für alle androhen, die "ein positives Bild von Angestellten des Aggressorstaates" zeichnen. Betroffen waren davon nach 1991 entstandene Filme und TV-Serien. Bereits kurz zuvor wurde russischsprachiges Fernsehen in der Ukraine verboten. Die Maßnahmen wurden nach der Annexion der Krim und dem Beginn der militärischen Konflikte in der Ostukraine ergriffen, trafen aber auch einen Großteil der Ukrainer, die im Alltag russisch sprechen. Ukrainische Filmfestivals reduzierten die Präsenz russischer Filme auf oppositionell geprägte Inhalte, wie die Filme des seit 2014 im Rigaer Exil lebenden Dokumentarfilmers Vitali Mansky (u.a Interner Link: "Im Strahl der Sonne"), auf Produktionen der TV Indie-Filmproduktion oder auf Filme des Weltvertriebs Antipode.
Donbass und Krim: Militärische Konflikte als zentrales Thema
Die militärischen Aggressionen im Rahmen der von Russland unterstützten Unabhängigkeitsbestrebungen in der Donbass-Region wurden schon bald zum wichtigsten Thema für ukrainische Filmschaffende. Zahlreiche Spiel- und Dokumentarfilme weisen auf die humanitäre Notlage der dortigen Bevölkerung hin, auf die Folgen des Kriegs für die Zivilgesellschaft und auf die entstandenen Traumata. So erzählt Nikon Romanchenko in seinem sensibel inszenierten Spielfilmdebut "Tera" (UA 2018) vom verzweifelten Warten einer Arbeiterin einer Süßwarenfabrik auf die Rückkehr ihres jungerwachsenen Sohnes, der als Soldat im Osten des Landes dient. Anastasiia Starozhytska und Mariia Starozhytska zeigen in ihrem bedrückenden Dokumentarfilm "Krieg der Chimären" ("The War of Chimeras", UA 2017) den Krieg aus der Perspektive eines Kämpfenden. Der Protagonist filmt seinen Einsatz als Kriegsfreiwilliger mit der eigenen Handy-Kamera. Was zunächst nach einem Abenteuer aussieht, begleitet von Schlachtrufen wie "wir befreien ein Dorf nach dem anderen", entpuppt sich als Alptraum. Trauerarbeit leistet auch Dana Kavelinas Animations-Kurzfilm "The story of Mark L. Tulip, Who Spoke With Flowers" ("Pro Marka Lvovicha Tyulpanova, Kotory Razgovarival s Tsvetami", UA 2018), der die vielleicht ganz normale Geschichte eines ganz normalen Menschen nachzeichnet, der die schwelenden politischen Konflikte zwischen den sogenannten Brudervölkern Russland und Ukraine ignoriert. Mark L. Tulip aus Donezk interessiert sich vor allem für die Pflege seines Gartens und ein harmonisches Familienleben. Wenige Monate später ist der Garten verwüstet, Angehörige der Familie kämpfen an beiden Fronten, sind nach Moskau und Kyjiw versprengt worden. Dokumentarfilme wie Interner Link: "The Earth Is Blue as an Orange" (UA, LT 2020; R: Iryna Tsilyk) und "Taubes Gestein" ("Terkony“, UA 2022; R: Taras Tomenko), zwei Filme mit Premieren im Berlinale-Generation-Programm, zeigen, wie der Krieg für Kinder und Familien zum Normalfall geworden ist und traumatische Erfahrungen genauso zum festen Bestandteil von Biografien werden wie die Fähigkeit, sie spielerisch auszublenden.
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Die surrealen physischen und psychischen Zwischenwelten, die hier entstanden sind, versuchen Regisseur*innen wie Roman Bondarchuk in seinem Film "Volcano" (UA, DE 2018) oder Maryna Gorbach in dem Drama "Klondike" (UA, TR 2022, Premiere beim Sundance Filmfestival) über ein Pärchen, dass zum Zeugen des Interner Link: Abschusses des Passagierfluges MH17 wird, zu verstehen. In dem mit ironischen Spitzen gespickten "Volcano" findet sich der ukrainische Fahrer eines OSZE-Beobachterteams nicht nur im militärisch-geografischen Niemandsland zwischen den Stellungen der ukrainischen Armee und "neurussischen" Separatist*innen wieder, sondern scheint – wie sein ganzes Land – aus der Zeit gefallen. "Da ist der Majdan, dort ist der Krieg, hier sind wir", bringt einer der Menschen, die er auf seiner Odyssee durch die Steppe der Südukraine trifft, die Situation des Landes auf den Punkt: Ein in antagonistische Lebenswirklichkeiten zerfallenes Land zwischen Stadt und Land, West und Ost, Krieg und Frieden, in dem abseits des Kampfes ums tägliche Überleben zuweilen kaum noch Raum bleibt, nachhaltige Perspektiven für die gesamte Gesellschaft zu entwickeln.
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Valentyn Vasyanovychs postapokalyptischer Spielfilm "Atlantis" (UA 2019) spielt im Jahr 2025, ein Jahr nach einem zur Entstehungszeit des Films noch als fiktiv erachtetem Krieg mit Russland, sein Film "Reflection" ("Vidblysk", UA 2021), zunächst gezeigt im Wettbewerb des Filmfestival Venedig, handelt von einem Chirurgen, der im Donbass von pro-russischen Streitkräften gefangen genommen und brutal erniedrigt und gefoltert wird. Beide Filme reduzieren die von Russland in die Ukraine hineingetragenen militärischen Auseinandersetzungen auf ihren zutiefst dystopischen Kern – die Rolle von Gewalt gegen Zivilist*innen als Mittel der Kriegführung, wie sie auch im Rahmen der jüngsten Kriegsverbrechen gegen Bewohner*innen von Interner Link: Butscha und anderen ukrainischen Städten zum Tragen gekommen sind. Handfeste Beweggründe statt psychischer Narben stehen dagegen in dem Dokumentarfilm "Train Kyiv-War" (UA 2020) im Vordergrund. Regisseur Korniy Grytsiuk beobachtet Reisende in dem Zug, der aus der ukrainischen Hauptstadt nach Kostyantinivka fährt, an die Front zu den "neurussischen" Rebellengebieten. Hier treffen Menschen mit unterschiedlichen Zielen und Weltanschauungen aufeinander – vom Elternbesucher bis zum Söldner, vom ukrainischen Patrioten bis zum Putin-Fan.
Beobachtungen und Diskursräume: Dokumentarfilme zur ukrainischen Geschichte
Die Mischung aus persönlicher Nähe und distanzierter Beobachtung, die Grytsiuk zu seinen Protagonist*innen aufbaut, ist paradigmatisch für viele ukrainische Dokumentarfilme. Wo die Spielfilme ins verstörende Innere des Bewusstseins vordringen, halten die Dokumentarfilme Abstand. Trotz aller Betroffenheit und Teilnahme am Schicksal ihrer Protagonist*innen konstruieren die Filme Diskursräume, in denen ihrem Publikum unterschiedliche Interpretationen von Geschichte und Geschichten zur Wahl gestellt werden. Fingerzeigartige Handlungsanweisungen zum Verständnis sind nur selten zu erwarten. Dafür eher analytische Blicke auf Menschen, die versuchen, diese Geschichte und den steten Wandel des sozialen Miteinanders und der politischen Kultur in Echtzeit zu verarbeiten, zwischen Krieg und Transformation. Etwa Ivan Vasyliovych, tapfer-trauriger Protagonist in "Heat Singers" (UA 2019) von Nadia Parfan. Der alternde Gewerkschaftsfunktionär versucht, im staatlichen Energieversorgungsunternehmen von Iwano-Frankiwsk verzweifelt, den Betriebschor und damit eine Jahrzehnte alte Firmentradition am Leben zu erhalten. Wider aller Chancen, denn der ökonomische Wandel und der Generationenwechsel machen auch vor diesem Staatsunternehmen nicht Halt.
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Regisseurin Nadia Parfan hat zusammen mit ihrem Partner Ilia Gladshtein das inzwischen nicht mehr existierende Konzept-Filmkunst-Festival „‘86‘ – Festival of Film and Urbanism“ in Slavutych aus der Taufe gehoben und 2014 sowie 2018 vier Staffeln des Kurzfilmalmanachs „My Street Films Ukraine“ produziert. Semiprofessionelle Filmemacher*innen und Laien wurden dazu animiert, unter Anleitung von Film-Profis ihre Stadt, ihren Kiez, ihre Straße zu portraitieren. Der Schwerpunkt lag auf Alltagsbeschreibungen von Orten, die sich der allgemeinen Aufmerksamkeit meist entziehen — „non-posh-cities“, wie die Produzent*innen diese Orte nannten. Die Städte, die hier portraitiert wurden – Berezhany, Cherson, Kramatorsk, Mariupol, Saporischschja, um nur einige zu nennen – haben im Verlauf des gegenwärtigen Angriffskrieges traurige Berühmtheit erlangt. Die Filme portraitieren einen vom Kriegsgeschehen geprägten Alltag, wenn etwa der Blick beim Wäscheaufhängen auf eine von schwer bewaffneten Milizionär*innen bewachte Straßensperre gleitet oder beim Strandspaziergang auf die Minen, die im Asowschen Meer schwimmen. Sie zeugen von einem Alltag zwischen Überlebenspragmatismus, Resilienz und Ungewissheit, faszinierend unprätentiös und authentisch eingefangen zwischen teilnehmender Beobachtung, pointiertem Portrait, Mockumentary und experimenteller Reflektion.
Fiktionalisiertes Pathos: Spielfilme zum Nation-Building-Prozess
Der Pragmatismus mit dem die Macher*innen der "My Street Films Ukraine"-Filme oft intime Einblicke in ihren Alltag zulassen, die den Zuschauer*innen Raum für eigene Interpretationen geben, stehen im Gegensatz zum patriotischen Pathos mancher Spielfilme. Die jüngere Geschichte der Ukraine vollzog sich zwischen Stalinscher Gewaltherrschaft und dem Terror des Nationalsozialismus, im Zweiten Weltkrieg zählte die Ukraine neben Belarus und Polen zu den Ländern, die zwischen deutscher Besatzung und Kollaboration, Gewalt und Gegengewalt die meisten Opfer verzeichnen musste. Die Bedrohung durch den imperialen russischen Nachbarn wurde vor, während und nach der Sowjetzeit als existentiell empfunden. So fühlte und fühlt sich die ukrainische Filmszene verpflichtet, ihren Teil zum Nation Building-Prozess beizutragen. Neben den Filmen, die die Euromajdan-Proteste als Geburtsstunde einer modernen westlich-orientierten Ukraine verorten, und den Reflexionen des militärischen Konflikts im Osten des Landes, die angesichts der äußeren Bedrohung einem starken inneren Zusammenhalt das Wort reden, entstanden auch zahlreiche patriotisch unterfütterte Spielfilme, die oft das Zeug zum Blockbuster hatten.
Dabei wird die sowjetische Vergangenheit weitgehend als russische Fremdherrschaft interpretiert. Der Bogen reicht von der Hungersnot 1932/33, die als Interner Link: "Holodomor" ("Tötung durch Hunger") in die ukrainische Geschichtsschreibung eingegangen ist, bis zu den jüngeren und gegenwärtigen Landnahme- und Destabilisierungsversuchen Russlands auf der Krim, im Donbass und jüngst mit dem Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine. In diesem Rahmen wird die Rolle antikommunistischer Widerstandsgruppen der Kriegs- und Nachkriegszeit wie die Organisation Ukrainischer Nationalisten unter Leitung von Interner Link: Stepan Bandera oft verharmlost, nationalistisch geprägte Kriegsverbrechen und Verbrechen an der Menschheit werden in ihrer Dimension und Bedeutung zuweilen heruntergespielt.
So verklärte Zaza Buadze in seinem Actiondrama "Chervonyi — Escape From Stalin's Death Camp" ("Chervonyy", UA 2017) den Offizier der Ukrainischen Aufstandsarmee, Chervoniy Danilo Nazarovich, zum antibolschewistischen Volkshelden. Mit dem Titel seines nächsten Films flirtete Buadze mit dem Namen des Nationalistenführers Bandera, indem er seiner Identifikationsfigur, dem Hauptmann Anton Sayenko, den Spitznamen ‚Banderas‘, verleiht: "Call Sign ‚Banderas‘" ("Pozyvnyy 'Banderas'", UA 2018) erzählt von einer ukrainischen Militäreinheit, die 2014 in der sogenannten ATO-Zone (der "Anti-Terrorist Operation Zone" in den Regionen Luhansk und Donezk) erfolgreich gegen russische Saboteure kämpft.
Immer wieder wurden reale Ereignisse aus dem Donbass-Konflikt zur Vorlage implizit nationalistischer Action-Unterhaltung. Mit Interner Link: "Last Resistance - Im Russischen Kreuzfeuer" (auch "Cyborgs", "Kiborgy. Heroyi ne vmyrayut", UA 2017) erschien 2017 ein dramaturgisch an US-amerikanische Kriegsfilme erinnernder Streifen über die Kämpfe zwischen pro-russischen Separatisten und ukrainischen Einheiten um den Flughafen Donezk. Akhtem Seitablaevs Film überhöht die Rolle der ukrainischen Soldaten und Kriegsfreiwilligen ins Heldische. Als "Cyborgs" wurden die ukrainischen Freiwilligen bezeichnet, die den Flughafen Donezk vom Mai 2014 bis Januar 2015 unter härtesten Bedingungen verteidigt haben. Der Begriff nimmt Bezug auf den US-amerikanischen Endzeitfilm "Cyborg" (USA 1989), in dem Jean-Claude Van Damme als Actionheld die Welt gegen übermächtige, sadistische Tyrannen rettet. Im selben Atemzug – auch das Hollywood-Vorbildern nachempfunden – spart er nicht mit Kritik an "denen da oben", den Funktionär*innen aus dem politischen Establishment, von dem die Soldaten nicht genug moralische Unterstützung erfahren hatten. Die 1,7-Millionen Dollar schwere Produktion wurde in der Ukraine zum Publikumshit. In Deutschland erschien sie auf dem DVD-Markt unter dem politisch zugespitzten Titel "Last Resistance – Im Russischen Kreuzfeuer". 2019 dramatisierte Tymur Yashchenko in dem Kriegsfilm "U-311 — Minenräumboot Cherkasy" ("Cherkasy", UA 2019) die Gegenwehr der Besatzung des ukrainischen Minenräumers U 311 "Cherkasy" gegen die Beschlagnahmung des Schiffes durch die russische Marine im Jahr 2014. Nach einer wahren Geschichte inszenierte Ivan Tymchenko seinen Film "Beshoot" (2019) über zwei Kämpfer eines Freiwilligenkorps, die in dem russisch besetzten Ort Ilovaysk einen Fluchtkorridor durch die feindlichen Linien freikämpften. Aus heutiger Sicht nehmen diese Filme die aktuellen Erzählungen über die hohe Moral ukrainischer Soldaten und Kriegsfreiwilliger vorweg.
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Steht hier vor allem die Mischung aus Action und Korpsgeist im Vordergrund, so haben Filme wie Oles Sanins "The Guide" ("Povodyr", UA 2014) das Zeug zum echten Nationalepos. In epischen Bildern erzählt der Film die Geschichte eines blinden Kobzaren (ein Folksänger, der die "kosakische Seele" besingt), der gemeinsam mit einem Waisenjungen auf der Flucht vor den Bolschewisten ist, die in den 1930er-Jahren mit totalitaristischen Methoden gegen den angeblichen ukrainischen Nationalismus vorgingen. Die Hungersnot und Gewalterfahrungen bilden den Hintergrund für ein pathetisch ausgestaltetes Nationaldrama, mit dem das ukrainische Kino im Jahr der Annexion der Krim eine historische Linie vom Holodomor bis zur aktuellen russischen Aggression zog und damit ein großes Publikum fand.
Komödien: Mit Humor gegen die Herausforderungen des Alltags
Geradlinig erzählte Komödien wie die 51teilige TV-Serie "Diener des Volkes" ("Sluha narodu", UA 2015-2019) punkteten ebenfalls beim heimischen Publikum. Der damalige Comedian und heutige ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj spielt darin einen Geschichtslehrer, der über Nacht zum Präsidenten seines Landes wird, nachdem seine Schüler*innen ein heimlich gefilmtes Video mit einem Wutausbruch über Vetternwirtschaft und Korruption auf YouTube gepostet haben. In dem gleichnamigen Spielfilm aus dem Jahr 2016 ringt Selenskyi als ukrainisches Staatsoberhaupt mit dem Parlament und zwielichtigen Oligarchen um ein Anti-Korruptionsgesetz, das von der internationalen Staatengemeinschaft als Voraussetzung für die Kreditwürdigkeit der Ukraine angesehen wird. Mit beiden Arbeiten traf Selenskyj, der auch für Idee, Produktion und Serien-Regie verantwortlich war, den Nerv einer schweigenden Mehrheit, die vom herrschenden Politikbetrieb genug hatte und eine Veränderung herbeisehnte. Dabei verschwammen, wie so oft in der ukrainischen Filmgeschichte, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Mit seinen Rollen etablierte sich Selenskyj nicht nur als Publikumsliebling, sondern auch als "Aufräumer", dem sein Volk zutraute, die Kultur der Korruption ernsthaft zu bekämpfen. 2019 kandidierte er für das Amt des Präsidenten und Interner Link: wurde in einer Stichwahl mit überwältigen 73% der Wählerstimmen gegen den bisherigen Amtsinhaber Petro Poroschenko gewählt.
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Der oft ins Groteske zugespitzte Humor, der sein Publikum in einem mitunter schwer zu meisterndem Alltag abholt, gehört zu den Spezialitäten ukrainischer Komödien. Im Spannungsfeld von familiärem Konflikt und politisch-historischen Anspielungen testen diese Filme geschickt die Grenzbereiche der Komödie zwischen schrägem Humor, Situationskomik und Fantasymotiven aus. Beispielhaft sind hier Antonio Lukichs "My Thoughts Are Silent" ("Moyi dumky tykhi", UA 2019) über die Beziehung zwischen einer dominanten Mutter und ihrem unselbständigen Sohn, der eine Karriere als Vogelstimmenaufzeichner beginnt, Olena Demjanenkos "Meine Grossmutter Fanny Kaplan" ("Moya Babusya Fanni Kaplan", UA 2016) über die Lenin-Attentäterin Fanni Jefimowa Kaplan oder die kultige Folk-Groteske "Hutsulka Ksenya" (UA 2019, ebenfalls von Olena Demjanenko), in der die Musikerinnen der ukrainischen Anarcho-Performance-Punkband "Dakh Daughters" auftreten, sicher eine der originellsten zeitgenössischen Performance-Bands Europas.
Internationale Perspektiven: Ukrainische Produktionen auf Filmfestivals
Dabei darf nicht vergessen werden, dass das ukrainische Kino sich zu einem integralen Bestandteil des europäischen Filmschaffens entwickelt hat. Nicht zuletzt dank einer zielorientierten Förderpolitik, die viel Wert auf internationale Koproduktionen gelegt hat, und der Vernetzungsarbeit ukrainischer Filmfestivals ist das ukrainische Kino inhaltlich und thematisch in der Mitte Europas angekommen. Neben dem bereits seit 1970 bestehenden Externer Link: Molodist International Film Festival in Kyjiw haben sich seit den 1990er-Jahren mit dem Externer Link: Docudays UA Film Festival in Kyjiw, dem Externer Link: Odesa International Film Festival, dem Externer Link: MeetDocs Film Festival in Charkiw und dem Externer Link: Lwiw International Short Film Festival Wiz-Art einige Festivals gegründet, die nicht nur sorgfältig kuratierte Filmprogramme, sondern auch nachhaltige internationale Netzwerkmöglichkeiten zur Verfügung stellen. So premieren auf den für internationale Filmstarts besonders einflussreichen A-Festivals wie Berlin, Cannes, Karlovy Vary, Venedig, Warschau und Tallinn fast jährlich neue Filme aus der Ukraine.
Neben den Arbeiten von Roman Bondarchuk, Sergei Loznitsa, Valentin Vasyanovych und Oleg Sentsov, der seit seiner Freilassung aus russischer Haft mit "Numbers" ("Nomery", UA, PL, CZ, F 2019), dessen Drehbuch er im Arbeitslager schrieb, und "Rhino" ("Nosorih", UA, PL, DE 2021) zwei Spielfilme fertiggestellt hat, touren weitere ukrainische Filmemacher*innen durch die internationale Festivallandschaft. 2014 lenkte die Premiere von "The Tribe" ("Plemya", UA 2014) auf dem Filmfestival Cannes die internationale Aufmerksamkeit auf das ukrainische Kino. Die Geschichte über einen gehörlosen Jugendlichen, der der skrupellosen internen Hackordnung in einem Gehörloseninternat ausgesetzt ist, wird ausschließlich in Gebärdensprache erzählt. Nach der Premiere in Cannes kam Myroslaw Slaboschpyzkyjs Spielfilmdebut in über 40 Ländern ins Kino. 2017 fragte Volodymyr Tykhyys "The Gateway" ("Brama", UA 2017), eine Mischung aus Arthaus-, Thriller- und Fantasymotiven, nach Überlebensstrategien in der noch immer radioaktiv verseuchten "Zone", die nach dem atomaren GAU vom Umland des damaligen Atomkraftwerks Tschernobyl entstanden ist. Der Film erweitert die Fragen nach nationaler Identität und Traumabewältigung um eine paranormale Ebene. Im selben Jahr portraitierte Marina Stepanska in ihrem Film "Falling" ("Strimholov", UA 2017) die junge Generation auf der Suche nach ihrem Platz in der sich modernisierenden ukrainischen Gesellschaft. 2018 mischte Marya Nikitiuks in "When The Trees Fall" ("Koly padayut dereva", UA, PL, MK) eine Coming-of-Age-Geschichte mit Provinzportrait, Genre-Elementen und naturmythischen Motiven. Der Film begann seine internationale Auswertungskarriere auf der Berlinale. Im Mai 2022 reüssierten mit Dmytro Sukholytky-Sobchuks an der ukrainisch-rumänischen Grenze angesiedelter Schmugglergeschichte "Pamfir" (UA, F, PL, CL 2022) und Maksim Nakonechnyis "Butterfly Vision" (UA, CZ, HR, SE 2022) zwei originelle Arbeiten beim Filmfestival in Cannes. "Pamfir" liefert eine bildstarke Mischung aus Genrefilm, Sozialdrama und folkloristischen Motiven. "Butterfly Vision" begleitet eine aus der Haft der Separatisten entlassene ukrainische Kriegsfreiwillige und reflektiert die psychischen und physischen Spätfolgen, die der Krieg beim Individuum und in der Gesellschaft hinterlässt. Dabei spricht Nakonechnyi auch die Verstrickungen seiner Filmheldin und ihrer Kameraden mit rassistischen, rechtsextremen Gruppierungen an.
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Die Mischung aus präziser Beobachtung und poetischen Motiven und einem Hang zur Groteske macht das ukrainische Kino heute so interessant wie unberechenbar. Mit Filmemacherinnen wie Marysia Nikitiuk, Nadia Parfan, Olena Demjanenko, Alina Gorlova, Maryna Er Gorbach oder Katerina Gornostai, die in ihrem Coming-of-Age-Film Interner Link: "Stop-Zemlia" (UA 2021) eine introvertierte Non-Konformistin zeichnet, spielen weibliche Regisseurinnen in der Filmszene der Ukraine eine immer wichtigere Rolle. Damit zahlt sich aus, dass Projekte weiblicher Regisseurinnen auf ukrainischen Filmfestivals und Koproduktionsmärkten gezielt berücksichtigt und damit auch von potentiellen ausländischen Koproduzent*innen und Festivalscouts verstärkt wahrgenommen werden.
Gleichzeitig werden ukrainische Themen für ausländische Regisseur*innen immer interessanter. 2017 beschäftigte sich der Litauer Šarūnas Bartas in seiner kontemplativen Kriegsbeschreibung "Frost" ("Šerkšnas", LT, F, UA, PL 2017) dem Donbass-Konflikt. 2019 verfilmte die polnische Star-Regisseurin Agnieszka Holland mit "Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins" ("Mr. Jones", PL, GB, UA 2019) die Geschichte des britischen Journalisten und Politikberaters Garreth Jones, der Anfang der 1930er-Jahre auf die von der sowjetischen Zentralregierung verantwortete Hungersnot in der Ukraine aufmerksam machte und 1935 unter ungeklärten Umständen bei einer China-Reise gekidnappt und umgebracht wurde. 2021 drehte Peter Kerekes im Frauengefängnis in Odesa seinen faszinierenden Ensemblefilm "107 Mothers" ("Cenzorka", SK, CZ, UA 2021) über Mütter mit Kleinkindern in Haft, ein kreatives Wechselspiel zwischen dokumentarischer und fiktiver Form.
Ausblick: Positionen zum russischen Angriffskrieg
Und 2022? Am 24. Februar begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der nicht nur unmittelbares Leid, tausende Todesopfer und weithin zerstörte Städte, Orte und Landschaften hinterlässt, sondern auch unabsehbare Folgen für die politische Kultur in der Ukraine und das Miteinander in Europa haben wird. Die Filmschaffenden des Landes stellten sich nach Kriegsbeginn ausnahmslos hinter ihre Regierung, vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung mit den Einflußnahmeversuchen des imperialen russischen Nachbarn ein durchaus nachvollziehbarer Schritt. Viele Filmemacher*innen meldeten sich als Reservist*innen und Freiwillige oder schlossen sich dem Militär an. So posierte Oleg Sentsov auf mehreren Fotos in Kampfmontur mit Maschinengewehr in der Hand.
Fast alle forderten internationale Verleiher und Filmfestivals zum Boykott von Filmen aus russischer Produktion auf – einschließlich der Filme von oppositionellen Filmemacher*innen. Hinter der rigorosen Haltung steckt die Forderung, dem kriegführenden russischen Staat weder indirekten Imagegewinn noch Steuereinnahmen zukommen zu lassen. Dem Boykott russischer Filme leisteten beispielsweise die meisten Filmfestivals im Baltikum und in Polen Folge – Länder, die in der Vergangenheit ebenfalls unter dem russischen Imperialismus zu leiden hatten.
Das mangelnde Interesse der Boykott-Kampagne an Zwischentönen musste mit dem ukrainischen Regisseur Sergei Loznitsa auch einer der russlandkritischsten europäischen Filmemacher erfahren. Nachdem er sich anfänglich über die zunächst abwartende Haltung der Europäischen Filmakademie beschwert hatte, den Angriffskrieg beim richtigen Namen zu nennen, kam er in Konflikt mit der Filmakademie seines eigenen Landes. Loznitsa wurde aus der Ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen, weil er sich dafür aussprach, weiterhin den Kontakt mit oppositionellen russischen Künstlern zu halten: "Aber ich bitte euch, nicht verrückt zu werden. Wir sollten Menschen nicht nach ihrem Pass beurteilen, sondern nach ihren Taten." Für Anna Machukh, Leiterin der Ukrainischen Filmakademie, ginge es dabei um den nationalen Zusammenhalt. Das Branchenblatt Screen Daily zitierte Machukh wie folgt "[Loznitsa] repeatedly stressed that he considers himself cosmopolitan, ‘a man of the world’. However, now, when Ukraine is struggling to defend its independence, the key concept in the rhetoric of every Ukrainian should be his national identity." Anfang März 2022 hat sich ebenfalls die Europäische Filmakademie positioniert und kam der Boykottforderung nach, so dass russische Filme in diesem Jahr nicht für die Europäischen Filmpreise nominiert werden. Führende A-Festivals wie die Berlinale und Cannes hatten bereits betont, russische Filme nicht komplett aus ihren Programmen auszuschließen. Offizielle russische Delegationen dagegen seien nicht erwünscht. Ukrainische Filmschaffende beklagen indes, dass ukrainische Kultur und ukrainische Geschichte meist im Verhältnis zu Russland diskutiert wird und fordern, diese als eigenständig wahrzunehmen und institutionell zu unterstützen. Die verschiedenen Positionen zeigen, dass der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die internationale Wahrnehmung ukrainischer, ebenso wie russischer Kultur nachhaltig beeinflussen wird.
Die künstlerische und inhaltliche Vielfalt, mit der ukrainische Filmschaffende Geschichte und Gesellschaft ihres Landes aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln reflektieren, weist darauf hin, wie vital die ukrainische Filmbranche heute ist. Das Kino des zweitgrößten Flächenlandes Europas hat sich seit den "Majdan"-Protesten zu einer selbstbewussten, vielstimmigen Filmlandschaft entwickelt. Es trägt damit zur Diskursfähigkeit in der politischen Kultur der Ukraine bei und zeigt, dass es aus der europäischen Filmkultur nicht wegzudenken ist.
Anhang: Hilfsangebote für ukrainische Filmschaffende
Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland einen Krieg gegen die gesamte Ukraine. Hier finden Sie fortlaufend ergänzt ausgewählte Angebote der bpb zum Thema.
"Maidan" von Sergei Loznitsa ist ein wirkmächtiges Zeitdokument einer Gesellschaft im politischen Umbruch. Der Film hier in voller Länge, dazu eine Filmbesprechung und ein Aufgabenblatt.
Ein Film im Film im Krieg: Iryna Tsilyks Dokumentarfilm zeigt die Bedeutung von Kunst für die Bewältigung von traumatischen Ereignissen. Eine Filmbesprechung und ein Arbeitsblatt bieten Anregungen.
Das verwirrende Alter zwischen Kindheit und Erwachsensein fängt Kateryna Gornostai in sehnsuchtsvollen Szenen ein. Filmbesprechung und Arbeitsblatt nähern sich der universellen Coming-of-Age-Story an.
In Cyborgs (2017) wird die Verteidigung des Donezker Flughafens nachgespielt. Der Flughafen war ein nationales Prestigeobjekt, das zu einer dystopischen Trümmerlandschaft in einer von Separatisten…
Kaum ein Werk hat den Film als Kunstform so nachhaltig beeinflusst wie "Panzerkreuzer Potemkin". Die parabelhafte Geschichte der sozialistischen Revolution begründete einen Umbruch der Erzählweise.
Im November 2013 verweigert Präsident Janukowitsch die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU. Der Protest breiter Bevölkerungskreise erzwingt einen Regierungswechsel und veranlasst…
Der Holodomor, die Große Hungersnot 1932/33, ist zu einem wichtigen Aspekt der nationalen Erinnerung in der neuen Ukraine geworden. Mit dem Gedenken an die Opfer, die in sowjetischer Zeit tabu…
Deutungen des Ukraine-Konflikts als Kampf um nationale Selbstbestimmung beziehungsweise Faschismus haben auch eine geschichtspolitische Dimension. Die Instrumentalisierung der dafür zentralen Figur…
Bernd Buder arbeitet für diverse Filmfestivals und ist freischaffender Kurator und Filmjournalist. Seit 2013 ist er Programmdirektor des FilmFestival Cottbus – Festival des Osteuropäischen Films und Programmberater beim Cinedays-Festival in Skopje und aktuell Programmdirektor des Jüdischen Film Festivals Berlin Brandenburg. Davor leitete der den Ost-West-Koproduktionsmarkt connecting cottbus, das Berliner Filmkunsthaus Babylon und war Programmberater bei diversen Filmfestivals.
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