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Terrorismusbekämpfung nach Olympia | München 1972 | bpb.de

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Terrorismusbekämpfung nach Olympia Reaktionen des Bundesministeriums des Innern auf das Attentat von 1972

Eva Oberloskamp

/ 14 Minuten zu lesen

Die Sicherheitsbehörden hatten 1972 kaum Erfahrung mit terroristischen Geiselnahmen. In Reaktion auf das Attentat gründete das Innenministerium die GSG 9 und forcierte die europäische Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung.

Während der Olympischen Sommerspiele 1972 in München überfielen acht Mitglieder der palästinensischen Terrorgruppe "Schwarzer September" die israelische Mannschaft der Herren: Zwei Israelis wurden dabei erschossen, neun Sportler wurden als Geiseln genommen, um die Befreiung von mindestens 200 Gefangenen aus israelischer Haft zu erpressen – eine Forderung, die die israelische Regierung ablehnte. Die Geiselnahme, die in den frühen Morgenstunden des 5. September begann, dauerte rund 20 Stunden. Vor Ort arbeitete ein politischer Krisenstab an der Beendigung der Geiselnahme, dem Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), der bayerische Innenminister Bruno Merk (CSU), der seit Juni 1972 nicht mehr amtierende Ex-Oberbürgermeister Münchens Hans-Jochen Vogel (SPD), der Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber und der Präsident des deutschen Nationalen Olympischen Komitees sowie des Organisationskomitees der Münchner Spiele Willi Daume angehörten. In der Nacht zum 6. September endete die Geiselnahme in einem Desaster: Bei einem missglückten Befreiungsversuch durch die bayerische Polizei kamen alle Geiseln sowie ein Polizist und fünf Palästinenser zu Tode. Die drei überlebenden Terroristen wurden verhaftet, jedoch wenige Wochen später durch eine Flugzeugentführung wieder freigepresst.

Die Bundesregierung und der Freistaat Bayern konnten nach diesen Ereignissen keine gravierenden Fehler der Sicherheitskräfte erkennen. Sowohl Bundeskanzler Willy Brandt als auch der bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel lehnten die Rücktrittsangebote ihrer Innenminister – Hans-Dietrich Genscher auf Bundesebene und Bruno Merk in Bayern – kategorisch ab und vermieden jede dahingehende öffentliche Diskussion. Der Sicherheitsausschuss des Bayerischen Landtags "sprach einstimmig den Verantwortlichen (…) Vertrauen und Dank aus", und auch der Innenausschuss des Deutschen Bundestages äußerte sich entsprechend und konstatierte, es sei "das nach Lage der Dinge mögliche getan, angemessen gehandelt und richtig entschieden worden". Dessen ungeachtet steht außer Frage, dass sowohl der politische Krisenstab als auch die Sicherheitsbehörden der Situation über weite Strecken ratlos gegenübergestanden und lediglich improvisiert hatten. Wie reagierte das in zentraler Verantwortung für die innere Sicherheit stehende Bundesministerium des Innern (BMI) auf das Olympia-Attentat und welche Folgen hatte dies mittel- und längerfristig für die bundesdeutsche Terrorismusbekämpfung?

Jenseits bundesdeutscher Erfahrungshorizonte

Das Olympia-Attentat überschritt in vielfacher Hinsicht die bundesdeutschen Erfahrungshorizonte. Zwei Aspekte sind besonders hervorzuheben: Erstens hatte es auf bundesdeutschem Boden noch nie eine erpresserische terroristische Geiselnahme gegeben. Diese Anschlagsform ist sehr öffentlichkeitswirksam und setzt den Staat unter starken Zugzwang – wobei freilich in diesem Fall die Bundesrepublik nicht in der Position war, die an Israel gerichteten Forderungen zu erfüllen. Bis zum September 1972 hatten es bundesdeutsche Politik und Sicherheitsbehörden im Wesentlichen mit deutschen Linksterroristen sowie mit extremistischen, in der Bundesrepublik lebenden Exilanten – insbesondere Jugoslawen – zu tun gehabt. Deren gewaltsame Aktionen richteten sich vorwiegend gegen Landsleute beziehungsweise Einrichtungen des eigenen Staates. In beiden Fällen hatten Attentäter überwiegend mit Sprengstoff- oder gezielten Mordanschlägen operiert. Die Aktionen palästinensischer Terroristen sahen zum Teil anders aus: Seit dem Präzedenzfall einer Flugzeugentführung 1968 hatten sie sich auf die – oftmals in Drittstaaten durchgeführte – Geiselnahme beliebiger Menschen verlegt, um politische Ziele zu erpressen. Mit derartigen Entführungen hatten die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden bislang keine Erfahrungen gesammelt. Der einzige von Palästinensern auf bundesdeutschem Boden unternommene Versuch einer Geiselnahme war im Februar 1970 am Flughafen München-Riem wegen einer unkontrollierten Handgranatenexplosion blutig gescheitert. Die Bundesregierung hatte bei der Freipressung der Attentäter durch die Entführung dreier Flugzeuge nach Jordanien aus Sorge um das Leben der Geiseln schnell nachgegeben.

Dieser begrenzte Erfahrungshintergrund prägte die Sicherheitsvorkehrungen für die Olympischen Spiele. Im Vorfeld des 5. September waren bei den Sicherheitsbehörden durchaus Hinweise auf eine mögliche Aktion palästinensischer Terroristen eingegangen. Diese wurden jedoch als diffus bewertet und wirkten sich nicht auf das Sicherheitskonzept aus. Das als gering eingeschätzte Risiko wurde in Kauf genommen, um das Leitbild der "heiteren Spiele" nicht zu gefährden. Gleichzeitig erklärt der begrenzte Erfahrungshintergrund auch, warum die Sicherheitsbehörden auf das Szenario kaum vorbereitet waren und es dafür weder Krisenpläne noch Spezialeinheiten gab. Diese Konstellation hatte zur Folge, dass das Krisenmanagement während des Anschlags unter erheblichen strukturellen Problemen litt: So konnten sich die Entscheidungsträger auf keine klar definierten Verantwortungs- und Entscheidungsfindungsstrukturen stützen, Kommunikationsprobleme führten zu Informationsverlusten, es entstanden vermeidbare zeitliche Verzögerungen und die hinzugezogenen Einsatzkräfte, die auch psychologisch nicht darauf eingestellt waren, unter Inkaufnahme aller Konsequenzen einzugreifen, waren unzulänglich ausgerüstet und ausgebildet. Ein Einsatz der Bundeswehr, die über entsprechend geschulte Scharfschützen verfügt hätte, war nach bundesdeutschem Recht nicht möglich.

Zweitens verwischte das grenzüberschreitende Operieren der palästinensischen Terroristen die Trennlinie zwischen Innen- und Außenpolitik in bis dahin nicht gekannter Weise. Das Olympia-Attentat selbst wurde von Politik und Öffentlichkeit im Wesentlichen als ein Problem der inneren Sicherheit wahrgenommen, die Diskussion verblieb "weitgehend innerhalb des innenpolitischen Koordinatensystems". Der Begriff "innere Sicherheit" bezog sich freilich auf den Schutz von Gesellschaft und demokratischem Staat vor Bedrohungen, die aus dem Inneren der Gesellschaft heraus entstanden – im Gegensatz zu äußeren, von anderen Staaten ausgehenden Bedrohungen im Kontext des Kalten Krieges. Der palästinensische Terrorismus entsprach dem nur bedingt, handelte es sich doch um eine von außen kommende Bedrohung – die dabei jedoch nicht von einem anderen Staat ausging und der Form nach am ehesten dem bundesdeutschen Linksterrorismus ähnelte. Auf derartige Gefährdungen war die grenzüberschreitende Kooperation der Sicherheitsbehörden bis dahin kaum ausgerichtet gewesen.

Die ersten unmittelbaren Reaktionen der Bundesregierung auf den Anschlag umfassten zunächst eine Reihe ausländerpolitischer Maßnahmen, um potenziellen Terroristen den Aufenthalt in der Bundesrepublik zu verwehren. Dem lag die Befürchtung zugrunde, dass eine weitere Geiselnahme zur Freipressung der Olympia-Attentäter folgen würde, wie es 1970 nach dem Anschlag am Flughafen München-Riem geschehen war. Diese Schritte korrespondierten mit einer nicht nur im politischen Feld, sondern vor allem in der Öffentlichkeit verbreiteten Tendenz, den palästinensischen Terrorismus in den allgemeineren Kontext einer vermeintlichen "Ausländerproblematik" zu stellen. Generell ging die Bundesregierung anfänglich offensichtlich davon aus, dass sie von weiteren politisch motivierten Geiselnahmen verschont bleiben würde, wenn es ihr gelänge, die Bundesrepublik aus dem Nahostkonflikt und dem Visier palästinensischer Terroristen herauszuhalten.

Darüber hinaus aber nahm die Bundesregierung auch eine Reihe langfristig angelegter Maßnahmen in Angriff, um Ereignisse von der Art des Münchner Anschlags in Zukunft besser abwehren zu können. So entwickelte das Auswärtige Amt die Idee einer UN-Konvention gegen Terrorismus, die es ab dem UN-Beitritt der Bundesrepublik im September 1973 weiterverfolgen und die schließlich zur UN-Konvention gegen Geiselnahme vom Dezember 1979 führen sollte. Das BMI fokussierte vor allem auf zwei Bereiche: Organisation und Ausbildung der bundesdeutschen Sicherheitsbehörden und Verbesserung der europäischen Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit.

Sicherheitsbehörden

Eine wichtige Folge des Olympia-Attentats war der Wandel bundesdeutscher Wahrnehmungen zum Terrorismus. Zwar entsprachen die unmittelbaren Reaktionen auf den Anschlag teilweise noch der Einschätzung, dass terroristische Geiselnahmen ein "ausländisches" und punktuelles Problem seien. Vor dem Erfahrungshintergrund des 5. September sollte sich aber bald in Sicherheitsbehörden, Politik und Öffentlichkeit die Auffassung durchsetzen, dass die Bundesrepublik immer wieder mit entsprechenden Bedrohungen konfrontiert werden könnte. Mittelfristig beförderte dies die Überzeugung, dass der Staat terroristischen Erpressungsversuchen nicht nachgeben dürfe und dass terroristische Straftäter stets juristisch zur Verantwortung zu ziehen seien. Der neue Horizont prägte fortan die Bewertung und Interpretation von Informationen durch die Sicherheitsbehörden. Ende 1972 erfolgte im Bundesamt für Verfassungsschutz mit der Gründung einer eigenen Abteilung für die "Beobachtung des Ausländerextremismus" eine wichtige organisatorische Umstrukturierung, die den aktuellen Erfahrungen Rechnung trug. Sowohl auf politischer als auch auf Ebene der Sicherheitsbehörden wurden zudem Krisenpläne erarbeitet, die in entsprechenden Situationen effektive Informationsketten und Entscheidungsstrukturen gewährleisten sollten.

Im Zuge der Bekämpfung des Linksterrorismus hatte Bundesinnenminister Genscher schon seit Beginn der 1970er Jahre den Ausbau und die Verbesserung der Kooperation der Sicherheitsbehörden betrieben. Vor diesem Hintergrund zog die Tatsache, dass die in Fürstenfeldbruck eingesetzten Polizisten offensichtlich unzulänglich ausgebildet gewesen waren, rasche Konsequenzen nach sich: Innerhalb kürzester Zeit wurde die Gründung von auf Geiselbefreiung spezialisierten polizeilichen Einheiten beschlossen. Die prominenteste war die auch in Nahkampf und Präzisionsschießen geschulte Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9), die mit diesem Profil die "erste polizeiliche Spezialeinheit in Europa" war. Entsprechende Pläne waren zwar schon vor dem 5. September diskutiert worden, die Gründung der GSG 9 erfolgte jedoch in unmittelbarer Reaktion auf das Olympia-Attentat. Nach konzeptionellen Vorarbeiten des BMI und einem Beschluss der Innenministerkonferenz vom 13. September 1972 wurde die Gesetzesinitiative am 26. September auf den Weg gebracht. Der mit der Aufstellung der Gruppe beauftragte Verbindungsoffizier im BMI, Ulrich Wegener, absolvierte zunächst einen Sonderlehrgang bei den israelischen Streitkräften, deren Terrorbekämpfung damals als weltweit führend galt. Bereits im April 1973 konnte Wegener die Einsatzbereitschaft seiner neuen Spezialeinheit melden. Berühmtheit sollte die GSG 9 im Oktober 1977 erlangen, als sie die von palästinensischen Terroristen gekidnappte Lufthansa-Maschine "Landshut" im somalischen Mogadishu erstürmte, die Entführung beenden und alle noch lebenden Geiseln retten konnte.

Europäische Kooperation

Durch das Olympia-Attentat hatte die innere Sicherheit der Bundesrepublik neuartige grenzüberschreitende Dimensionen erhalten. Offensichtlich konnte sie nicht mehr allein im Rahmen klassischer Innenpolitik gewährleistet werden. Wenige Tage nach dem Olympia-Attentat legte deshalb das BMI die Konzeption einer Konferenz über innere Sicherheit für die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften (EG) vor. Erste Pläne in diese Richtung waren bereits 1971 diskutiert worden. Der Anschlag gab nun den Anstoß, die Initiative zu ergreifen – die angesichts der europäischen Integrationskontexte auf Ebene der Außenministerien erfolgte. Die EG-Außenminister nahmen die bundesdeutschen Vorschläge auf einer Konferenz am 11./12. September 1972 positiv auf. Allerdings sollten die daraufhin eingesetzten Arbeitsgruppen schon im Laufe des Jahres 1973 wieder aufgelöst werden. Zu unklar waren die von Seiten der Außenministerien umrissenen Arbeitsaufträge gewesen und zu unterschiedlich die Positionen der einzelnen Staaten.

Wenngleich der Vorstoß zunächst scheiterte, stellte die Bevorzugung der EG als Handlungsrahmen wichtige Weichen. Schritte auf Ebene von Interpol wurden im BMI als wenig erfolgversprechend beurteilt, da deren Statuten eine Befassung mit Angelegenheiten politischen Charakters untersagten und man Probleme bei der Zusammenarbeit mit arabischen Staaten befürchtete. Den Kreis der Europarats-Staaten hielt das BMI für zu heterogen, um zu raschen und effektiven Ergebnissen zu kommen. Auch eine Intensivierung der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit mit arabischen Staaten wurde zunächst nicht ernsthaft in Erwägung gezogen – auch deshalb, weil die diplomatischen Beziehungen zu den arabischen Staaten erst im Entstehen begriffen waren.

Die Bevorzugung des EG-Rahmens erklärt sich zudem aus der Tatsache einer besonderen gemeinsamen Betroffenheit und eines kleinen und an enge Zusammenarbeit gewöhnten Kreises, der schnell wirksame Ergebnisse erwarten ließ. Darüber hinaus spielten die Kontexte der europäischen Einigungsgeschichte eine wichtige Rolle: Nach bundesdeutscher Auffassung hatten die EG-Staaten gemeinsame Interessen im Bereich der Innenpolitik, die unmittelbar mit der europäischen Integration zusammenhingen. Diese ergaben sich zum einen aus dem Ziel, die europäischen Binnengrenzkontrollen abzuschaffen, und zum anderen aus dem Bestreben, auch jenseits des Geltungsbereichs der Römischen Verträge Integrationsfortschritte zu erreichen.

Vor diesem Hintergrund sollte das BMI seinen Plan einer europäischen Konferenz für innere Sicherheit hartnäckig weiterverfolgen: zunächst in bilateraler Kooperation mit Frankreich, bevor dann 1975 infolge einer britischen Initiative der Durchbruch auf EG-Ebene gelang. Auf dem Europäischen Rat vom Dezember 1975 in Rom wurde die sogenannte TREVI-Konferenz ins Leben gerufen. Die Federführung lag nun nicht mehr bei den Außenministerien, sondern unmittelbar bei den einschlägigen EG-Ministerien (in der Regel Inneres oder Justiz). Deren Zusammenarbeit erfolgte in den 1970er und 1980er Jahren auf intergouvernementaler Ebene und erstreckte sich auf die Bekämpfung des Terrorismus und "organisierten Verbrechens", einen allgemeinen Wissens- und Erfahrungsaustausch sowie auf Fragen des Wegfalls der EG-Binnengrenzen. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde die Kooperation 1992 in die "dritte Säule" der Europäischen Union (Justiz und Inneres) integriert, und in den 1990er Jahren erfolgte mit der Gründung von Europol eine formelle Institutionalisierung auf Ebene der Sicherheitsbehörden. Der Lissabon-Vertrag von 2007 schließlich sollte für zentrale Felder der europäischen Justiz- und Innenpolitik die Gemeinschaftsmethode einführen. Antriebskräfte und Dynamik des europäischen Integrationsprozesses im Bereich der Justiz- und Innenpolitik – bei dem die Bundesrepublik durchgehend eine der wichtigsten treibenden Kräfte war – gingen freilich weit über das Olympia-Attentat hinaus. Dessen ungeachtet ist der Anschlag vom 5. September 1972 ein wichtiger erster Impuls für die weitere europäische Zusammenarbeit in diesem Feld.

Folgen für die bundesdeutsche Terrorismusbekämpfung

Das Olympia-Attentat war von wesentlicher Bedeutung für die weitere bundesdeutsche Terrorismusbekämpfung: Es zog einen grundlegenden Wahrnehmungswandel und wichtige politische Weichenstellungen nach sich. Die im Augenblick des Anschlags eher als punktuelles, fremdes Problem perzipierte Gefahr terroristischer Geiselnahmen sollte zunehmend als Angelegenheit gesehen werden, von der die Bundesrepublik auch in Zukunft betroffen bleiben würde. Das BMI leitete Maßnahmen ein, um der Bedrohung langfristig und effektiv begegnen zu können: Die Informationsauswertung und die Planungs- und Entscheidungsprozesse der Sicherheitsbehörden wie auch der politischen Entscheidungsträger wurden stärker auf entsprechende Gefahrenlagen ausgerichtet, und es wurden speziell ausgebildete polizeiliche Eliteeinheiten gegründet, die letztlich eine Voraussetzung dafür waren, dass sich mittelfristig der Grundsatz staatlicher Unnachgiebigkeit gegenüber terroristischen Erpressungen etablieren konnte. Darüber hinaus rückte das Olympia-Attentat die grenzüberschreitende Dimension der inneren Sicherheit in den Fokus und gab wichtige Impulse für eine verstärkte internationale Kooperation. Dabei wurde die Abwehr auch ausländischer Terroranschläge weiterhin als eine Aufgabe der Innenpolitik gesehen und mit entsprechenden Instrumenten angegangen. Die vom BMI lancierte europäische Kooperation im Bereich der inneren Sicherheit sollte weiterverfolgt und ab Mitte der 1970er Jahre in die TREVI-Konferenz eingebracht werden, die den Auftakt für die heutige europäische Justiz- und Innenpolitik bildete.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zum Hergang des Olympia-Attentats den Beitrag von Thomas Riegler in diesem Heft. Siehe außerdem zuletzt Anna Greithanner et al., Andreas Baader, Ulrike Meinhof und hunderte Palästinenser:innen? Das Olympia-Attentat 1972, 15.7.2022, Externer Link: http://www.zeitgeschichte-online.de/kommentar/andreas-baader-ulrike-meinhof-und-hunderte-palaestinenserinnen; Markus Brauckmann/Gregor Schöllgen, München 72. Ein deutscher Sommer, München 2022, S. 205–249; Sven Felix Kellerhoff, Anschlag auf Olympia. Was 1972 in München wirklich geschah, Darmstadt 2022; Cornelia Jahn/Katharina Wohlfart, Olympia 72 in Bildern. Fotografien aus den Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek, München 2022, S. 139–171; Roman Deininger/Uwe Ritzer, Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland, München 2021, S. 335–372. Im Detail enthält die Literatur zum Olympia-Attentat teils widersprüchliche Angaben zu den exakten Forderungen der Terroristen und zu den Personen.

  2. Vgl. Kellerhoff (Anm. 1), S. 146ff.

  3. Der Überfall auf die israelische Olympiamannschaft. Dokumentation der Bundesregierung und des Freistaates Bayern, hrsg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1972, S. 62.

  4. Kurzprotokoll der 91. Sitzung des Innenausschusses, 18.9.1972, S. 8, BT-PA, Protokolle des Innenausschusses, 6. Wahlperiode 1969–1972.

  5. Soweit keine genaueren Quellen- oder Literaturhinweise gegeben werden, basieren die folgenden Ausführungen auf Eva Oberloskamp, Codename TREVI. Terrorismusbekämpfung und die Anfänge einer europäischen Innenpolitik in den 1970er Jahren, Berlin–Boston 2017, S. 29–50; dies., Das Olympia-Attentat 1972. Politische Lernprozesse beim Umgang mit dem transnationalen Terrorismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2012, S. 321–352.

  6. Vgl. Matthias Thaden, Migration und Innere Sicherheit. Kroatische Exilgruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Berlin 2022.

  7. Vgl. Tobias Hof, Die Geschichte des Terrorismus. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2022, S. 158–168.

  8. Vgl. die kritischen Einschätzungen hier: Felix Bohr et al., Die angekündigte Katastrophe, in: Der Spiegel, 23.7.2012, S. 34–44 sowie Vergebliche Warnung, in: Der Spiegel, 19.8.2012, S. 14. Demnach hätten Warnungen vorgelegen, die konkret genug gewesen seien, um erhöhte Sicherheitsvorkehrungen zu rechtfertigen; Kay Schiller und Christopher Young hingegen betonen, in nachrichtendienstlichen Kreisen seien eher politisch motivierte Störungen durch inländische oder jugoslawische Terroristen erwartet worden oder aber eine palästinensische Flugzeugentführung. Weder Großbritannien, die USA, Frankreich noch Israel hätten konkrete Informationen zu einer geplanten Geiselnahme im Olympischen Dorf besessen. Vgl. dies., The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany, Berkeley–Los Angeles 2010, S. 201ff.

  9. Vgl. ebd., S. 205f.

  10. Vgl. Matthias Dahlke, Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972–1975, München 2011, S. 75–87. Offensichtlich bestanden auf Seiten der Polizei massive psychologische Hemmschwellen, notfalls auch den Tod der Attentäter in Kauf zu nehmen; vgl. Schiller/Young (Anm. 8), S. 201.

  11. Wilhelm Knelangen, Die deutsche Politik zur Bekämpfung des Terrorismus, in: Thomas Jäger (Hrsg.), Deutsche Außenpolitik: Sicherheit, Wohlfahrt, Institutionen und Normen, Wiesbaden 2007, S. 173–196, hier S. 174.

  12. Vgl. Albrecht Funk, "Innere Sicherheit": Symbolische Politik und exekutive Praxis, in: Bernhard Blanke/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel, Opladen 1991, S. 367–385. Während "öffentliche Sicherheit" auf das Ordnungs- und Polizeirecht bezogen wird, war die "innere Sicherheit" im zeitgenössischen Sprachgebrauch ein politischer Begriff, der in höherem Maße auf den Schutz des Staates abzielte und ein grundsätzliches Bedrohungspotenzial implizierte, dem durch exekutive Maßnahmen zu begegnen sei. Vgl. Achim Saupe, Von "Ruhe und Ordnung" zur "inneren Sicherheit". Eine Historisierung gesellschaftlicher Dispositive, in: Zeithistorische Forschungen 2/2010, S. 170–187, hier S. 181.

  13. Siehe hierzu auch den Beitrag von Joseph Ben Prestel in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  14. Vgl. Bernhard Blumenau, The United Nations and Terrorism. Germany, Multilateralism, and Antiterrorism Efforts in the 1970s, Basingstoke u.a. 2014.

  15. Der Weg zur "Unnachgiebigkeit" gegenüber Terroristen steht im Zentrum der Studie von Dahlke (Anm. 10). Das Bundesministerium der Justiz sollte sich ab Mitte der 1970er Jahre für ein Auslieferungsabkommen für terroristische Straftäter einsetzen, das zunächst 1977 auf Europaratsebene abgeschlossen wurde. Vgl. Bernhard Blumenau, Taming the Beast: West Germany, the Political Offence Exception, and the Council of Europe Convention on the Suppression of Terrorism, in: Terrorism and Political Violence 2/2015, S. 1–21.

  16. Jan-Phillipp Weisswange/Sören Sünkler, GSG 9. Die Spezialeinheit der Bundespolizei. Speerspitze im Kampf gegen den Terrorismus, Nürnberg 2017, S. 137. Zur Gründung der GSG 9 vgl. aus Zeitzeugenperspektive Ulrich Wegener, GSG 9. Stärker als der Terror, Berlin 2017, S. 35–56. Auch auf Ebene der Landespolizeien wurden wenig später Spezialeinsatzkommandos aufgestellt. Vgl. Klaus Weinhauer, "Staat zeigen". Die polizeiliche Bekämpfung des Terrorismus in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 932–947, hier S. 935.

  17. Das Olympia-Attentat wird als Grund für die Aufstellung der GSG 9 benannt in: BMI, "Konzeption für die Aufstellung und den Einsatz einer Bundesgrenzschutz-Einheit für besonderen polizeilichen Einsatz", 19.9.1972, BArch, B 106/88880.

  18. Vgl. Fernschreiben von MD Smoydzin (BMI), Bonn, "vorbereitung der initiative des herrn bundesministers des auswaertigen auf der auszenminister-konferenz am montag in rom", 9.9.1972, PA-AA, B 21, Bd. 752.

  19. Vgl. Franca König/Florian Trauner, From Trevi to Europol: Germany’s Role in the Integration of EU Police Cooperation, in: Journal of European Integration 2/2021, S. 177–192, hier S. 181.

  20. TREVI wird zumeist als Akronym für "Terrorisme, Radicalisme, Extrémisme, Violence Internationale" entschlüsselt. Die Bezeichnung verweist auch auf den Trevi-Brunnen in Rom, wo der Europäische Rat 1975 die Einrichtung der Konferenz beschloss. Es gibt noch weitere Erklärungsmöglichkeiten. Die Mehrdeutigkeit des Namens ist symptomatisch für die generelle Intransparenz, von der die TREVI-Kooperation gekennzeichnet war.

  21. Allgemein zur europäischen Integration im Bereich der inneren Sicherheit vgl. Wilhelm Knelangen, Das Politikfeld innere Sicherheit im Integrationsprozess. Die Entstehung einer europäischen Politik der inneren Sicherheit, Opladen 2001; Angela Siebold, ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengen-Raums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven, Paderborn 2013; Konrad Schober, Europäische Polizeizusammenarbeit zwischen TREVI und Prüm. Mehr Sicherheit auf Kosten von Freiheit und Recht?, Heidelberg 2017; Franca König, EU Police Cooperation (1976–2016). State Preferences in the Context of Differentiated Integration, Dissertation, Hertie School of Governance, Berlin 2019; Marcel Berlinghoff, Eine gemeinschaftliche Reaktion auf gemeinsame Probleme? Die Europäisierung der Migrationspolitik und ihre Akteure, in: Agnes Bresselau von Bressensdorf (Hrsg.), Über Grenzen. Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945, Göttingen 2019, S. 351–366.

  22. Das besondere bundesdeutsche Engagement ist auch durch eine Vielzahl struktureller Faktoren zu erklären. Generell hatte sich die Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg stets als Befürworterin weiterer Integrationsfortschritte profiliert. Wichtig war auch die föderale Struktur der westdeutschen Sicherheitsbehörden, die sich konzeptionell leicht mit dem europäischen Mehrebenensystem in Einklang bringen ließ. Ein wesentlicher Grund bestand zudem darin, dass die Bundesrepublik ein Pionier der computergestützten Polizeiarbeit und deshalb besonders interessiert an informationeller Vernetzung war. Vgl. Oberloskamp, Codename TREVI (Anm. 5), S. 19–24, S. 27f., S. 216; König (Anm. 21), S. 115f.

  23. Erst nach den Anschlägen des 11. September 2001 sollte die Terrorismusbekämpfung zu einem zentralen Thema deutscher Außenpolitik werden, vgl. Knelangen (Anm. 11), S. 173f.

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ist Historikerin und Habilitationsstipendiatin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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