Erinnerung an das Olympia-Attentat 1972
Eine transnationale Spurensuche in Deutschland und Israel
Eitan M. Mashiah
/ 16 Minuten zu lesen
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Nach dem Anschlag in München 1972 wurden Trauer- und Solidaritätsbekundungen schon bald von politischen Differenzen verdrängt. Wie wird heute in Deutschland und Israel der Ereignisse und der Opfer gedacht?
"Advokaten der Kriminellen sagen uns, dass verzweifelte Menschen verzweifelte Maßnahmen ergreifen und dass die Palästinenser verzweifelt sind. Alle Rückschläge und Tragödien, die den Palästinensern widerfuhren, sind auf ihren Extremismus und ihre Realitätsblindheit zurückzuführen, ohne aus der Vergangenheit zu lernen. Jedes Problem ist im Namen des Friedens lösbar, einschließlich der palästinensischen Schwierigkeiten. Das israelische Volk und die israelische Regierung sind allen dankbar, die an unserer Trauer teilnahmen. Israel dankt denjenigen, die Besorgnis und Widerspruch gegen die Gräueltaten zum Ausdruck brachten. Diese Worte wurden mutig über die Grenze hinweg ausgesprochen, auch gegen die jubelnden Stimmen in den Hauptstädten der arabischen Welt, die versuchten, den Mord zu verherrlichen."
Dieser Auszug aus der Traueransprache Yigal Allons, des damaligen stellvertretenden israelischen Premierministers Israels, zeigt die Fassungslosigkeit der israelischen Regierung über den Ausgang einer schrecklichen Serie von Ereignissen, die sich wenige Tage zuvor in Deutschland zugetragen hatte. Zugleich ist seine Rede ein bislang wenig beachteter rhetorischer Meilenstein von zeitgeschichtlicher Bedeutung. Ihr Anlass war die vorzeitige Rückkehr der israelischen Olympiadelegation am 7. September 1972 von den Olympischen Sommerspielen in München – elf von ihnen kehrten in Särgen in ihre Heimat zurück. Die Geiselnahme israelischer Sportvertreter durch palästinensische Terroristen und ihr katastrophaler Ausgang, die Ermordung der elf unschuldigen Sportler und eines deutschen Polizisten, sind als "Münchner Olympia-Attentat" in die Weltgeschichte eingegangen. Es löste ein unmittelbares internationales Echo der Entrüstung und der Anteilnahme aus – ein medialisiertes Echo, das durch die unmittelbare Live-Berichterstattung im Fernsehen sowie durch internationale Printmedien einen globalen Resonanzkörper erhielt. Beide Ereignisse, die Unmittelbarkeit des audiovisuellen TV-Events wie auch die anschließende Berichterstattung, übersteigen in kommunikativer Hinsicht alles bis dato Dagewesene.
Die Bedeutung des Geschehens schlug sich neben der erwähnten medialen Berichterstattung auch in literarischen Produktionen nieder. Texte wie Serge Groussards "The Blood of Israel" (1975), David B. Tinnins "The Hit Team" (1976) oder George Jonas’ "Vengeance" (1984) bilden eine bis heute zitierte literarische Grundlage zu diesem Thema, auch für neuere Abhandlungen wie Ulrike Draesners "Spiele" (2007), Jean Matterns "September" (2015) oder Sherko Fatahs "Schwarzer September" (2019). Ohne auf ihren jeweiligen Wahrheitsgehalt einzugehen, ist diesen literarischen Werken gemein, dass sie nicht nur die umfangreiche Mythenbildung rund um dieses historische Ereignis nachhaltig begünstigten, sondern es auch für ein größeres Publikum erfahrbar machten. Nicht zuletzt führten diese schriftlichen kulturellen Transformationen zu audiovisuellen Adaptionen in TV-Dokumentationen, Doku-Dramen und Action-Spielfilmen, deren Narrationen auf den oben angeführten literarischen Texten beruhen. Dieses Wechselspiel zwischen Text und Film, zwischen Fakt und Fiktion, ist letztlich für die jeweilige deutende transkulturelle Rahmenerzählung verantwortlich. Dennoch ist gerade dies der Ausgangspunkt dafür, dass das historische Ereignis auf der transnationalen Wahrnehmungsebene der zurückliegenden 50 Jahre immer wieder neu überliefert und inszeniert wurde – ein Umstand, der das Münchner Olympia-Attentat als historisches Ereignis fundamental von anderen Gewalttaten abhebt und dazu beiträgt, dass es bis heute kaum etwas von seiner Aktualität verloren hat. Dieser Kontext birgt jedoch zugleich ebenfalls ein Konfliktpotenzial, durch das die beteiligten Interessengruppen in einem aktiven transnationalen erinnerungspolitischen Diskurs stehen.
So wurde das internationale Echo der Trauer und der Entrüstung als Reaktion auf die tödliche Geiselnahme sowie die mündlich wie schriftlich zugesicherte Solidarität rasch durch transnationale politische und gesellschaftliche Barrieren gebrochen. Die Gewaltaktionen der palästinensischen Gruppierungen infolge der Münchner Ereignisse und seiner Nachwirkungen wurden international zunehmend als probates Mittel der "palästinensischen Frustration und Verzweiflung" definiert und insofern entschuldigt. Nicht selten wurden in diesem Kontext Opfer zu Tätern gemacht, etwa, wenn israelischen Vertretern vorgehalten wurde, den Terror nach München gebracht zu haben. Im Schatten der politischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen haben sich im Verlauf der vergangenen 50 Jahre in beiden von diesem historischen Ereignis primär tangierten Ländern, Deutschland wie Israel, unterschiedliche Erinnerungsprozesse entwickelt, von denen im Folgenden insbesondere die aktuellsten Entwicklungen näher beleuchtet werden.
Meine Analyse der transnationalen Spurensuche "Münchner Olympia-Attentat" basiert auf dem "Travelling Memory"-Ansatz der Kulturwissenschaftlerin Astrid Erll. Dieses Konzept, zu Deutsch "Wandergedächtnis", ist eine Weiterführung des Axioms über das "transkulturelle Gedächtnis", das seit 2010 im Bereich der Gedächtnisforschung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Der sogenannte transcultural turn beschreibt vor dem Hintergrund transnationaler Verschränkungen die wissenschaftliche Annahme, dass das Produkt "kollektiver Erinnerung" nicht mehr nur ausschließlich das Produkt begrenzter "Kulturen", begrenzter "sozialer Gruppen" sei, die traditionell als Nationalkulturen definiert sind. Das transkulturelle Gedächtnis ist vielmehr bestimmt durch die Bewegung und Unschärfe des Gedächtnisses in Kulturbereichen und der mit diesen assoziierten sozialen Gruppen. Durch die vielfachen diachronen Bewegungen in analogen wie digitalen Räumen und Zeiten sowie die inkorporierten Verknüpfungen und Vermischungen von Erinnerungen vereinnahmen transkulturelle Gedächtnisräume wie das Münchner Olympia-Attentat die – teilweise diametral gegensätzlichen – Erinnerungen der beteiligten Erinnerungsakteure.
Ereignisse und Folgen
Die Chronologie der Ereignisse darf trotz ihrer vielen Leerstellen in Grundzügen als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Geiselnahme vordergründig dem Zweck diente, die Freilassung von in Israel inhaftierten palästinensischen Gefängnisinsassen zu erzwingen. Nur durch Glück im Unglück konnten die Geiselnehmer lediglich 11 der 27 Mitglieder der israelischen Delegation in ihre Gewalt bringen. Es entwickelte sich ein 18-stündiger von internationalen Medien begleiteter Verhandlungsmarathon, der sich in der Connollystraße vor Haus 31 des Olympischen Dorfes zwischen den Terroristen und dem Krisenstab abspielte. Am Ende aber versagte das Krisenmanagement auf furchtbare Weise, und ein Showdown zwischen Geiselnehmern und Polizei auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck endete mit dem Tod von neun Geiseln – zwei waren bereits zu Beginn der Geiselnahme im Olympischen Dorf ermordet worden –, eines Polizisten sowie fünf der acht Terroristen.
Der israelischen Seite waren affektive und internationalisierte Gewaltaktionen gegen jüdische und israelische Einrichtungen sowie Unterstützer längst bekannt. Aktionen palästinensischer Terrorgruppen – wie die Entführung von vier Passagierflugzeugen der Gesellschaften TWA, Swissair, Pan Am und BOAC am 6. September 1970 mit der anschließenden Sprengung vor laufenden Kameras auf dem Dawson’s Flugfeld in Zarqa, Jordanien, eine Woche darauf – waren letztlich eine der wesentlichen Grundlagen für die Entscheidung der israelischen Regierung, Terroristen keine Zugeständnisse zu machen. Dieser Umstand war den Drahtziehern um Abu Daud und Abu Ijad sehr wohl bekannt – ihnen ging es vielmehr darum, die Medialität der Münchner Spiele zu nutzen und die Weltgemeinschaft auf die palästinensische Situation aufmerksam zu machen.
Eine vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt versprochene Untersuchung der Vorgänge nach der Tragödie sprach die Verantwortlichen des Krisenstabs von jeglicher Schuld frei. Personelle Konsequenzen wurden nie gezogen, im Gegenteil: Die Mitglieder des Krisenstabs wiesen jegliche Verantwortung von sich, mit der Hauptbegründung, dass die Geiseln "durch die Entscheidung der israelischen Regierung" bereits dem Tode geweiht gewesen seien. Die Münchner Spiele wurden schließlich nach einer emotionalen Trauerfeier in reduzierter Form fortgesetzt, getreu dem von IOC-Präsident Avery Brundage ausgegebenen Motto "The games must go on!" Trotz des massiven Widerstands der israelischen Regierung beugten sich die Bundesregierung und die bayerischen Behörden aber letztlich dem Terror: Die Entführung der Lufthansa-Maschine LH 615 am 29. Oktober 1972 führte zum Austausch der drei noch lebenden Attentäter. Am Ende desselben Jahres wurde Israel vom Olympischen Organisationskomitee (OK) gar zu den eigentlichen Siegern der Münchner Spiele gezählt, wie aus dem Fazit seiner Abschlusssitzung hervorgeht, weil ihm "durch die Ermordung der Teammitglieder international große Sympathiewerte zugekommen" waren. Darüber hinaus war sich das OK 1973 sicher, dass das Ereignis – wenn überhaupt – nur eine geringe transgenerationelle Bedeutung erfahren würde.
Die Bundesregierung wie auch die israelische Regierung veranlassten unmittelbar nach dem Olympia-Attentat komplexe Anti-Terror-Aktionen. Dabei wurden die deutschen Abschiebemaßnahmen von sich in Westdeutschland befindlichen Arabern wie auch die israelischen Maßnahmen durch narrative Rahmungen in den Medien beider Länder begleitet. Es lässt sich feststellen, dass Schlagzeilen wie "Israelis überfallen Palästinenser-Lager" dazu geeignet waren, die Wahrnehmung der Rezipienten nachhaltig zu Gunsten der palästinensischen Seite zu beeinflussen.
Motive und Bilder
"Wenn die Welt nicht bereit ist, über das Schicksal der Palästinenser nachzudenken, dann wird der Welt dasselbe Schicksal, das die Palästinenser erlitten haben, nicht erspart bleiben." So schrieb der palästinensische Politiker Abdallah Frangi in den 1980er Jahren über die Entstehung der Terrororganisation "Schwarzer September", die sich zur Münchner Aktion bekannt hatte. Aus dieser Aussage lassen sich drei wesentliche Motivationen für die Ausführung des Olympia-Attentats ableiten:
Zunächst diente die Geiselnahme primär weniger der einstweiligen Verortung des entsprechenden physischen Gewaltaktes, sondern dazu, dass dieser in "einem visuellen Rahmen" möglichst zeitgleich in den jeweils gängigen Massenmedien in die ganze Welt übertragen wurde. Daraus erwuchs das Ziel, wie auch Frangi andeutet, die Zuschauer unmittelbar in die Ereignisse zu involvieren und nachhaltig zu schockieren. Auf diese Weise tritt der psychologische Effekt ein, dass die Hilflosigkeit der Betroffenen zur Selbstwirksamkeit der Ausführenden wird. Die soziokulturelle Wirkmächtigkeit der bewegten und bewegenden Bildsequenzen, die sogenannten Bildikonen, sind gerade im Kontext des Olympia-Attentats von zentraler Bedeutung, schaffen sie doch durch die von ihnen ausgehende Symbolwirkung einen nachhaltigen generationsübergreifenden Wiedererkennungswert. Dies gilt insbesondere für das Bild des vermummten Geiselnehmers auf dem Balkon des Appartements in der Connollystraße, das sich im globalen visuellen Gedächtnis festgesetzt hat. Es ist das sich stets wiederholende Motiv jenes Tages, das bei den Zuschauern damals wie heute ein "vages Gefühl der Bedrohung und Beklemmung" erzeugt.
Ein weiterer zentraler Beweggrund ist, dass es Jassir Arafat, Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender der Fatah, der der Schwarze September als Unterorganisation nominell angehörte, auch darum ging, seine Führungsposition innerhalb seiner Partei sowie darüber hinaus die Führungsrolle der Fatah innerhalb der Dachorganisation der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zu stabilisieren. Die Fatah war und ist zwar die größte Partei innerhalb der PLO, jedoch ist ihr Führungsanspruch zu keiner Zeit unbestritten gewesen. In diesem Zusammenhang kann die zeitliche Parallelität der erwähnten Flugzeugentführungen herangezogen werden. Diese gingen auf das Konto der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), was ihr Ansehen und Unterstützung unter der Bevölkerung sicherte. Die Medienwirksamkeit der Münchner Aktion verlagerte die öffentliche Meinung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft schließlich wieder ein Stück weit zugunsten der Fatah und ihrer Vertreter. Auch der Umstand, dass durch das Olympia-Attentat und nachfolgende Terroranschläge die sich abzeichnende politische Entspannung zwischen Israel und einer Reihe von arabischen Staaten wie dem Libanon oder Ägypten nachhaltig gestört wurde, sollte nicht außer Acht gelassen werden. Eine solche Entwicklung galt es für die PLO zu verhindern, da sich dies nachteilig auf ihre Stellung in diesen Ländern ausgewirkt hätte. Die Führungsrolle der Fatah und Arafats war insofern nötig, um die konkurrierenden Fraktionen nach außen zu einen und als legitimer Vertreter palästinensischer Interessen anerkannt zu werden – was Arafat im Laufe der nachfolgenden Jahre auch gelingen sollte.
Ein letzter Hintergrund liegt im Narrativ der palästinensischen Vertreter: Jahrzehntelang wurde immer wieder betont, dass die als Affront aufgefasste ausgebliebene Antwort des IOC auf die Frage nach der Teilnahme einer palästinensischen Mannschaft bei den Münchner Spielen ein wesentlicher Anlass der Münchner Aktion war. Die genauen Umstände der nachträglich konstruierten Rechtfertigung liegen im Dunkeln, jedoch finden sich in der Autobiografie des PLO-Spionagechefs Abu Iyad Anhaltspunkte, die auf eine ernsthafte Verstimmung der PLO gegenüber dem IOC deuten: "Anfang 1972 schickte die PLO einen offiziellen Brief an das Komitee der Olympischen Spiele, in dem sie vorschlug, dass ein Team palästinensischer Athleten an den Spielen teilnehmen sollte. Da keine Antwort kam, wurde ein zweiter Brief verschickt, der ebenfalls nur höhnisches Schweigen hervorrief. Es war klar, dass wir für diese ehrenwerte Institution, die behauptet, unpolitisch zu sein, nicht existierten oder schlimmer noch, es nicht verdienten, zu existieren." Der Grund für die ausgebliebene Antwort ist jedoch eher in den Regularien des IOC begründet, die zum 1. Januar 1952 die Körperschaft des Nationalen Olympischen Komitees Israel als Nachfolger des 1948 erloschenen Olympischen Komitees Palästinas sahen, da sich zu dieser Zeit die palästinensischen Organisationen nicht auf den Teilungsplan der Vereinten Nationen verständigen konnten und sich als einzige rechtliche Nachfolger sahen.
Mit der Ermordung der israelischen Delegationsmitglieder wurde dem israelischen Sport nachhaltig schwerer Schaden zugefügt. Schwerwiegender jedoch ist seither das Imageproblem israelischer Mannschaften bei internationalen Turnieren. Die unverhohlene Kritik am israelischen Staat und am anhaltenden Konflikt mit den Palästinensern hat zu einer anhaltenden Isolation geführt, getragen von dominierenden arabischen Staaten. Ausschlüsse und Boykotte werden hierbei meist durch Sicherheitsargumente bemäntelt, wie bei Israels Ausschluss von den Asian Games 1981.
50 Jahre Erinnerung
Beide durch das Olympia-Attentat tangierten Staaten, Deutschland und Israel, haben über die vergangenen fünf Jahrzehnte in dynamischen, stets variierenden Konstellationen von zum Teil transnationalen Interessengruppen den Ereignissen von München und damit auch den Opfern Denkmäler gesetzt. In Israel hat sich die Terminologie der "Elf Opfer von München" rasch im kollektiven Gedächtnis etabliert. Die Erinnerungsformen, die sich aufs ganze Land verteilt finden, variieren stark: So wurden neben traditionellen plastischen Denkmälern auch Bäume gepflanzt, Straßen, Plätze, Fitnessräume, Stadien und Synagogen nach den Opfern benannt sowie Briefmarkenserien herausgegeben. Zudem wurden nationale wie internationale sportliche Wettkämpfe und Turniere im Gedenken an die Opfer ausgerichtet. Diese Form der aktiven Erinnerung geht auf die unmittelbaren erinnerungspolitischen Dynamiken der Jahre 1972 bis 1977 zurück, in denen die einzelnen Interessenverbände sportliche Wettbewerbe als eine Form des aktiven, transitiven Erinnerns für die jeweiligen Vertreter etablierten.
Die derzeit aktuellste Form des Erinnerungsträgers im Andenken an die Münchner Opfer ist das neue Gemeinschafts- und Sportzentrum der Stadt Or Yehuda, das zum 50. Jahrestag am 5. September 2022 eingeweiht werden soll, aber bereits für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Die Besonderheit der den "Elf Opfern von München" gewidmeten Sporthalle ist, dass sie letztlich ein Hybrid der vorhergenannten Erinnerungsformen darstellt: Denkmal und sportlich-aktiver Rahmen. Eine gläserne Gedenktafel im Foyer umfasst neben den Namen und Fotos der Opfer auch eine Kontextualisierung. So dienen die Opfer des Münchner Massakers emblematisch als Namensgeber, da "dieses Ereignis (…) heute, Jahrzehnte nach dem Vorfall, aufgrund der Umstände seines Geschehens (…) während des wichtigsten Sportereignisses als einer der bekannten Terrorakte [gilt]. Damit die Erinnerung an dieses Ereignis auch in der nächsten Generation präsent bleibt, (…) [wird] das Gedenken an die Opfer durch eine Sporthalle [gefördert], die der Jugend der Stadt über Generationen dienen wird." Der hybride Charakter dieses Erinnerungsortes wird zudem durch einen QR-Code auf der Tafel erweitert. Dieser ist der Übergang zu einer (geplanten) digitalen Informations- und Gedenkplattform.
In Deutschland wurde dem Olympia-Attentat über drei Jahrzehnte hinweg mit einer Gedenktafel in der Connollystraße 31 gedacht. Durch erinnerungspolitische Dynamiken in den 1990er Jahren wurde dieser Rahmen zunächst 1995 durch den sogenannten Klagebalken, ein im Münchner Olympiapark eingeweihtes Mahnmal des Künstlers Fritz König, und schließlich 1999 durch die Gedenkstätte des Bildhauers Hannes L. Götz am Fliegerhorst Fürstenfeldbruck erweitert. Weitere Bezugspunkte auf lokaler wie überregionaler Ebene sind museale Ausstellungen in verschiedenen Museen, die sich mit dem Attentat als historischen Meilenstein der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte befassen. Doch erst zum 45. Jahrestag 2017 wurde der auffälligere Erinnerungsort Münchner Olympia-Attentat im Münchner Olympiapark eingeweiht. Auch dieser Erinnerungsort ist letztlich ein Hybrid, der Denkmal, Museum und Gedenkstätte in sich vereint. Der in einen Hügel des Münchner Olympiaparks geschnittene und ganzjährig geöffnete multimediale Gedenkraum besteht aus zwei miteinander verbundenen Elementen: auf der einen Seite aus einem etwa 30 Quadratmeter großen Bildschirm, auf dem in Endlosschleife eine zehnminütige audiovisuelle Videoinstallation mit historischem Filmmaterial die Ereignisse des 5. und 6. September 1972 in Szene setzt. Diese Filmaufnahmen sind in einen sensiblen narratologischen Rahmen eingefügt, der ebenfalls partiell Vor- und Nachgeschichte des Olympia-Attentats vermittelt. Das korrespondierende Element hierzu ist die zweiseitige Erinnerungsstele, die auf der einen Seite sieben und auf der anderen Seite fünf der insgesamt zwölf Opferbiografien zeigt – und damit auch die Biografie des bei dem Versuch der Geiselbefreiung ums Leben gekommenen deutschen Polizisten einschließt. Bemerkenswert sind vor allem die bildhaft wiedergegebenen persönlichen "Artefakte", die jeder Opferbiografie zugeordnet sind und den Besuchern einen weiteren emotionalen Zugang ermöglichen sollen. Über einen freien Internet-Hotspot wird zudem ein erweitertes Informationsangebot auf einer Website des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung zugänglich gemacht. Der Münchner Erinnerungsort Olympia-Attentat 1972 ist somit eine wichtige Ergänzung zu den Erinnerungsclustern am authentischen Ort der Geiselnahme.
Erinnerungsort Münchner Olympia-Attentat auf dem Olympiagelände
Doch sind auch hier weitere Entwicklungsprozesse für den Ort Fürstenfeldbruck im Gang, diesen bislang nicht zugänglichen authentischen Ort zum 50. Jahrestag in Form eines digitalen Erinnerungsortes für eine breite Öffentlichkeit begeh- und erfahrbar zu machen. Die Basis dieses interaktiven medialen Erinnerungsortes wird laut offiziellen Ankündigungen ein multimedial aufbereitetes 3D-Modell des alten Towers sein, um den sich die Besucher digital bewegen und aktiv in die Geschehnisse eintauchen können. Dies wird durch eine Vielzahl von audiovisuellen Bausteinen sowie neu ausgewertetes Archivmaterial ermöglicht. Besondere Aufmerksamkeit liegt auch hier einmal mehr auf den zum Teil wenig bekannten Berichten von Zeitzeugen, die damals in die Geschehnisse involviert waren. Auch sollen problematische Themenfelder der Vor- und Nachgeschichte, wie die lange Zeit nicht erhörten Forderungen der Hinterbliebenen nach Aufklärung und finanzieller Entschädigung, hier nicht ausgespart werden. Klar herausgestellt wird in der Konzeption, dass der digitale Erinnerungsort den authentischen Ort nicht ersetzen, sondern digital erweitern soll, insbesondere solange er aufgrund seiner derzeitigen militärischen Nutzung bis 2026 nicht öffentlich zugänglich ist. Das komplexe interaktive Angebot richtet sich vor allem an Jugendliche und ist in diesem Kontext als zusätzliches Bildungsangebot konzipiert, das daher auch ohne direkten Ortsbezug auskommt. Medientechnologien dieser Art werden insofern zu einem integralen Bestandteil der Erinnerungskultur, als sie der Beziehung zwischen dem jeweiligen Individuum, den jeweiligen audio-visuellen Erinnerungsformen und dem singulären "authentischen Ort" eine weitere Dimension hinzufügen.
Fazit
Das Olympia-Attentat von 1972 war anders als etwa 9/11 kein grundlegender "Wendepunkt" der Zeitgeschichte, es kann nicht einmal als epochales Ereignis betrachtet werden. Dennoch nimmt es in diachroner transkultureller Wahrnehmung der nicht nur durch dieses Ereignis miteinander verbundenen Nationen Deutschland und Israel einen ganz speziellen Platz ein. Schwer wiegen das Trauma, die Wut und die Frustration bei den wortführenden Vertreterinnen der Hinterbliebenen. Sie mussten sich für das Gedenken an ihre Ehemänner, Väter und Brüder einem fünf Jahrzehnte dauernden Kampf um Anerkennung und Entschädigung aussetzen – einem Kampf, der immer noch andauert. Schwer wiegt auch das Resultat der Isolation Israels basierend auf dem anhaltenden Konflikt mit palästinensischen Interessengruppen, deren Vertreter ihrerseits das Münchner Olympia-Attentat nach wie vor als "Qualitätsoperation" bezeichnen und es somit auch nach 50 Jahren noch verherrlichen, wie damals schon Yigal Allon bei der Trauerfeier kritisiert hatte.
Damit nicht genug, sie forcieren zudem die Isolation Israels im Sport, indem sie öffentlichkeitswirksam Israels Ausschluss von internationalen sportlichen Dachorganisationen fordern oder auch über andere vorrangig arabische Länder den sportlichen Boykott israelischer Mannschaften und Sportler in internationalen Wettkämpfen begrüßen. Dabei, so zeigt die israelische Erinnerungskultur rund um die Wahrnehmung des Olympia-Attentat-Komplexes, sind es vor allem sportliche Aktivitäten, die im Zentrum der israelischen Erinnerungspraktiken stehen. Es ist hier die aktive Teilnahme an einem identitätsstiftenden öffentlichen Gedenken, die als Brücke zwischen Individuum und Gemeinschaft fungiert, die nun auch mit einer digitalen Komponente untermauert wird.
Demgegenüber steht die deutsche Erinnerungskultur mit ihren vorrangig museal eingebetteten physisch-statischen wie audiovisuellen Denkmälern, die nun im Münchner Erinnerungsort von Fürstenfeldbruck um eine interaktive Komponente erweitert werden. Der Schritt hinein in die digitale Erinnerungslandschaft hat das Potenzial, institutionalisiertes Gedenken durch die interaktive Integration der transkulturellen Öffentlichkeit zu erweitern und trivial anmutende Gedenkrituale mit nachhaltiger Wertigkeit zu füllen.
ist Historiker und promoviert derzeit an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie der Freien Universität Berlin über das deutsche und israelische Gedenken an das Olympia-Attentat. E-Mail Link: eitanmarcmashiah@gmail.com