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The Games Must Go On | München 1972 | bpb.de

München 1972 Editorial Triumph und Terror. Olympia 1972 und das neue Deutschland Schwarzer September. Aufstieg des internationalen Terrorismus "Die Ereignisse des 5. Septembers". Die DDR und der Anschlag von München 1972 Terrorismusbekämpfung nach Olympia. Reaktionen des Bundesministeriums des Innern auf das Attentat von 1972 Erinnerung an das Olympia-Attentat 1972. Eine transnationale Spurensuche in Deutschland und Israel Plötzlich im Mittelpunkt. Palästinenser in der Bundesrepublik und der Anschlag 1972 in München The Games Must Go On. Chronologie der olympischen Kommerzialisierung seit 1972 Wir bauen das moderne Deutschland. Olympia 1972 im Spiegel der Architektur- und Stadtentwicklung

The Games Must Go On Chronologie der olympischen Kommerzialisierung seit 1972

Ronny Blaschke

/ 16 Minuten zu lesen

München hat Olympia entscheidend modernisiert. Ab 1972 werden die Spiele professioneller und medienpräsenter. Die Kehrseite: eine gigantische Kommerzialisierung, von der viele profitieren, oft aber gerade nicht die ausrichtenden Städte.

Die Organisatoren der Olympischen Spiele wollten in München auch das Wachstum ihrer Bewegung in den Vordergrund stellen. Bei den Spielen 1960 in Rom hatten rund 5.300 Athlet*innen aus 83 Nationen teilgenommen, 1972 waren es 7.200 Sportler*innen aus 121 Ländern. Aus Rom berichteten 2.200 Journalist*innen, aus München mehr als doppelt so viele. Von den Spielen 1960 wurden Fernsehbilder in 21 Ländern übertragen, 1972 waren es 98 Staaten.

Die Kommerzialisierung Olympias nahm in München Fahrt auf, und schon damals zeigte sich ihre katastrophale Kehrseite. Im Austausch mit Walther Tröger, dem Bürgermeister des Olympischen Dorfes, verweigerte der Anführer der Terroristen, die am 5. September in das Dorf eingedrungen waren, nicht nur die Freilassung der israelischen Geiseln. Zugleich bedankte er sich bei der Bundesrepublik für die Austragung der Spiele und für die große internationale Bühne für das "palästinensische Anliegen". Bald darauf waren elf Mitglieder der israelischen Mannschaft tot.

"The games must go on." Mit diesem Satz ging Avery Brundage, der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), in die Geschichte ein. Es ist ein Satz, der Olympia bis in die Gegenwart begleiten sollte. Die Sommerspiele sind in den vergangenen 50 Jahren zu einem der größten Unterhaltungsprodukte weltweit herangewachsen. Von diesem Produkt profitieren Politik, Wirtschaft und Medien. Doch es kann auch großen Schaden anrichten: für Klima, Wirtschaft und sozialen Frieden.

Raus aus den Schulden

Besonders deutlich wurde das rund um die Spiele 1976 in Montréal. Der Bürgermeister der Stadt, Jean Drapeau, ein frankokanadischer Nationalist, wollte mithilfe des Sports den Dienstleistungssektor und den Tourismus entwickeln. Drapeau warb für günstige Wettbewerbe, seine Verwaltung schätzte die Kosten anfangs auf 150 Millionen US-Dollar.

Doch dann zeigte sich ein Muster, das sich oft wiederholen sollte. Die Ausgaben stiegen – und viele Ursachen dafür waren selbst verschuldet. Das Olympische Dorf und etliche Sportstätten in Montréal wurden zum Teil ohne Ausschreibung und ohne ausreichende Aufsicht geplant und gebaut. Das Olympiastadion sollte mit einem ausfahrbaren Dach, mit neuartigen Materialien und einem futuristischen Turm in die Architekturgeschichte eingehen. Stattdessen verzögerten sich die Vorbereitungen, und die Kosten explodierten.

Im Jahr vor den Spielen schritt die Regierung der Provinz Québec ein und überstimmte das Rathaus von Montréal, die Arena wurde in reduzierter Form fertiggestellt. Doch nicht alle Etatausgaben waren vermeidbar: Anfang der 1970er Jahre hatten frankokanadische Separatisten Anschläge verübt und so wurde der Schutz vor Olympia ausgeweitet. Letztlich erhöhten sich die Kosten für die Spiele auf zwei Milliarden Dollar, fast 13 Mal so viel wie vorgesehen. Die Schulden waren erst 2006 komplett abgetragen.

Montréal war künftigen Gastgebern eine Warnung, das spürte man auch vor den Spielen 1984 in Los Angeles. Die USA waren durch den Kalten Krieg und wachsende soziale Ungleichheit geprägt. Der republikanische Präsident Ronald Reagan stärkte das Militär und wickelte Sozialprogramme ab. In seinen Reden über den Rückbau staatlicher Strukturen ließ er Olympia einfließen, etwa gegenüber Angestellten eines Elektrokonzerns: "Vielleicht können wir uns unsere Athleten zum Vorbild nehmen. Statt Risikobereitschaft zu hemmen und Erfolge zu bestrafen, statt Steuern zu erhöhen, lassen Sie uns nach Wachstum streben, und lassen Sie uns nach Gold streben."

Los Angeles und Kalifornien überließen die Olympischen Spiele dem freien Markt, der Staat sollte geschont werden. In ihrer Sponsorenauswahl folgten die Gastgeber der Richtung des Weltfußballverbandes Fifa für dessen Turniere. Für jeden Produktbereich – zum Beispiel Technik, Autobau oder Schnellimbiss – engagierten sie nur je einen Konzern. Der Wettbewerb führte zu hohen Einnahmen, so zahlte Coca-Cola als Marke für das "offizielle Erfrischungsgetränk" zwölf Millionen US-Dollar.

Die Organisatoren von Los Angeles beschleunigten die Kommerzialisierung und entwickelten lukrative Verfahren, an die sich auch nachfolgende Gastgeber hielten. Ob Fackellauf oder Fan-Utensilien, ob Rubbellose oder begleitende Popmusik: Fast jeder Akt der olympischen Dramaturgie wurde mit einem Sponsor zu Geld gemacht. Der Verkauf der Fernsehrechte spielte für Los Angeles weitere 300 Millionen Dollar ein, mehr als alle TV-Einnahmen früherer Spiele zusammen. So erwirtschaftete das IOC mit Los Angeles einen Überschuss von 220 Millionen Dollar. Auch auf anderen Kontinenten wollten Metropolen nun von der strahlenden Bühne Olympia profitieren, ökonomisch wie politisch.

Sport und Gewaltherrschaft

Südkorea hatte seit den 1960er Jahren unter der autoritären Regentschaft des Generals Park Chung-hee einen gewissen Wohlstand erarbeitet. Die Olympischen Spiele 1988 in Seoul sollten den nächsten Schritt auf dem Weg zur Industrienation markieren. Die Regierung investierte 4 Milliarden Dollar in Sportstätten, sie ließ U-Bahnen bauen, Telefonkabel verlegen, die Kanalisation erneuern. Mehr als 50.000 freiwillige Helfer*innen meldeten sich. Doch eine beachtliche Zahl an Südkoreaner*innen wollte den Fokus auf andere Themen lenken, auf die Einführung freier Wahlen, auf Initiativen für bessere Bildung und den Bau bezahlbarer Wohnungen.

Schon in den 1980er Jahren blickten die Herren der olympischen Ringe auf eine lange Geschichte von Protesten zurück, viele davon wurden gewaltsam unterdrückt. Ein eindringliches Beispiel war Mexico City vor den Spielen 1968. Tausende Studenten protestierten dort gegen Korruption und Medienzensur der Regierungspartei PRI, so auch wenige Tage vor den Olympischen Spielen im Stadtteil Tlatelolco. Sondereinheiten schossen von Dächern in die Menge, mehr als 200 Menschen starben. Die Regierung und das IOC lehnten detaillierte Stellungnahmen ab. Ein Muster wurde auf Jahrzehnte hinaus gefestigt: Sporteliten und Gewaltherrschaft halten zusammen.

Auch in Seoul ging das Regime gegen Proteste vor, mehr als 300 Menschen kamen Mitte der 1980er Jahre dabei ums Leben. Das Regime verschob Verfassungsreformen auf die Zeit nach Olympia. Die wachsende Zivilgesellschaft wollte das nicht akzeptieren und organisierte Demonstrationen. Während der Spiele ließ die Regierung öffentliche Plätze und Parks in Seoul streng überwachen, doch die Demokratisierung Südkoreas war nicht mehr aufzuhalten.

Ende der 1980er Jahre waren die Olympischen Spiele als Festival der Jugend etabliert, doch das Interesse von Medien und Menschenrechtsorganisationen war bei Weitem nicht so groß wie heute. Themen wie Rassismus, Doping oder Korruption im Sport erzeugten noch keine weltweiten Schlagzeilen. Und so konnte der spanische Multifunktionär Juan Antonio Samaranch die olympische Bewegung relativ unbehelligt auf das neue Jahrtausend vorbereiten. Samaranch stammte aus einer Familie, die es in der Textilindustrie zu Wohlstand gebracht hatte. Während der Franco-Diktatur war er als Banker und Regionalpolitiker tätig gewesen. Im Umfeld des Sports knüpfte er Kontakte zu Sponsoren, Funktionären und den Nationalen Olympischen Komitees. So legte er das Fundament für seine IOC-Präsidentschaft zwischen 1980 und 2001.

Für die Kommerzialisierung war Samaranch eine zentrale Figur. Er wickelte das romantisierende Ideal des Amateursportlers ab, fortan durften bei Olympia auch betuchte Profis aus Basketball oder Tennis an den Start gehen. Zudem gewährte er multinationalen Sponsoren größere Privilegien und lagerte den Verkauf der TV-Rechte an Marketingagenturen aus. Gleichzeitig brachte er Programme für Entwicklungsländer auf den Weg und sicherte sich damit Stimmen für seine Wiederwahlen. Samaranch ließ sich auf Reisen wie ein Staatsoberhaupt behandeln. Doch zu kontroversen Themen seiner Zeit – Kalter Krieg, Apartheid oder Ein-China-Politik – vermied er klare Positionierungen.

Einbindung und Ausgrenzung

So galten die Olympischen Spiele zumindest nach dem Ende des Kalten Krieges noch eine Weile als politisch unverdächtige Show. Aus den immerhin sechs Bewerbern für die Sommerspiele 1992 ging Barcelona als Sieger hervor. 9.300 Athlet*innen aus 169 Nationen nahmen teil, 13.000 Medienschaffende waren akkreditiert – Olympia stieß in neue Dimensionen vor. Das galt auch für die Gesamtkosten in Höhe von fünf Milliarden Dollar. Allerdings wurden diese durchaus nachhaltig investiert: in die Modernisierung von Flughafen, U-Bahnen und Hafenviertel, in Parks, Radwege und Sporthallen. Olympia erleichterte der einst grauen Industriestadt Barcelona den Weg zu einem Standort für Dienstleistungen und Tourismus.

Barcelona und die junge spanische Demokratie zeigten auch, wie wichtig die frühzeitige Einbindung oppositioneller Gruppen ist. Rund um die Spiele konnten sich katalanische Unabhängigkeitsbefürworter*innen präsentieren. Das Katalanische wurde vorübergehend als eine offizielle Sprache des IOC eingestuft, und der spanische König Juan Carlos begann seine Eröffnungsrede im Olympiastadion auf Katalanisch. So gab es während der Spiele weniger Proteste von katalanischen Separatist*innen als erwartet.

Doch die olympische Bewegung folgt keiner linearen Entwicklung zum Besseren, bereits die Gastgeber von Atlanta 1996 hielten von Bürgerbeteiligung wenig. Der US-Bundesstaat Georgia und seine Hauptstadt betrachteten Olympia als Modernisierungsprogramm für Flughafen, Messezentrum und Umgehungsstraßen in wohlhabende Vororte; und natürlich als Werbebühne für Coca-Cola, dessen Firmensitz Atlanta ist.

Fast die Hälfte der Einwohner*innen Atlantas war in den 1990er Jahren von Armut bedroht, die allermeisten von ihnen Afroamerikaner*innen. Für den Bau der Sportstätten mussten Hunderte Sozialwohnungen weichen. Die Politik erließ strikte Verordnungen, die vor allem wohnungslose Menschen trafen. Betteln, Kampieren und Urinieren in der Öffentlichkeit wurden mit Strafgeld belegt. 30.000 Menschen wurden vor den Spielen aus dem Zentrum von Atlanta verdrängt. Martin Luther King III, der älteste Sohn des berühmten Bürgerrechtlers, war einer von wenigen, die zu Protest aufriefen.

Zur jüngeren Geschichte Olympias gehört auch, dass Gastgeber sich von ihren Vorgängern abheben wollen, vor allem in ihrer Symbolik. In Sydney 2000 entzündete die indigene Läuferin Cathy Freeman die olympische Flamme und lief über 400 Meter zu Gold. Dafür wurde sie weltweit als Symbolfigur gefeiert. Denn nach jahrhundertelanger Ausgrenzung hat sich der Zugang indigener Australier*innen zu Medizin, Bildung und Arbeitsmarkt durchaus verbessert, auch wenn es weiterhin eklatante Missstände gibt. Doch noch immer beschreiben etliche Medien den Erfolg indigener Vertreter*innen in Politik, Wissenschaft oder Sport als Sensation.

Freeman war sportlich erfolgreich, doch mit politischen Äußerungen hielt sie sich zurück. Denn immer wieder zeigt sich: Sportler*innen aus einer Minderheit werden von der Mehrheit nur akzeptiert, wenn sie ihre Minderheit nicht zum Thema machen. Alles andere würde die bevorzugte Erzählung von der "Völkerverständigung" im Sport, und damit auch die Vermarktung des Produktes Olympia, erheblich stören.

Symbol für geopolitischen Aufstieg

An der Schwelle zum neuen Jahrtausend erschloss das Produkt Olympia weitere neue Märkte. Die Spiele von Barcelona wurden in 160 Ländern übertragen, die Spiele von Sydney in rund 200. In Barcelona wurden fast vier Millionen Tickets für Wettkämpfe verkauft, in Sydney sieben Millionen. Elf Städte bewarben sich um die Sommerspiele 2004, den Zuschlag erhielt Athen. Mehr als 20.000 Medienschaffende reisten schließlich in die griechische Hauptstadt, und der Erlös der Fernsehrechte lag bei anderthalb Milliarden Dollar – mehr als doppelt so viel wie in Barcelona.

Die rasch angewachsenen Einnahmen führten indes zu einer höheren Anfälligkeit für Korruption. Das undurchsichtige Geflecht aus Sportfunktionär*innen, Marketingagenturen und Baukonzernen wurde zunehmend von Bestechungen und Machtmissbrauch geprägt. Als der öffentliche Druck das olympische Wachstum in Gefahr brachte, richtete IOC-Präsident Samaranch eine "Reformkommission" ein, unter anderem mit dem ehemaligen UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali und dem früheren US-Außenminister Henry Kissinger. Samaranch gab Versprechungen, die seine Nachfolger wiederholen sollten: eine Beschränkung des Gigantismus, eine bessere Kontrolle der Funktionär*innen, eine organisatorische Beteiligung der Athlet*innen. Einen Durchbruch gab es bis heute nicht.

Stattdessen wurde alles noch schlimmer. Vor den Spielen in Athen wollten griechische Baukonzerne, Zulieferer und Lokalpolitiker von Investitionen in einzigartigem Ausmaß profitieren. Sportstätten wurden überdimensioniert geplant und kaum auf ihre Nachhaltigkeit geprüft. Die Terroranschläge in New York und Washington 2001 sowie in Madrid 2004 ließen Sicherheitskosten für Sportgroßereignisse massiv steigen. Athen bat die Nato um Unterstützung und richtete für die Spiele eine Flugverbotszone ein. Mehr als 50.000 Menschen gehörten zum Sicherheitsaufgebot. Das Gesamtbudget für Olympia erhöhte sich auf 16 Milliarden Dollar, viermal so hoch wie kalkuliert. Olympia war ein weiterer Grund, warum die Finanzkrise ab 2008 Griechenland stärker belasten sollte als andere EU-Staaten.

In vielen westlichen Ländern wuchs die Skepsis gegenüber der olympischen Kostenfalle. In anderen Regionen aber betrachteten Regierungen Sportereignisse als Kennzeichen für ihren wirtschaftlichen und politischen Aufstieg. Im indischen Delhi nahmen 2010 rund 5.000 Athlet*innen an den Commonwealth Games teil. Im gleichen Jahr fand in Südafrika die erste Fußball-Weltmeisterschaft auf dem afrikanischen Kontinent statt. Brasilien war Gastgeber der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro. Russland trug die Winterspiele 2014 in Sotschi und die Fußball-WM 2018 aus. Rund um diese Wettbewerbe schlossen Regierungen verschiedene Handelsverträge ab, und Sponsoren aus Europa und den USA platzierten ihre Produkte auf Wachstumsmärkten.

Ein Fokus lag bald auf dem größten Markt schlechthin: China. Mit den Olympischen Sommerspielen 2008 in Beijing wollte die Volksrepublik unter Beweis stellen, dass sie nicht mehr bloß der günstige Produktionsstandort westlicher Massenwaren ist, sondern eigene Innovationen schaffen kann. Die Kommunistische Partei bewegte rund um die Spiele mehr als 40 Milliarden Dollar, unter anderem für die Erweiterung des Flughafens, für Autobahnen, Metros, Glasfaserkabel und Hunderte Hotels.

Die Spiele von Beijing markieren aber auch den Beginn einer breiteren Debatte über Menschenrechte im Sport. Jahrelang diskutierten vor allem deutsche, britische und US-amerikanische Medien über die Unterdrückung Tibets und die chinesische Beteiligung im Konflikt um die sudanesische Region Darfur. Mehr als eine Million Menschen sollen für olympische Bauvorhaben in Beijing umgesiedelt worden sein, viele gegen ihren Willen und ohne gleichwertigen Ersatz. Der olympische Fackellauf 2008 musste in Europa wegen Protesten bewacht und immer wieder umgeleitet werden. Nach anhaltender Kritik sicherte die chinesische Regierung während der Wettbewerbe kleinere Zonen für Demonstrationen zu, allerdings wurden diese dann kaum genutzt.

Wie so oft zuvor und danach wurden kritische Schlagzeilen durch die Emotionen des Ereignisses in den Hintergrund gerückt. Der chinesische Regisseur Zhang Yimou entwarf eine Eröffnungsfeier, die auf die alte Geschichte Chinas anspielte, aber dunkle Kapitel wie die Kulturrevolution ausklammerte. Massenchoreografien mit Tausenden Darsteller*innen wechselten sich mit Einzeleinlagen ab, etwa mit einer des Starpianisten Lang Lang. Einige Elemente wurden vorab mit Computertechnologie entwickelt und später in die Fernsehübertragung integriert. Dieses Spektakel, das die Kosten eines Hollywood-Films erreichte, wurde durch das traditionelle Medaillenzählen abgelöst. Der US-Schwimmer Michael Phelps gewann acht Goldmedaillen, und der jamaikanische Sprinter Usain Bolt brach mit zwei Siegen zu seiner großen Karriere auf.

Putins olympische Muskelspiele

Noch immer schien das Bedürfnis nach der sportlichen Bilderflut größer zu sein als die Empörung über profitorientierte Taktgeber bei Olympia. Mehr als 3,6 Milliarden Menschen verfolgten TV-Bilder von den Olympischen Spielen 2012 in London. 25.000 Journalist*innen waren vor Ort, fast alle Wettkämpfe waren ausverkauft. Es war wohl das letzte Mal, dass sich das IOC nicht regelmäßig für ausufernde Kosten und Umweltsünden rechtfertigen musste. London hatte für den Olympiapark eine teilweise kontaminierte Industriebrache im Osten der Stadt erneuern lassen. Sportarten wie Tennis, Reiten und Rudern wurden auf traditionsreiche Anlagen verteilt.

Doch nicht alle Pläne gingen auf. Die Olympia-Organisator*innen wollten die britische Bevölkerung mit Kampagnen zu einer gesünderen Lebensweise und zu mehr Bewegung im Alltag animieren. Doch nach 2012 stagnierte der Ausbau des Schulsports, viele Jugendeinrichtungen litten unter Sparmaßnahmen. Die Zahl der Brit*innen, die mindestens einmal pro Woche Sport treiben, sank bis 2020 um drei Prozent, auf gut ein Drittel. London untersuchte die Langzeitfolgen Olympias relativ genau. Kein anderer Gastgeber konnte diesen Standard seither erreichen.

Die nächste Olympia-Ausgabe, die Winterspiele 2014 in Sotschi, wirkte da wie ein Kontrastprogramm. Der russische Präsident Wladimir Putin führte der Welt vor, dass der Sport in Russland weniger dem Gemeinwohl dient als dem eigenen Machterhalt. Jahrelang hatte der Staatschef alte Weggefährten aus Geheimdienst und Staatsbetrieben in Vorstände internationaler Sportverbände geschickt. Als Sportsponsor ermöglichte der halbstaatliche Konzern Gazprom dem Kreml eine informellere Kommunikation mit westlichen Politikern jenseits klassischer Diplomatie, auch zu umstrittenen Pipelineprojekten wie Nord Stream 2.

Dieses Netzwerk ermöglichte Putin die Austragung großer Sportereignisse. Im Westen empörten sich Medien über Kosten von rund 40 Milliarden Dollar für die Winterspiele 2014 im milden Kaukasus. Etliche Regierungen schickten keine Vertreter nach Sotschi, um ein Zeichen unter anderem gegen die homophobe Gesetzgebung des Kremls zu setzen. In staatsnahen Moskauer Medien spielte das kaum eine Rolle, und so konnte sich Putin im Sport als zupackender Landesvater inszenieren. Und das im größten Land der Welt, das mit seinen rund Hundert Volksgruppen nach einer übergreifenden Identität sucht. Putin feierte Sotschi als Symbol für russischen Einfluss in der Welt. Wenige Wochen später annektierte er die Krim.

Wie so oft in der Geschichte des IOC fand dessen Präsident keine angemessenen Worte dazu. Der deutsche Jurist Thomas Bach, seit 2013 im Amt, hatte als Fechter 1976 selbst an den Olympischen Spielen in Montréal teilgenommen. Vier Jahre später in Moskau konnte er nicht dabei sein, weil sich die Bundesrepublik als Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 dem westlichen Boykott der Spiele anschloss. Bach knüpfte früh Kontakte in der Sportpolitik. Beim IOC gab er das Ziel vor, das kostenintensive Wachstum Olympias zu begrenzen. Die Spiele, so betonte er immer wieder, sollten nachhaltiger werden.

Polizeigewalt in Rio

Olympia 2016 in Rio de Janeiro führte diese Aussagen ad absurdum. Ursprünglich fühlte sich Brasilien durch den Erhalt der Spiele für den wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahrzehnte belohnt. Doch dann führte der Einbruch von Rohstoffpreisen zu einer langen Rezession. Zudem zeichnete sich ab, dass Hunderte Politiker, Unternehmer und Sportfunktionäre in einem Geflecht aus Bestechung, Veruntreuung und Geldwäsche rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras verwickelt waren. Diese Entwicklung trug insofern zur Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff bei und ebnete den Weg für den aktuellen Staatschef, den Rechtsextremen Jair Bolsonaro.

In diesem Umfeld hatten sich einige Baukonzerne die lukrativen Aufträge für Olympia gesichert. Die neue Metrolinie in Rio kommt eher wohlhabenden Stadtvierteln zugute. Wegen anhaltender Bauarbeiten und ausbleibender Kundschaft mussten kleinere Geschäfte schließen. Die angekündigte Reinigung von Stränden, Buchten und des Abwassersystems blieb aus. Stattdessen forcierte die Stadtverwaltung die Bekämpfung der Kriminalität in den Favelas. Rund um die Spiele 2016 stieg die Zahl afrobrasilianischer Männer, die durch Polizeikugeln getötet wurden, stark an.

Das IOC nahm in Rio rund 5,7 Milliarden Dollar ein, fast drei Viertel davon durch den Verkauf von Medienrechten. Doch wie so oft blieb der Gastgeber weitgehend allein auf Kosten sitzen, die auf 20 Milliarden Dollar beziffert werden. Nur wenige Sportstätten in Rio sind heute noch in Betrieb. Wegen der Schuldentilgung werden Krankenhäuser, Schulen und Polizei auf Jahre hinaus mit Budgetkürzungen leben müssen.

Diese Entwicklungen führten dazu, dass sich etliche Bevölkerungen und Regierungen in westlichen Demokratien gegen die Bewerbung für Olympia entschieden haben, so etwa in Boston, Oslo, Rom oder Toronto. Die Münchner*innen lehnten in einem Bürgerbegehren eine Bewerbung für die Winterspiele 2022 ab, die Hamburger*innen für die Sommerspiele 2024. Das IOC hingegen wollte die wenigen Interessenten aus dem Westen zügig an sich binden. Mit einem größeren Vorlauf als üblich wurden die Sommerspiele 2024 nach Paris, 2028 nach Los Angeles und 2032 ins australische Brisbane vergeben. Keine der Stadtverwaltungen hatte ein Referendum in den Entscheidungsprozess einbezogen.

Selbst während einer globalen Katastrophe wollte das IOC nicht auf Rendite verzichten. Für die Sommerspiele 2020 in Tokio hatten 60 japanische Unternehmen fast 2,5 Milliarden Dollar für Sponsoringrechte ausgegeben, nie zuvor hatte die Privatwirtschaft für Olympia so viel Geld aufgebracht. Der US-Sender NBC, der wichtigste Geldgeber des IOC, hatte für den Olympia-Sommer 2020 Werbezeit im Wert von einer Milliarde Dollar verkauft. Doch dann kam Corona.

Nach langem Zögern verschob das IOC die Spiele um ein Jahr. Doch 2021 musste der Notstand in Japan verlängert werden. Etliche Krankenhäuser meldeten Überlastung, die Impfkampagne ging nur langsam voran. In Umfragen sprachen sich bis zu 80 Prozent der Japaner*innen für eine Absage oder erneute Verschiebung der Spiele aus. Dennoch fanden die Spiele statt – ohne Zuschauer*innen in den neuen und aufwändig sanierten Sportstätten. Mehr als 50.000 Athlet*innen, Betreuer*innen und Journalist*innen durften sich nur in einer abgeriegelten Olympia-Zone mit eigenem Transportsystem bewegen.

Ähnlich waren die Bedingungen ein halbes Jahr später bei den Winterspielen 2022 in Beijing. Doch die internationale Kritik richtete sich auch auf andere Themen: die Unterdrückung der Uiguren in der Region Xinjiang, die Einschränkung der Pressefreiheit oder die Einschüchterung der Tennisspielerin Peng Shuai, die einen Parteifunktionär der Vergewaltigung bezichtigt hatte. Wieder war von den IOC-Funktionären kaum Kritik zu hören, stattdessen übernahmen sie die Narrative der Kommunistischen Partei. China, so hieß es, möchte mit den Spielen eine Wintersportindustrie aufbauen – mit rund 300 Millionen aktiven Wintersportler*innen und mittelfristig 800 neuen Skigebieten, die Allermeisten werden auf Kunstschnee angewiesen sein.

Olympische Ermüdung

Zwischen der Vergabe der Sommerspiele 2008 und den Winterspielen 2022 in Peking hat sich die Sportindustrie zunehmend auf China ausgerichtet. Im Zuge diverser Korruptionsskandale bei Fifa und IOC ging das Interesse westlicher Sponsoren zurück. Diese Lücke füllen nun chinesische Konzerne wie der Tech-Konzern Alibaba oder der Milchproduzent Mengniu Dairy. Zudem sind chinesische Investoren bei europäischen Fußballklubs wie Inter Mailand eingestiegen. Und in afrikanischen Entwicklungsländern bauen chinesische Firmen Dutzende Stadien und erleichtern Beijing so den Zugang zu dortigen Rohstoffen. China nutzt (ähnlich wie Katar, Gastgeber der Fußball-WM 2022, und die Vereinigten Arabischen Emirate mit ihren im Sport einflussreichen Fluglinien Emirates und Etihad) den Sport für Handel und den Aufbau von Soft Power.

Verbände, Sportartikelhersteller und viele TV-Rechteinhaber halten sich auch in anderen politischen Fragen mit Kritik zurück, weil sie ihr Geschäftsmodell nicht gefährden wollen. Doch in ihrer Umlaufbahn wächst eine Zivilgesellschaft heran, die es nicht mehr bei symbolischen Gesten belassen will: In den USA positionierten sich die Basketballerinnen von Atlanta Dream gegen Kelly Loeffler, eine Miteigentümerin ihres Klubs und Anhängerin von Donald Trump. In Chile, Kolumbien oder Algerien gingen Tausende Fußballfans gegen soziale Ungleichheit auf die Straße. Und in Myanmar erklärten prominente Sportler wie der Schwimmer Win Htet Oo einen Olympia-Boykott, aus Protest gegen den dortigen Militärputsch 2021.

Besonders sichtbar wurde der neue Aktivismus in Belarus. Dort hatte Diktator Alexander Lukaschenko lange auch das Nationale Olympische Komitee als Präsident angeführt. Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen 2020 unterschrieben mehr als 2.000 belarussische Sportler*innen einen offenen Brief gegen Lukaschenko. Etliche von ihnen wurden bedroht, verhaftet, gefoltert. Einige Athlet*innen gründeten im Exil eine Stiftung und sammeln nun Spenden für unterdrückte Sportler*innen. Von internationalen Sportverbänden wie dem IOC fühlen sie sich nicht unterstützt.

"The games must go on" gilt auch heute noch – das IOC hat sich bisher noch gegen jeden Protest gegen die fortschreitende Kommerzialisierung des olympischen Sports erfolgreich gewehrt und die Spiele zu jedem Preis durchgedrückt. In München 1972 konnte der Ausspruch noch als trotzige Entgegnung gegen den Terrorismus interpretiert werden, heute scheinen sich die Spiele selbst gegen ihre Prinzipien gewendet zu haben, sodass der Spruch nur noch schal erscheint.

ist Journalist und arbeitet zu politischen Hintergründen im Sport, unter anderem für den Deutschlandfunk und die "Süddeutsche Zeitung". Zuletzt erschien 2020 "Machtspieler – Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution".
E-Mail Link: mail@ronnyblaschke.de
Twitter: @RonnyBlaschke