Informationen zur politischen Bildung Nr. 350/2022
Warum der demografische Wandel uns alle betrifft
Martin Bujard
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Demografische Entwicklungen beeinflussen den Alltag aller Menschen. Dieser Beitrag erklärt, was der "demografische Wandel" ist und mithilfe welcher Faktoren er berechnet werden kann.
Megathema Demografie
Der demografische Wandel ist ein wichtiges, häufig diskutiertes Thema in der deutschen Politik und Gesellschaft – in ähnlicher Weise gilt dies nur für Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel. Und das aus gutem Grund, denn demografische Veränderungen beeinflussen zahlreiche Politikbereiche und auch das alltägliche Leben vieler Menschen in erheblicher Weise. Nachrichtensendungen und Zeitungen greifen das Megathema Demografie immer wieder auf und auch im eigenen Alltag können eigene Beobachtungen hinsichtlich demografischer Entwicklungen gemacht werden:
Es leben immer mehr Seniorinnen und Senioren in Deutschland. Während im Jahr 1990 nur 15 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre oder älter waren, sind es im Jahr 2020 bereits 22 Prozent und im Jahr 2040 werden es voraussichtlich knapp 30 Prozent sein. Der Anteil älterer Menschen in der deutschen Gesellschaft verdoppelt sich demnach innerhalb von nur fünf Jahrzehnten.
Die Lebenswelten von jungen, mittleren und älteren Generationen unterscheiden sich erheblich. Die jüngere Generation ist infolge des demografischen Wandels zahlenmäßig kleiner, daher ist es für sie schwieriger den Ausgang von Wahlen zu beeinflussen und ihre Interessen beispielsweise im Bereich Digitalisierung und Nachhaltigkeit adäquat durchzusetzen.
Da das deutsche Rentensystem im Umlageverfahren, dem sogenannten Generationenvertrag, organisiert ist, finanzieren die Jüngeren und Erwerbstätigen die Renten der Älteren. Daher hat die Alterung der Bevölkerung immense Auswirkungen: Der erhebliche Anstieg des Rentenniveaus wird durch den demografischen Faktor gebremst und die Beiträge der Erwerbstätigen zur Rentenversicherung werden steigen. Die Politik diskutiert daher über weitere Rentenreformen, Mindest- und Lebensleistungsrenten.
In ähnlicher Weise ist die Alterung eine Herausforderung für das Gesundheitssystem und die Pflege. So werden Engpässe an Pflegekräften nicht erst seit der Coronavirus-Pandemie von Betroffenen angesprochen und auch künftig erheblich zunehmen.
In den vergangenen Jahren kamen mehrere Millionen Geflüchtete aus dem Nahen Osten und Afrika sowie Arbeitsmigrantinnen und -migranten größtenteils aus Europa nach Deutschland. Die Nettozuwanderung betrug von 2015 bis 2017 insgesamt 2,06 Millionen Personen. Durch diese Entwicklung wird Deutschland diverser.
Der Anstieg der Weltbevölkerung auf etwa 8 Milliarden Menschen in 2023 hat in erheblichem Maße zum Klimawandel beigetragen. Inzwischen ist das Bevölkerungswachstum in vielen Weltregionen gebremst. Während vor zwei Jahrzehnten die Arbeitslosigkeit eines der zentralen Probleme der deutschen Wirtschaft war, herrscht inzwischen ein Fachkräftemangel, da viele Fachkräfte aus den geburtenstarken Jahrgängen in Rente gehen und die nachkommenden Jahrgänge kleiner sind.
Einige Dörfer, vor allem im Norden und Osten Deutschlands, erleben einen erheblichen Bevölkerungsrückgang, dort fehlen vor allem junge Menschen. Gleichzeitig wachsen die Großstädte und das Wohnen dort wird immer teurer.
Der demografische Wandel hat demnach Auswirkungen auf viele Lebensbereiche. Die Bevölkerungsgröße, die Altersstruktur und die regionale Verteilung beruhen im Prinzip auf drei Faktoren: der Zahl der Geburten, der Sterbefälle und der Zu- und Abwanderungen. Dabei können diese Faktoren langfristig eine immense Dynamik entfalten. Dies wird in Deutschland aufgrund des seit einem halben Jahrhundert anhaltenden Geburtentiefs besonders deutlich: Geburtenraten, die seit 1973 bis heute zwischen 1,2 und 1,6 Kindern pro Frau liegen, haben dazu geführt, dass Deutschland eine Altersstruktur mit relativ vielen älteren Menschen und relativ wenigen jungen Menschen hat. Die heutige Müttergeneration ist bereits deutlich kleiner, wodurch die Zahl der Geburten selbst bei konstanten Geburtenraten in den nächsten Jahrzehnten zurückgehen wird. Die Alterung und die Schrumpfung der Gesellschaft sind in der Altersstruktur bereits für die nächsten Jahrzehnte angelegt.
Folgende zentrale Fragen zum demografischen Wandel soll dieses Heft beantworten:
Wird es zukünftig in Deutschland überwiegend alte Menschen geben?
Wird die Bevölkerung in Deutschland schrumpfen?
Wodurch könnte die Geburtenrate steigen?
Wie stark wächst die Weltbevölkerung künftig?
Wie unterschiedlich entwickeln sich Deutschlands Regionen?
Welche Mythen gibt es zum demografischen Wandel und was kann aus früheren Diskursen gelernt werden?
Werden wir an Wohlstand verlieren?
Welche Maßnahmen sollte die Politik in den nächsten Jahren angehen?
Wie kann das Rentenniveau gesichert und generationengerecht finanziert werden?
Wie lässt sich der gesellschaftliche Zusammenhalt fördern?
Altersstruktur: mehr ältere und weniger junge Menschen
Um zu verstehen, was der demografische Wandel ist, sollte stringent zwischen den Prozessen Alterung der Bevölkerung und möglicher Schrumpfung der Bevölkerungsgröße differenziert werden, da beide Prozesse völlig unterschiedliche demografische Dynamiken (und auch Folgen) aufweisen. Dabei sind in der heutigen Altersstruktur sowohl eine zunehmende Alterung als auch ein künftiger Bevölkerungsrückgang angelegt. Eine hohe Zuwanderung von mehreren hunderttausend Personen pro Jahr kann dabei zwar den Bevölkerungsrückgang kompensieren, jedoch kaum die Zunahme der Alterung beheben.
"Alterung der Bevölkerung" meint, dass zunehmend eine Altersstruktur entsteht, bei der die älteren Jahrgänge stark und die jüngeren weniger stark besetzt sind. Die Alterung in den vergangenen Jahrzehnten liegt zum einen an dem seit geraumer Zeit anhaltenden Geburtentief und wird zudem durch die Zunahme der Lebenserwartung verstärkt. Die Alterung ist bereits deutlich sichtbar und wird sich in den nächsten Jahren weiter erheblich verstärken, da die Babyboomer das Rentenalter erreichen.
Der Wandel der Altersstruktur lässt sich mit sogenannten Bevölkerungspyramiden veranschaulichen. Der Begriff der Pyramide war für die demografischen Entwicklungen in Deutschland bis Anfang des 20. Jahrhunderts bildlich noch passend, für die gegenwärtige Altersstruktur, die grafisch eher einem zerzausten Tannenbaum ähnelt, ist der Begriff "Bevölkerungsbaum" passender. Da weder der Begriff "Pyramide" noch der Begriff "Baum" für die deutsche Altersstruktur zwischen 1960 und 2050 wirklich treffend ist, wird in dieser Darstellung von einem "Bevölkerungsdiagramm" gesprochen.
Wie das Bevölkerungsdiagramm zeigt, ist die Bevölkerungsstruktur in Deutschland in 2020 unten schmal, in der oberen Mitte sehr breit und oben dann wieder schmaler. Die Jahrgangsstärken betragen bei Kinder- und Jugendlichen zwischen 700.000 und 800.000, bei den 20- bis 49-Jährigen etwa zwischen 900.000 und 1,1 Millionen und erreichen beim Jahrgang 1964 den Höhepunkt mit 1,4 Millionen. Die Jahrgänge 1960–1970, also die Ende 2020 50- bis 60-Jährigen, sind mit 1,2 bis 1,4 Millionen Personen pro Jahrgang am breitesten vertreten. Sie werden auch Babyboomer-Generation genannt, da von Ende der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre überdurchschnittlich viele Babys geboren wurden. Beendet wurde dieser Babyboom ab Ende der 1960er-Jahre durch den sogenannten Pillenknick.
Beim Jahrgang 1945 ist ein deutlicher Knick zu sehen, der die demografischen Spuren der prekären Lage am Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt. Da mit zunehmendem Alter die Sterblichkeit zunimmt, wird der Altersaufbau zwischen 80 und 100 Jahren nach oben immer dünner. Dass es trotzdem mit 818.000 mehr 80-Jährige gibt als beispielsweise 10-jährige Kinder, ist bemerkenswert. Dies ist ein historisch neues Phänomen, im Jahr 1950 gab es noch acht Mal so viele 10-Jährige wie 80-Jährige. Ab einem Alter von über 60 Jahren existiert ein Frauenüberschuss, das liegt unter anderem daran, dass Frauen durchschnittlich eine längere Lebenserwartung haben.
Der Wandel in der Altersstruktur wird durch den Vergleich der Bevölkerungsdiagramme zwischen 1960, 1990, 2020 und 2050 deutlich. Der Zeitabstand zwischen diesen vier Grafiken entspricht mit 30 Jahren etwa einer Generation. Die Bevölkerungsdiagramme für 1960 und 1990 zeigen bei einigen Altersgruppen Kerben und erinnern dadurch an einen Tannenbaum. Die Kerben sind auf Geburtenausfälle während der beiden Weltkriege zurückzuführen. Von 1960 bis 1990 "wachsen" diese kriegsbedingten Lücken sozusagen nach oben. Der Babyboom, der Ende der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre stattfand, ist in allen vier Grafiken zu sehen. 1960 ist bei den 0- und 1-Jährigen der Beginn des Babybooms zu sehen, 1990 sind die stärksten Babyboomer-Jahrgänge Ende 20 und relativ neu auf dem Arbeitsmarkt, 2020 sind sie Ende 50 und erreichen in den 2020er-Jahren das Renteneintrittsalter. Im Jahr 2050 werden sie Ende 80 sein, wobei nur ein Teil der Babyboomer dann noch leben wird; dennoch wird es dann zahlenmäßig mehr über 80-Jährige geben als Kinder.
Bestimmt wird die Altersstruktur von den Phänomenen des jahrzehntelangen Geburtentiefs. Der Ende der 1960er-Jahre einsetzende Geburtenrückgang und das seit den 1970er-Jahren anhaltende Geburtentief haben dazu geführt, dass im Altersaufbau 1990 die Jahrgänge der unter 20-Jährigen bereits sehr dünn besetzt sind. Da Mädchen, die in den 1970er-Jahren nicht geboren wurden, logischerweise 30 Jahre später auch nicht Mütter sein können, verstärkt sich der Rückgang der Geburtenzahl in der zweiten Generation des Geburtentiefs. Dadurch ist die Jahrgangsstärke bei den Kindern in 2020 noch kleiner. Dies wird sich bei konstant bleibender Geburtenrate verstärken, im Jahr 2050 wäre die dritte Generation im Geburtentief.
Altenquotient: weniger Erwerbstätige, mehr Rentner?
Was bedeutet ein steigender Altenquotient? Im Jahr 1960 waren die Jahrgangsstärken der Kinder und der Erwachsenen im Erwerbsalter (20–64 Jahre) noch ähnlich, dadurch war das Nachwachsen einer ähnlich großen Generation gesichert. Es gab viele Personen im erwerbsfähigen Alter und deutlich weniger im Rentenalter. Eine derartige Altersstruktur ist vorteilhaft für die Sozialsysteme. Im Jahr 2050 ist beides nicht der Fall: Erstens werden die nachfolgenden Generationen immer kleiner, zweitens gibt es einen hohen Anteil von Personen im Rentenalter im Vergleich zu denen im Erwerbsalter.
Die Relation von Erwerbstätigen und Rentnerinnen und Rentnern ist entscheidend für die Rentensysteme, da dort die erwerbstätige Bevölkerung die Renten der Älteren finanziert. Ein einfaches Gedankenbeispiel belegt dies: Wenn auf einen Rentner/eine Rentnerin fünf Erwerbstätige kommen, die jeweils 400 € im Monat in die Rentenkasse einzahlen, hat der Rentner/die Rentnerin 2000 € monatlich und kann davon gut leben. Wenn auf einen Rentner/eine Rentnerin aber nur zwei Erwerbstätige kommen, die ebenfalls beide je 400 € einzahlen, bleiben dem Rentner/der Rentnerin nur 800 €. Zahlen beide Erwerbstätigen je 1000 €, hat der Rentner/die Rentnerin zwar wieder 2000 €, die Erwerbstätigen müssten aber wesentlich mehr von ihrem Bruttolohn in die Rentenkasse einzahlen. Dies zeigt das Dilemma einer alternden Bevölkerungsstruktur für die Sozialsysteme (ausführlicher zu den Folgen siehe Kapitel "Interner Link: Die Folgen des demografischen Wandels" und zu politischen Lösungsansätzen siehe Kapitel "Interner Link: Politische Strategien").
Daher ist es wichtig, die Relation von Rentnern und Rentnerinnen zu Erwerbstätigen zu messen. Die Unterscheidung zwischen Erwerbstätigen und potenziell Erwerbstätigen ist ebenfalls von Bedeutung, da nicht alle Personen im Alter von 20 bis 66 Jahren erwerbstätig sind. Gründe dafür können Arbeitslosigkeit, Krankheit, Frühverrentung sowie Fürsorge von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen sein. Auch zwischen den Rentenbeziehenden und der Bevölkerung im Rentenalter bestehen Unterschiede, da nicht alle Menschen eine umlagefinanzierte Rente erhalten. Als ein sinnvoller Indikator hat sich der Altenquotient etabliert, der die Zahl der Personen mit 67 Jahren und älter durch die Zahl der 20- bis 66-Jährigen teilt. Die Altersgrenze kann je nach Fragestellung festgelegt werden. Die Teilung war früher bei 65 Jahren, durch die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 Jahre wird zunehmend der Altenquotient 20/67 verwendet, so auch in der Grafik - Berechnung des Altenquotienten. Der Altenquotient lässt sich grafisch anhand der Bevölkerungsdiagramme gut nachvollziehen: Es werden zwei waagerechte Linien beim Alter von 20 und von 66 eingezeichnet, die Figuren über der Linie bei 66 stellen die Bevölkerung im Hauptrentenalter, also die potenziellen Rentnerinnen bzw. Rentner, dar, die Figuren zwischen 20 und 67 die Bevölkerung im Haupterwerbsalter, also die potenziellen Erwerbstätigen.
Wie die Bevölkerungsgrafik von 2020 zeigt, sind 16,2 Millionen Personen 67 Jahre oder älter und 51,8 Millionen zwischen 20 und 66 Jahren. Wird 16 durch 52 geteilt und die Zahl mit 100 multipliziert, ergibt sich ein Wert von 31; 31 ist somit der Altenquotient. Er sagt aus, dass auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (also 20-66) 31 Personen im Rentenalter kommen. Entsprechend lässt sich der Altenquotient für 2050 berechnen, er wird bei 47 liegen.
Anhand der Grafik ist zu sehen, dass die Figuren oberhalb der obersten roten Linie im Jahr 2020 knapp ein Drittel der Figuren zwischen den beiden roten Linien umfasst. Ein Drittel entspricht etwa 31 Hundertstel, also dem Altenquotient 31. Ein Drittel bedeutet, dass auf einen Rentner bzw. eine Rentnerin drei potenzielle Beitragszahlende kommen. Im Jahr 2050 ist die Zahl der Figuren oberhalb der obersten roten Linie fast halb so groß wie die Figurenzahl zwischen den Linien; dies entspricht einem Altenquotient von 47, da 47 Hundertstel etwa die Hälfte ist. Auf einen Rentner/eine Rentnerin kommen also nur zwei potenzielle Beitragszahlende.
Die Zahl der unter 20-Jährigen spielt bei der Berechnung des Altenquotienten keine Rolle, da sie selten erwerbstätig sind und auch keine Rente beziehen. Die junge Altersgruppe unter 20 Jahren wird in Relation zur Bevölkerung im Erwerbsalter durch den Jugendquotienten abgebildet, der aufgrund der niedrigen Geburtenrate zurückgegangen ist. Altenquotient und Jugendquotient addieren sich zum Gesamtquotienten, der die Relation derjenigen anzeigt, die durch die Bevölkerung im Erwerbsalter potenziell versorgt werden müssen. Im Zuge des gegenwärtigen demografischen Wandels ist der Rückgang des Jugendquotienten geringer als der Anstieg des Altenquotienten, sodass auch der Gesamtquotient ansteigt.
Für den Arbeitsmarkt und das Rentensystem ist der Altenquotient 20/65 bzw. 20/67 relevant, während für das Gesundheitssystem der Anteil der Hochbetagten bedeutsam ist. Im Jahr 2018 lebten etwa 5,4 Millionen Personen ab 80 Jahren in Deutschland, im Jahr 2050 werden es je nach Variante der 14. Bevölkerungsvorausberechnung zwischen 8,9 und 10,4 Millionen sein.
QuellentextZeitenwende in der Arbeitswelt
Für Hewlett-Packard Enterprise müsste man arbeiten. Jedenfalls dann, wenn man gerade Nachwuchs plant. Das Unternehmen hat soeben beschlossen, dass jeder Mitarbeiter nach der Geburt seines Kindes eine sechsmonatige Elternzeit bekommen soll – bei Weiterzahlung des vollen Gehalts. Das gilt für die 2.100 Angestellten am deutschen Firmensitz in Böblingen genauso wie für alle anderen 58.000 Beschäftigten auf der ganzen Welt. […]
Früher wäre das unvorstellbar gewesen. Vor weniger als zwei Jahrzehnten plagte noch die Massenarbeitslosigkeit das Land, die Arbeitslosenzahlen waren das monatliche Orakel zur düsteren Zukunft des Sozialstaates. Heute aber vollzieht sich in der Arbeitswelt eine Zeitenwende, eine Umkehrung der Machtverhältnisse: Die Arbeitgeber, die einst das Sagen hatten, müssen zusehen, dass sie für die Jungen attraktiv erscheinen; und die Arbeitnehmer, die einst vor allem schuften mussten, können heute Forderungen stellen.
Grund für diese Entwicklung ist der größte Schichtwechsel, den die Bundesrepublik jemals erlebt hat. In den kommenden zehn Jahren erreichen rund zwölf Millionen Babyboomer das Rentenalter. Sie räumen einerseits ihre Büros in den Führungsetagen und machen so Platz für die nächste Generation. Andererseits aber reißen sie eine riesige Lücke, die so leicht nicht zu schließen sein wird – und die in Zeiten des ohnehin schon bestehenden Fachkräftemangels die Arbeitgeber in Deutschland vor gewaltige Herausforderung stellt. […]
Die Generation der Babyboomer wurde in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren, in einer Zeit, als der Zweite Weltkrieg gerade vorbei war und das Land aufatmete. Die internationale Gemeinschaft begann sich wieder zu öffnen, man schaute nach vorne in Deutschland, nicht zurück. Und weil der Optimismus regierte, wurden sehr, sehr viele Kinder geboren. Allein im Jahr 1964 waren es 1.357.304 – so viele wie nie zuvor und seither nicht mehr […]. Heute machen die Geburtsjahrgänge der fünfziger und sechziger Jahre hierzulande 30 Prozent der Bevölkerung aus. […]
Die Zukunft ist weit weniger grau. Schon jetzt ist zu sehen, wer in die Lücke stoßen wird, wenn die Boomer in Rente gehen. […] Jeden Monat veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit aktuelle Zahlen zur Lage am deutschen Arbeitsmarkt. Und jeden Monat ist der Tenor derselbe: Es fehlen schon heute unglaublich viele Arbeitskräfte, in der Bundesrepublik sind derzeit rund 700.000 Stellen unbesetzt. Ingenieure, Köche, Pfleger – alles wird gesucht. "Der Arbeitsmarkt ist leergefegt", heißt es. Im Süden des Landes herrscht in vielen Regionen Vollbeschäftigung. Und es ist kaum auszumalen, wie sehr sich die Unternehmen werden strecken müssen, um all die Babyboomer in ihren Reihen auch nur ansatzweise zu ersetzen.
Für die Jüngeren bedeutet das zwei Dinge: Zum einen ist ihnen eine Stelle so gut wie sicher – nicht nur heute, sondern über viele Jahre hinweg, wie Fachleute einmütig prognostizieren. Selbst ein Abschwung, wie er gerade der deutschen Wirtschaft droht, meint Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), werde uns nicht in die Zeiten zurückkatapultieren, in denen mehr als fünf Millionen Menschen arbeitslos waren.
Zum anderen haben Arbeitnehmer heute eine Machtposition gegenüber den Arbeitgebern, von der die Babyboomer über Jahrzehnte nur träumen konnten. […] Dass Arbeitgeber Getränke, Obst und Snacks kostenlos zur Verfügung stellen, halten viele Mitarbeiter heute für selbstverständlich, genauso wie den Kickertisch auf dem Flur. […] Auch Sabbaticals, [...] werden immer mehr zur Normalität.
Für die Unternehmen erfüllen all diese Angebote einen wichtigen Zweck. Wer auf eine gute und rücksichtsvolle Unternehmenskultur verweisen kann, kann im Buhlen um potentielle Arbeitnehmer gegenüber der Konkurrenz punkten. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als den Anspruch der Jungen auf Selbstverwirklichung und die Balance zwischen Arbeit und Freizeit mit allen Mitteln zu bedienen.
Für den Einzelnen klingt das paradiesisch. Doch wer den Blick auf die gesamte deutsche Wirtschaft lenkt, sieht, dass der Generationenwechsel zur Belastungsprobe wird. Die Schwierigkeit besteht darin, dass immer weniger Menschen immer mehr erwirtschaften müssen, um Wachstum und Wohlstand auch in Zukunft zu sichern. Gleichzeitig wird Deutschland im Laufe des nächsten Jahrzehnts zur Rentnerrepublik. […]
Wie dramatisch das Ganze werden kann, zeigt sich im deutschen Mittelstand. Das sind die Unternehmen, die als das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bezeichnet werden und oft seit Generationen in guten Händen liegen – nur ist es fraglich, ob das so bleibt. Mehr als 1,5 Millionen mittelständische Unternehmen in Deutschland werden von Babyboomern geführt. Das sind bemerkenswerte 44 Prozent aller kleinen und mittleren Unternehmen im Land. Und deren Chefs planen schon den Schichtwechsel. Mehr als eine halbe Million Inhaber kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland würden gerne ihr Geschäft innerhalb der nächsten zwei Jahre in die Hände eines Nachfolgers legen, hat die staatliche Förderbank KfW ermittelt. Das Problem ist nur, dass viele dieser Unternehmen keine Nachfolger finden. […]
Allein auf nexxt-change.org, einer Unternehmensbörse im Internet […] stehen aktuell mehr als 6.000 Unternehmen zum Verkauf. Vom Dachdeckerbetrieb über das Brautmodengeschäft hin zur traditionellen Bäckerei wäre für jeden Geschmack etwas dabei. Doch nicht nur die zahlreichen Hinweise wie "verkaufe schnellstmöglich" oder "kurzfristig" deuten darauf hin, dass die Interessenten nicht gerade Schlange stehen. Nach den Zahlen der KfW hat jeder zweite Unternehmer noch keinen Nachfolger für seinen Betrieb gefunden. Jeder vierte Unternehmensinhaber arbeitet deshalb in seine Siebziger hinein, jeder zehnte wird zum Zeitpunkt seines Rückzugs älter als 80 Jahre alt sein. Findet sich auch bis dahin kein Nachfolger, ist die Aufgabe des eigenen Unternehmens für jeden Siebten eine Option. […]
Die Schuld an dieser Misere geben die KfW-Fachleute der Demographie – aber nicht nur. Das Angestelltenverhältnis stehe einfach zu hoch im Kurs, die gute Arbeitsmarktlage sorge für sichere, gutbezahlte Jobs, das mit der Selbständigkeit verbundene Risiko, dazu die ständige Erreichbarkeit und die Bürokratie dagegen schreckten viele ab. […] Wenn man das wirtschaftliche Gewicht dieser Firmen beleuchte, werde klar, „dass vom Gelingen des Generationenwechsels viel abhängt“, schreibt die KfW. [...]
Bevölkerungszahl: Ist die Schrumpfung unabwendbar?
Deutschland hatte Ende 2020 eine Einwohnerzahl von 83,2 Millionen (exakt: 83.155.031) Personen. Aufgrund der Altersstruktur mit relativ vielen älteren und weniger jungen Menschen ist eine Schrumpfung bereits angelegt, seit 1972 sterben jedes Jahr mehr Menschen als geboren werden. Für die Bestanderhaltung der Müttergeneration ist eine Geburtenrate von etwa 2,1 (exakt: 2,07) Kindern pro Frau notwendig. Das Geburtendefizit lag in den 2010er-Jahren bei durchschnittlich 171.000 Personen jährlich, dieser Rückgang entspricht der Größenordnung der Einwohnerzahlen von Würzburg, Heidelberg oder Leverkusen – pro Jahr. Nur durch die hohe Zuwanderung der vergangenen Jahrzehnte ist die Bevölkerung Deutschlands bisher nicht geschrumpft. Jedoch wird das Geburtendefizit aufgrund der alten Bevölkerungsstruktur in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten zunehmen.
Gemäß der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes werden in einer mittleren Variante (Variante 2, die eine moderate Entwicklung der Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und Wanderung annimmt) im Jahr 2040 669.000 Kinder geboren und 1,030 Millionen Personen sterben. Dann beträgt das Geburtendefizit rund 361.000 und hat zur Folge, dass jedes Jahr die Bevölkerung Deutschlands um eine Stadt in einer Größenordnung größer als Bonn, Karlsruhe oder Münster zurückgeht. Eine Zuwanderung im Durchschnitt der vergangenen Jahrzehnte wird dies nicht mehr kompensieren können.
Bei einer moderaten demografischen Entwicklung errechnet die 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung einen Rückgang der Bevölkerungszahl bis 2060 auf 78,2 Millionen (Variante 2). Im Jahr 2051 wird die Bevölkerung demnach erstmals wieder unterhalb von 80 Millionen liegen. Allerdings sind langfristige Projektionen mit Unsicherheiten verbunden, allein der Faktor Zuwanderung macht einen großen Unterschied. In Variante 2 wurde eine jährliche Zuwanderung von 221.000 angenommen. Bei einer höheren jährlichen Zuwanderung von 311.000 Personen bleibt die Bevölkerungsgröße relativ konstant bei 83,0 Millionen in 2060 (Variante 3), bei einer geringeren von jährlich 147.000 würde die Bevölkerung auf 74,4 Millionen bis 2060 zurückgehen (Variante 1). Bei zukünftig steigender Geburtenrate und hoher Zuwanderung kann eine Schrumpfung ausbleiben, umgekehrt kann die Bevölkerung in den nächsten vier Jahrzehnten auch auf Werte unterhalb von 70 Millionen sinken. Aus heutiger Sicht ist es jedoch plausibel, einen moderaten Rückgang zu erwarten.
Bevölkerungsgröße – eine historische und räumliche Einordnung
Der historische Vergleich zeigt, dass Veränderungen hinsichtlich der Bevölkerungsgröße eher normal sind. Das Deutsche Reich hatte 1871 eine Bevölkerung von 41,0 Millionen, die Zahl wuchs bis 1939 auf 69,3 Millionen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1950er-Jahre lebten auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik und der ehemaligen DDR zusammen weniger als 70 Millionen Personen. Zwischen 1954 und 1990 betrug die Bevölkerungszahl beider deutschen Staaten zusammen zwischen 70 und 80 Millionen. Erst Anfang der 1990er-Jahre überschritt sie, auch aufgrund der Übersiedlung vieler Russlanddeutscher und Schutzsuchender aus dem vom Bürgerkrieg erfassten ehemaligen Jugoslawien, die 80 Millionen-Schwelle. Die Entwicklung der Bevölkerungsgröße ist – anders als ihre Altersstruktur – zwischen 1990 und 2020 sowie in den mittleren Vorausberechnungen bis 2060 von einer gewissen Kontinuität geprägt.
Die Entwicklung der Bevölkerungsgröße Deutschlands ist auch im internationalen Kontext zu sehen. Die Weltbevölkerung stieg im 20. Jahrhundert enorm: Im Jahr 1927 waren es erstmals 2 Milliarden, der Anteil Deutschlands lag bei 3,2 Prozent. Ende des 20. Jahrhunderts, nur 72 Jahre später, lebten bereits 6 Milliarden Menschen auf der Erde, Deutschlands Anteil lag bei 1,4 Prozent. Für das Jahr 2060 rechnen die Vereinten Nationen mit 10,1 Milliarden Menschen, nach dieser Vorausberechnung wird der Anteil Deutschlands weniger als 0,8 Prozent der Weltbevölkerung betragen (siehe auch Kapitel "Interner Link: Weltbevölkerung - stoppt der Anstieg bei 11 Milliarden?").
Regional unterscheidet sich die Bevölkerungsentwicklung jedoch auch bei konstanter Gesamtgröße erheblich. Die Entwicklung der Bevölkerungsgröße in den vergangenen 20 Jahren auf Kreisebene zeigt, dass es sowohl Kreise mit deutlich schrumpfender Bevölkerung wie in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gibt als auch solche mit wachsender Bevölkerung wie im Großraum München oder dem Rhein-Main-Gebiet (siehe auch Kapitel "Interner Link: Deutschlands Regionen - wie es vor Ort aussieht").
PD Dr. Martin Bujard ist stellvertretender Institutsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden.
Nach beruflichen Erfahrungen in der Privatwirtschaft und der Politik zog es ihn in die Schnittstelle von Wissenschaft und Politikberatung. Von 2009–2011 war er im Projekt "Zukunft mit Kindern" an der Humboldt Universität zu Berlin tätig. Seit 2011 wirkt er am BiB in Wiesbaden, seit 2015 als Forschungsdirektor des Bereichs "Familie und Fertilität", seit 2020 als stellvertretender Institutsdirektor. Der habilitierte Sozialwissenschaftler hatte Lehraufträge an den Universitäten Berlin, Mainz und Bamberg inne. Er ist Mitgründer des Familiendemografischen Panels FReDA und forscht zu Geburtenentwicklung, Public Health mit Schwerpunkt Familien und Kinder sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Martin Bujard berät die Bundesregierung u. a. als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen des Bundesfamilienministeriums, bei der Demografiestrategie der Bundesregierung und in der Coronavirus-Pandemie bezüglich der Auswirkungen auf Jugendliche und Familien. Er ist Mitglied in wissenschaftlichen Gremien wie beispielsweise im Consortium Board des EU-weiten Generation and Gender Programme und der Arbeitsgruppe "Fortpflanzungsmedizingesetz" der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Ehrenamtlich setzt er sich als Präsident des evangelischen Familienverbandes eaf für Familien ein.
Danksagung: Der Autor dankt Samira Beringer, Felix Berth, Holger Bonin, Christian Fiedler, Mathias Huebener, Bernhard Köppen, Sandra Krapf, Elke Loichinger, Olga Pötzsch, Kerstin Ruckdeschel, Harun Sulak und Frank Swiaczny für viele wertvolle Kommentare zum Manuskript.
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