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Politische Strategien | Demografischer Wandel | bpb.de

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Informationen zur politischen Bildung Nr. 350/2022

Politische Strategien

Martin Bujard

/ 18 Minuten zu lesen

Der demografische Wandel kann durch politische Maßnahmen beeinflusst werden. Die Bundesregierung hat eine Demografiestrategie entwickelt, um Lösungen für die verschiedenen Politikfelder zu finden.

Zuwanderung ist eine Antwort auf den demografischen Wandel. Wandgemälde mit der Skyline von Berlin und der Aufschrift "Willkommen in Berlin" in verschiedenen Sprachen vor dem Berliner Landesamt für Einwanderung 2020. (© imago / photothek)

Demografische Prozesse beeinflussen

Familienfreundliche Rahmenbedingungen schaffen

Eine Erhöhung der niedrigen Geburtenrate von 1,5 (in 2020) in Richtung 2,1 – was dem Bestandserhaltungsniveau einer Bevölkerung entspricht – ist mit vielen Vorteilen für Gesellschaft, Wirtschaft und Sozialsysteme verbunden. Doch inwieweit kann und soll die Politik die Geburtenrate beeinflussen?

Die Geburtenrate lässt sich nicht steuern, sie kann schwerlich staatliche Zielvorgaben erfüllen. Das gilt nicht nur für individualistische Gesellschaften in Westeuropa oder den USA, sondern auch in kulturell und politisch stärker konformistisch geprägten Gesellschaften wie Japan oder China. Trotzdem können staatliche Maßnahmen einen Einfluss auf die Geburtenentwicklung entfalten. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie spielt in hochentwickelten Volkswirtschaften wie Deutschland eine wichtige Rolle, da in diesen die meisten Frauen ebenso berufstätig sein möchten wie Männer und dies meist auch sein müssen, um den eigenen Lebensunterhalt und ggf. den der Familie zu sichern. Öffentliche Infrastruktur für Kinderbetreuung und Ganztagsschulen haben in vielen Ländern ihren Teil zum Anstieg der Geburtenentwicklung bzw. zu einer Abschwächung des Geburtenrückgangs beigetragen. Der Anstieg der Geburtenrate Deutschlands von 1,3 auf 1,5 Geburten pro Frau ist unter anderem auch auf familienpolitische Reformen zurückzuführen.

Generell können gute Rahmenbedingungen für Familien unterstützend wirken, hier ist nicht nur die klassische Familienpolitik mit Maßnahmen wie Kindergeld, Elterngeld und Kitas gefragt, sondern sämtliche politischen Maßnahmen, die für Familien und potenzielle Eltern relevant sind: Wohnraum, verkehrsberuhigte Straßen, Spielplätze, Bildungsangebote, Familienberatung, Geldleistungen für Familien, Steuerrecht und ein familienfreundlicher Arbeitsmarkt. Allerdings können für einzelne Maßnahmen keine Hebelwerte berechnet werden, die zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften Einfluss auf die Geburtenrate haben könnten. Denn familienpolitische Maßnahmen wirken – wenn überhaupt – oftmals zeitverzögert, in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verschieden und im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Normen, beispielsweise hinsichtlich der Akzeptanz von externer Kleinkindbetreuung.

Weit über 90 Prozent der jungen Erwachsenen wünschen sich eigene Kinder, weniger als 80 Prozent realisieren dies dann später auch. Eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann dazu beitragen, dass der Anteil der ungewollt Kinderlosen zurückgeht. Der Kinderwunsch liegt durchschnittlich bei knapp unter zwei Kindern pro Frau, also deutlich über der Geburtenrate von zuletzt 1,5. Dies zeigt, dass die Steigerung der Geburtenrate nicht konträr zu den individuellen Wünschen vieler junger Erwachsener steht, sondern der Knackpunkt oft die Realisierung der individuellen Kinderwünsche ist. In Deutschland herrscht die Vorstellung vor, dass zwei Kinder "normal" sind. Diese gesellschaftliche Norm wird durch Medien und Politik oftmals noch verstärkt. Da es auch in der Zukunft dauerhaft kinderlose Menschen und Ein-Kind-Familien geben wird und der Geburtenrückgang der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland vor allem auf dem Rückgang des Kinderreichtums beruht, müssen sich mehr Paare für ein drittes oder viertes Kind entscheiden, um die Geburtenrate zu erhöhen. Tatsächlich gibt fast ein Drittel der jungen Erwachsenen als ideale Kinderzahl drei oder mehr Kinder an. Doch diesen Wunsch realisieren nur die wenigsten, bei den Akademikerinnen sind es beispielsweise nur knapp die Hälfte. Daher ist für eine Steigerung der Geburtenrate vor allem die Förderung kinderreicher Familien wichtig. Kinderreiche Eltern benötigen nicht nur mehr Geld, sondern vor allem mehr Zeit, da sie in der sogenannten Rushhour des Lebens stecken, das heißt sich in einer Lebensphase befinden, die sich durch einen hohen Arbeitsaufwand für Pflege und Betreuung der Kinder auszeichnet. Entsprechende zeitpolitische Maßnahmen für diese Zielgruppe, beispielsweise eine Familienarbeitszeit und eine längere bezahlte Elternzeit für ein drittes Kind, könnten helfen, dass mehr Eltern den Wunsch nach einem dritten Kind realisieren und so langfristig auch einen Einfluss auf gesellschaftliche Normen entfalten.

Ob die Politik das Ziel verfolgen sollte, die Geburtenrate zu beeinflussen, ist in Deutschland umstrittener als in anderen Ländern. Dies liegt an historischen Erfahrungen mit Bevölkerungspolitik, insbesondere dem kriegerisch motivierten und rassistisch geprägten Missbrauch von Bevölkerungspolitik im NS-Regime (siehe Kapitel "Interner Link: Diskurse über den demografischen Wandel"). Solche Motive sind aus ethischen Gründen klar abzulehnen. Ganz anders ist jedoch eine an Kindeswohl, Wünschen von Eltern und Gleichstellung der Geschlechter orientierte Familienpolitik zu bewerten. Ob gewollt oder nicht, hat Politik generell einen Einfluss auf die Geburtenentwicklung. Darüber sollten sich die Entscheidungsträger bewusst sein. Wichtige Leitlinien sind dafür die Freiheit der Menschen bei Entscheidungen für und gegen Kinder sowie die Vermeidung von Stigmatisierungen bestimmter Familienformen und Kinderlosigkeit. Zudem sollte bei familienpolitischen Maßnahmen das Kindeswohl immer das primäre Ziel sein.

Zuwanderung als Antwort auf den demografischen Wandel?

Im Vergleich zur Geburtenrate lässt sich die Zuwanderung etwas besser steuern, wobei zwischen angeworbenen Arbeitskräften und schutzsuchenden Menschen zu unterscheiden ist. Letzteres hängt meist von exogenen Faktoren ab und lässt sich daher nur begrenzt steuern.

Das Anwerben von Fachkräften hat das primäre Ziel, qualifiziertes Personal für Branchen wie Pflege, Informatik, Handwerk oder Facharbeiter, die für die Wirtschaft unmittelbar benötigt werden, zu gewinnen. Der Fachkräftemangel zeigt sich bereits seit einigen Jahren und wird sich in einigen Branchen in den 2020er-Jahren noch verschärfen. Die Einwanderung von Fachkräften ist aus Sicht der deutschen Wirtschaft und auch des öffentlichen Gesundheitssektors daher dringend notwendig. Hierzu wurde 2019, nach jahrzehntelangen Diskussionen, ob Deutschland überhaupt ein Einwanderungsland ist bzw. sein soll, ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz eingeführt, um qualifizierte Zuwanderung auch aus dem Nicht-EU-Ausland zu stärken. Denn ein großer Teil der seit Beginn der 2000er-Jahre zugewanderten Personen kommt aus Europa, wobei innerhalb der EU die Freizügigkeit gegeben ist. Die Anwerbung von Fachkräften ist jedoch nicht unproblematisch, da es zu einem Brain-Drain in den Herkunftsländern beitragen kann. Andererseits gibt es auch Spill-Over-Effekte, wonach die Herkunftsländer vom Wissenstransfer und dem Aufbau von Netzwerken profitieren. Es ist allerdings nicht nachhaltig für diese Länder, wenn Deutschland dort eine zu große Anzahl hochqualifizierter Menschen für den Arbeitsmarkt abwirbt, die dort dann fehlen.

QuellentextAnwerbung von Pflegekräften

Deutschland will Ederson Vicente Rodrigues mit offenen Armen empfangen, aber jetzt klemmt erst mal die Schiebetür. Gleich wird sie jemand aufstemmen. Bis dahin bleibt Zeit, die Vorgeschichte dieser Ankunft am Dresdner Flughafen zu erzählen, den Grund dafür, dass Ederson Vicente Rodrigues aus Camanducaia, Brasilien, seine Heimat verlassen hat, um in 10000 Kilometer Luftlinie Entfernung aus dem Flugzeug zu steigen und im sächsischen Pulsnitz ein neues Leben zu beginnen.

Die Sache ist schnell erzählt, denn der Pflegenotstand in den deutschen Krankenhäusern ist selten so grell ausgeleuchtet gewesen wie jetzt, im zweiten Corona-Winter und mitten in der vierten Welle der Pandemie. Allein auf den Intensivstationen stehen derzeit rund 4.000 Betten weniger zur Verfügung als vor einem Jahr, einfach, weil die Pfleger fehlen, um in diesen Betten Patienten zu versorgen – während gleichzeitig der Anteil der Covid-Patienten auf ebendiesen Intensivstationen an der 21-Prozent-Marke kratzt. […]

Die Vamed Klinik Schloss Pulsnitz in Sachsen hatte zunächst […] versucht, in Vietnam [Pflegekräfte] zu akquirieren, bis die Bedingungen für die Einreise von dort verschärft wurden. Die Hoffnungen von Klinikgeschäftsführer Carsten Tietze ruhen deswegen auf Brasilien. Die Schriftzeichen, der christliche Glaube, die Freizeitinteressen, da sei man einander näher, als man denken könne. Aber natürlich sei es wichtig, "dass wir uns nicht nur um die Ausbildung kümmern, sondern um das ganze Integrationsmanagement".

Auf der anderen Seite der klemmenden Schiebetür steht im Herbst 2020 deswegen eine kleine Delegation der Klinik, um Ederson Vicente Rodrigues, damals 30 Jahre alt, und zehn weitere brasilianische Fachkräfte in Empfang zu nehmen. […]

"Es regnet, es ist kalt – welcome to Germany", sagt Scheibe zur Begrüßung der kleinen Gruppe, dann geht es in zwei Ford Transit über die Autobahn ins nahe gelegene Pulsnitz. […]

Ankunft an einem Mehrfamilienhaus […]. Die Klinik hat Wohnungen angemietet und eingerichtet, für die verpflichtende Quarantäne – aber mehr noch, um das Ankommen grundsätzlich zu erleichtern. Die letzte Lieferung von Ikea kam kurz vor knapp, "gedübelt, geschraubt und geputzt" hätten sie bis Minuten vor der Ankunft der Brasilianer, sagt eine Kollegin von Scheibe. […]

In den Wohnungen liegen "Willkommensmappen", in denen auch steht, wie der Müll zu trennen ist, und Gunar Scheibe lupft zum großen Finale dieses very warm welcome noch eine Kuchenglocke. Er ist noch keine zwei Stunden im Land, da hält sie Ederson Vicente Rodrigues schon in Händen: seine erste sächsische Eierschecke. […]

Von den elf Brasilianern, die im Oktober 2020 bei nasskaltem Nieselregen den Dresdner Flughafen erreichten, sind ein gutes Jahr später acht noch da. An einem Montag Mitte November bekommen sie ihre Abschlusszeugnisse, wegen der steigenden Inzidenz vor nur ausgewähltem Publikum. "Feierliche Zertifikatsübergabe unserer brasilianischen Pflegefachkräfte" steht über dem Programm, ein Kellner flippert zwischen bespannten Stehtischen hin und her und verteilt alkoholfreie Cocktails. Nach der Feststunde ist ein Lunch für alle angesetzt, mit Maniok-Pfanne und Kokoskuchen als Nachtisch.

Es spricht zunächst Carsten Tietze, der Geschäftsführer. Er spricht über den Fachkräftemangel im Allgemeinen und über den in der Pflege im Besonderen. Der Versuch, ihn zu lindern, sei noch immer "ein Ziehen aller an einem viel zu kleinen Tischtuch". Mit Corona sei auch dieses Pilotprojekt noch einmal schwerer geworden, hinzu kamen "das Wetter, die Dunkelheit", sagt Tietze. Die Brasilianer lachen, als dieses Wort fällt: Dunkelheit. […]

Dann spricht Paula Jacob, die Integrationsbeauftragte der Klinik in Pulsnitz. […] Paula Jacob erzählt jetzt vom Zauber einer Whatsapp-Gruppe, sie habe in ihre immer wieder kleine Videos gestellt, zum Beispiel eine Demonstration der in Deutschland beliebten Kulturtechnik des Wegbringens von Pfandflaschen.

Schließlich geht Ederson Vicente Rodrigues nach vorne. Hart sei es gewesen anfangs. Acht Monate Deutsch lernen in Brasilien, dann der lange deutsche Winter. Und jetzt? "Unsere Zweifel sind ausgeräumt", sagt er. Noch einmal übernimmt der Beamer und zeigt Schnappschüsse, jetzt solche der Brasilianer in Deutschland – vor dem Dresdner Zwinger, am Brandenburger Tor, in der Sächsischen Schweiz. […]

Als Ederson Vicente Rodrigues […] erfuhr, dass er nach Deutschland kommen könnte, legte er noch in Brasilien los wie wild. Er schaute deutsche Fernsehsender, selbst wenn er kein Wort verstand. Er googelte Geschichtliches und auch, welches Essen hier üblich sei. Die Corona-Pandemie hat ihm das Ankommen jetzt vor allem außerhalb der Klinik erschwert. Aber Ederson Vicente Rodrigues hat sich einer Wandergruppe angeschlossen und freut sich darauf, wenn in der – wirklich wahr – Karnevalshochburg Pulsnitz eines Tages der sogenannte Bär wieder steppt.

Inzwischen ist er aus seiner ersten Wohnung mit den von der Klinik aufgebauten Ikea-Möbeln ausgezogen. Er hat das Dekorieren seiner eigenen Wohnung für sich entdeckt, und auch was das Essen betrifft, geht es, wenn man so will, voran. Am meisten Freude macht man Ederson Vicente Rodrigues nicht mit einer Maniok-Pfanne oder einem Stück Kokoskuchen, sondern – ganz klar – mit einer Currywurst.

Cornelius Pollmer und Henrike Roßbach, "We want you!", in: Süddeutsche Zeitung vom 2. Dezember 2021

QuellentextIntegration von Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt

[…] Der Bildungsgrad syrischer Geflüchteter in Deutschland ist deutlich höher im Vergleich zum Durchschnittsniveau in Syrien. So liegt der Anteil von in Deutschland lebenden Syrerinnen und Syrern mit mindestens einem Gymnasial-, Gesamtschul- oder berufsbildenden Abschluss bei über 45 Prozent, während im Jahr 2010 nur 22 Prozent der syrischen Bevölkerung in Syrien einen vergleichbaren Bildungsgrad hatte […]. Deutliche Unterschiede im Bildungsniveau zeigen sich auch zwischen syrischen Geflüchteten und der deutschen Bevölkerung. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Berufsausbildung. So haben nur 5 Prozent der erwachsenen syrischen Geflüchteten die Schule mit einer Berufsausbildung abgeschlossen, während der Anteil in der deutschen Bevölkerung bei 59 Prozent liegt. Allerdings haben viele syrische Geflüchtete ihre beruflichen Qualifikationen während der Erwerbstätigkeit erworben ("training on the job"), dafür aber nicht extra eine Ausbildung absolviert.

Weitere Auswertungen verdeutlichen, dass im zweiten Halbjahr 2018 fast 27 Prozent der 17- bis 25-jährigen in Deutschland lebenden syrischen Geflüchteten eine Berufsbildungseinrichtung, eine Fachhochschule oder eine Universität besucht oder an berufsbildenden Maßnahmen teilgenommen haben. Unzureichende Deutschkenntnisse, die verzögerte oder nicht mögliche Anerkennung von Bildungszertifikaten oder fehlende Bildungsnachweise sowie finanzieller Druck sind dabei entscheidende Hürden, welche die Teilhabe junger Syrerinnen und Syrer am deutschen Bildungssystem erschweren. […]

Grundsätzlich können soziale Kontakte einen Beitrag zur Integration von Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt leisten, indem sie beispielsweise Zugang zu Informationen oder Jobangeboten ermöglichen. Auf die Frage "Wer unterstützt Sie in Ihrem beruflichen Fortkommen oder Ihrer Ausbildung und hilft Ihnen, dass Sie vorankommen?" nannten die befragten syrischen Geflüchteten im Durchschnitt 2 Personen.

Dabei verfügen Frauen über ein etwas größeres arbeitsmarktbezogenes Netzwerk als Männer, welches sich vor allem aus Familienangehörigen zusammensetzt (z. B. Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde, Cousinen und Cousins). Daneben spielen auch das Alter und das Bildungsniveau eine Rolle: Jüngere sowie höher gebildete Geflüchtete verfügen über größere soziale Netzwerke. […] In Bezug auf nichtfamiliäre Netzwerkbeziehungen gaben 81 Prozent der Befragten mindestens eine aus Deutschland stammende Person an, wovon rund 13 Prozent professionell helfende Personen (bezahlte Helfer, Sozialhelfer, ambulanter Dienst) sind.

Die Beschäftigungsrate unter den syrischen Geflüchteten hat im Zeitverlauf deutlich zugenommen. Waren 2016 nur 13 Prozent der syrischen Geflüchteten erwerbstätig, hat sich dieser Anteil auf 32 Prozent im Jahr 2018 erhöht. Dabei arbeiteten gut 63 Prozent in Voll- oder Teilzeit und 19 Prozent befanden sich in einer entlohnten beruflichen Trainingsmaßnahme.

Weitere 18 Prozent gingen einer geringfügigen Beschäftigung nach. Die Daten zeigen deutliche Unterschiede in der Beschäftigungssituation zwischen Frauen und Männern, die allerdings mit der Aufenthaltsdauer in Deutschland abnehmen. […] Unterschiedliche familiäre Situationen von Frauen und Männern können diese Differenzen teilweise erklären: So sind syrische Frauen häufiger verheiratet und haben öfter Kinder als syrische Männer. Vor allem Mütter mit minderjährigen Kindern sind nur in geringem Maße erwerbstätig. […]

Für die Mehrheit der von syrischen Geflüchteten besetzten Stellen wird ein mittleres Qualifikationsniveau benötigt, wie etwa Verwaltungs- oder Assistenzjobs im Vertrieb oder im Pflegebereich. So arbeiteten 61 Prozent der syrischen Geflüchteten in fachlich ausgerichteten Tätigkeiten, 30 Prozent in Helfer- und Anlerntätigkeiten, 6 Prozent in hochkomplexen Tätigkeiten und 3 Prozent in komplexen Spezialistentätigkeiten […].

Weitere Analysen verdeutlichen, dass sich das Qualifikationsniveau der aktuellen Tätigkeiten beträchtlich von denjenigen vor der Zuwanderung in Syrien unterscheidet. So war die Mehrheit der Geflüchteten zuvor in Berufen mit mittleren bis hohen Qualifikationsanforderungen beschäftigt. Dabei muss allerdings mitberücksichtigt werden, dass sich die Arbeitsmarktstrukturen (z. B. hinsichtlich des technologischen Niveaus oder der Produktions- und Organisationsprozesse) zwischen Syrien und Deutschland deutlich unterscheiden, was einen Vergleich der Beschäftigungsstruktur zwischen beiden Ländern erschwert. […]

Im direkten Vergleich liegt das monatliche Bruttoeinkommen der syrischen Geflüchteten bei fast 60 Prozent des Einkommens der deutschen Vollzeitbeschäftigten. […]

Die Befunde verdeutlichen insgesamt eine positive Entwicklung der Arbeitsmarktintegration syrischer Geflüchteter in Deutschland in einem relativ kurzen Zeitraum […]. Trotz dieser positiven Bilanz muss hinsichtlich der Integration von Geflüchteten in Deutschland noch viel geleistet werden (z. B. der Abbau von bürokratischen Hürden, gerade bei der Anerkennung von nicht in Deutschland erworbenen Bildungsabschlüssen oder Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, um die Erwerbstätigkeit von Müttern zu fördern). Zudem deuten die Auswertungen darauf hin, dass der Integrationsprozess gerade zu Beginn sehr fragil sein kann. Dementsprechend muss gerade in Krisenzeiten der Fokus auch darauf liegen, bereits erreichte Integrationsprozesse zu schützen und gleichzeitig neue Chancen aus der Krise zu ziehen. […]

[Der Autor] untersucht[e] die Arbeitsmarktintegration syrischer Geflüchteter in Deutschland anhand der Geflüchteten-Stichprobe des Sozio-oekonomischen Panels (IAB-BAMF-SOEP)]

Kamal Kassam, "Angekommen auf dem Arbeitsmarkt?", in: Bevölkerungsforschung Aktuell 4|2021 Analysen, S. 3–7

Dagegen ist das primäre Ziel bei der Aufnahme von geflüchteten Menschen und Familien, ihnen Schutz vor Kriegen oder politischer Verfolgung zu gewähren. Diese Menschen werden nicht nach ihren Potenzialen für den deutschen Arbeitsmarkt ausgewählt. Häufig bringen Geflüchtete auch nicht die nötigen beruflichen Qualifikationen mit. Wenn sie ein langfristiges Bleiberecht haben und die deutsche Sprache lernen, ist aber nach einigen Jahren ein relevanter Teil von ihnen erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt integriert. Eine Studie des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) hat gezeigt, dass die aktive Arbeitsmarktpolitik hier eine wichtige Rolle spielen kann, auch hinsichtlich einer Reduzierung der Geschlechterdifferenz in den Beschäftigungsquoten.

Ein Blick auf die Bildungsabschlüsse der Zugewanderten ergibt ein sehr heterogenes Bild: Bei Menschen, die im Alter von 18 Jahren und älter nach Deutschland kamen, haben 23 Prozent einen Hochschulabschluss, ihr Anteil ist damit sogar leicht höher als in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (20 Prozent). Bei den Zugewanderten aus EU-Ländern liegt der Anteil mit 32 Prozent sogar noch deutlich höher. Es sind auch sehr viele Menschen ohne Berufsabschluss (41%) nach Deutschland eingewandert, was ebenfalls im Kontext des deutschen Berufsbildungssystems zu sehen ist. Bei Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren sind, beträgt dieser Anteil 28 Prozent. Dies sind deutlich höhere Werte als in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, in der 13 Prozent keinen beruflichen Abschluss aufweisen können.

Inwieweit eine Erhöhung der Zuwanderung eine sinnvolle Strategie zur Beeinflussung des demografischen Wandels ist, ist auch aus anderen Gründen umstritten. Zuwanderung kann zwar kurz- und mittelfristig den Fachkräftemangel reduzieren, ist allerdings auch mit Integrationsherausforderungen verbunden. Hier sind die Größenordnungen entscheidend: Da in den 2020er-Jahren jedes Jahr etwa 350.000 Erwerbspersonen mehr in Rente gehen als junge Arbeitskräfte nachkommen, müsste Jahr für Jahr eine enorm hohe Zahl an Fachkräften angeworben werden. Nach einer Vorausberechnung im Jahr 2020 wird die Zahl der Erwerbspersonen bis 2030 um 3,5 Millionen zurückgehen. In dieser Berechnung ist bereits ein Wanderungssaldo von 221.000 Zuwandernden – Erwerbspersonen einschließlich Familienmitglieder – pro Jahr berücksichtigt.

Das bedeutet, dass in den 2020er-Jahren selbst bei einer Zuwanderung von jährlich 221.000 Arbeitskräften durchschnittlich rund 350.000 mehr Personen in Rente gehen als junge Arbeitskräfte nachkommen. Wie hoch die jährliche Zuwanderung sein müsste, um diesen Fachkräftemangel auszugleichen, zeigt folgende Berechnung: Da zugewanderte Arbeitskräfte oft mit Familie einwandern, wäre die reale Zuwanderung deutlich höher. Bei einem durchschnittlichen Familienanteil von 1,8 pro zugewanderter Arbeitskraft müssten pro Jahr insgesamt 630.000 Menschen (350.000*1,8) nach Deutschland kommen, um den Rückgang von 350.000 Arbeitskräften auszugleichen. Zusammen mit den angenommenen 211.000 wären es 841.000 zuwandernde Personen jedes Jahr. Dies ist nicht nur illusorisch hinsichtlich des Integrationspotenzials, sondern auch hinsichtlich des Angebots an gut ausgebildeten Fachkräften, die aus anderen Ländern gewonnen werden müssten.

Deutschland benötigt zweifellos Fachkräften aus dem Ausland. Dem demografisch bereits angelegten Rückgang der Erwerbspersonen ist jedoch teilweise auch durch andere Faktoren zu begegnen. Dazu gehört eine Aktivierung des Erwerbspersonenpotenzials: ein weiterer Anstieg der Erwerbstätigkeit von Frauen, ein Anstieg ihres Erwerbsumfangs (z.B. Arbeitsstunden insbesondere bei Frauen, die Teilzeit arbeiten und die Stundenzahl erhöhen möchten), eine Erhöhung der Erwerbsquoten älterer Menschen anstelle von Frühverrentung, ein Anstieg des Renteneintrittsalters und ein Rückgang der Arbeitslosigkeit. Diese fünf Stellschrauben wurden bereits in den vergangenen Jahren genutzt, bergen aber noch weitere Potenziale. Darüber hinaus ist ein weiterer Anstieg der Produktivität und teilweise auch die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland unabdingbar. Der Arbeitsmarkt ist dynamisch. Ein statisches Verständnis, wonach jede heute geleistete Arbeitsstunde auch in 10 Jahren eins zu eins ersetzt werden muss, geht an ökonomischen Dynamiken vorbei, da unter anderem die Produktivität pro geleisteter Arbeitsstunde ansteigt.

Während Zuwanderung den Fachkräftemangel zu einem gewissen Teil abfedern kann, löst sie jedoch kaum die Probleme der Sozialsysteme. Dazu kommt, dass zugewanderte Arbeitskräfte auch oft Familien haben und später auch potenziell Renten beziehen werden.

Folgen des demografischen Wandels gestalten

Demografiepolitik der Bundesregierung

Nachdem in der Vergangenheit verschiedene demografiepolitische Maßnahmen in Kommunen, Bundesländern und einzelnen Bundesministerien eingeführt wurden und auch der Deutsche Bundestag von 1992 bis 2002 eine Enquete-Kommission mit dem Titel "Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik" eingerichtet hatte, bündelt die Bundesregierung die Demografiepolitik seit 2009 zentral. Im Jahr 2012 stellte die Bundesregierung eine Demografiestrategie vor. Dies ordnete die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel folgendermaßen ein: "Der demografische Wandel bedeutet neben den Fragen der Globalisierung wahrscheinlich die größte Veränderung unseres gesellschaftlichen Lebens, aber auch des persönlichen Lebens jedes Einzelnen in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts". Auf den demografischen Wandel zu reagieren und dessen Folgen zu gestalten, erfordert eine Querschnittspolitik, bei der verschiedene Ministerien relevant sind. Zudem muss diese Politik auf verschiedenen Ebenen stattfinden: Bund, Länder und Kommunen. Angesichts der Bedeutung des demografischen Wandels wurde bereits mehrfach die Forderung eines eigenen Demografieministeriums gestellt – ähnlich wie auch bei anderen Megathemen wie Klima oder Digitalisierung – bisher jedoch noch nicht realisiert.

Die Demografiepolitik wird vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) koordiniert, wobei andere Ministerien und die Landes- und Kommunalebene in die Arbeit eingebunden werden. Bei dieser politischen Koordination geht es im Kern darum, Daten zusammenzutragen, gemeinsame Ziele zu definieren, die Handlungsfelder zu benennen und sich in ressortübergreifenden Arbeitsgruppen zu organisieren. Nachdem der erste Demografiebericht im Jahr 2011 primär eine Zusammenstellung der Daten und Zahlen darstellte, wurde im Folgejahr eine erste Demografiestrategie entwickelt. In den folgenden Jahren gab es mehrere Demografiegipfel und Demografieberichte ("Bilanz" und "Radar"), auf deren Grundlage die Demografiestrategie weiterentwickelt wurde.

Durch ihre Demografiepolitik versucht die Bundesregierung, der negativen Konnotation des demografischen Wandels in vielen Medien ein positives Leitbild gegenüberzustellen. So lautet der Titel der Demografiestrategie: "Jedes Alter zählt – Für mehr Wohlstand und Lebensqualität aller Generationen". Bei der Demografiepolitik haben sich vier übergreifende Ziele herauskristallisiert: (1) das wirtschaftliche Wachstumspotenzial stärken, (2) den sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt verbessern, (3) gleichwertige Lebensverhältnisse in den Regionen fördern sowie (4) solide Finanzen und die Verlässlichkeit der sozialen Sicherungssysteme sichern.

Die Demografiepolitik wird in zehn Arbeitsgruppen organisiert, die sich aus den jeweils relevanten politischen Ebenen sowie Sozialpartnern und Akteuren aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammensetzen. Fünf Arbeitsgruppen haben zum Ziel, Bildungs- und Arbeitsangebote zu stärken, unter anderem durch die "Mobilisierung aller Potenziale zur Sicherung der Fachkräftebasis", indem sie "ausländisches Arbeitskräftepotenzial erschließen" und den "öffentlichen Dienst als attraktiven und modernen Arbeitgeber" entwickeln. Diese Arbeitsgruppen sollen identifizieren, wie das wirtschaftliche Wachstum und die Sozialsysteme gestärkt werden können. Das Ziel des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird vor allem durch die Generationen- und die Gesundheitspolitik verfolgt. So gibt es zwei Arbeitsgruppen für Familie und Jugend sowie zwei für ältere Generationen, die sich mit dem "selbstbestimmten Leben im Alter" und dem Thema Demenz auseinandersetzen. Eine weitere Arbeitsgruppe widmet sich den gleichwertigen Lebensverhältnissen in Stadt und Land.

Die Politik versucht auf diesem Wege, den Herausforderungen des demografischen Wandels zu begegnen und diese zu steuern, ohne ein eigenes Demografieministerium einrichten zu müssen. Das ist teils sinnvoll, da der demografische Wandel ein Querschnittsthema ist. Die meisten Ministerien haben Demografiereferate und in der Regierungsarbeit müssen oft verschiedene Ministerien an größeren Vorhaben zusammenarbeiten. Letztlich sind viele Maßnahmen der Demografiepolitik Maßnahmen der klassischen Politikfelder, nur sind die Herausforderungen aufgrund der demografischen Entwicklungen größer geworden.

Konsequenzen des demografischen Wandels für verschiedene Politikfelder

Gesundheitspolitik: Durch den steigenden Anteil hochbetagter Menschen steigt auch der Bedarf an Pflege und gesundheitspolitischen Maßnahmen. Da das Risiko einer Demenzerkrankung mit dem Alter zunimmt, wird der demografische Wandel auch zu einer starken Zunahme von dementen Menschen in den nächsten Jahrzehnten führen. Wichtige politische Handlungsfelder sind eine nachhaltige Finanzierung von Kranken- und Pflegeversicherung, Ausbildung und Gewinnung zusätzlicher Fachkräfte im Gesundheitswesen, die Unterstützung familialer häuslicher Pflege, die Bereitstellung altengerechter Wohnungen und Heimplätze sowie Verbesserungen von Prävention und Früherkennung, vor allem gegenüber den verbreiteten Volkskrankheiten. Bei der Pflege kann die Förderung sozialer Innovationen hilfreich sein, wenn beispielsweise Pflegeteams digitale Möglichkeiten nutzen, sich mit Familie, Nachbarschaft und medizinischem Fachpersonal zu vernetzen.

Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik: Unternehmen benötigen gut ausgebildete Fachkräfte. Auch der öffentliche Dienst muss stärker als zuvor um Fachkräfte werben. Durch den Rückgang des Potenzials an Erwerbspersonen in den nächsten Jahren um mehrere Millionen Menschen ist die Aktivierung vorhandener Potenziale, wie etwa durch die Steigerung der Erwerbstätigkeit von gut ausgebildeten Müttern, ein wichtiges Handlungsfeld.

Je knapper das Arbeitskräfteangebot wird, desto stärker rücken Personen ohne Abschluss in den Fokus. Dies sollte die Bemühungen um eine gute schulische und berufliche Bildung verstärken. Zudem ist die aktive Arbeitsmarktpolitik infolge des demografischen Wandels von besonderer Bedeutung. Die Innovationskraft in einer alternden Gesellschaft ist eine zentrale wirtschaftspolitische Herausforderung, um die Wettbewerbsfähigkeit in globalen Märkten zu erhalten. Aber auch nachfrageseitig beeinflusst die Alterung die Wirtschaftspolitik und die Unternehmen, da ältere Menschen andere Konsumbedürfnisse haben.

Regionale Daseinsfürsorge: Ländliche Räume mit Abwanderungstendenzen müssen einerseits gestärkt und attraktiver gemacht werden. Dazu zählt die Bereitstellung von digitaler Infrastruktur, Sportstätten und Kultur, aber auch die Nutzung innovativer Angebote wie Co-Working-Space, in dem beispielsweise Freiberufler oder Personen arbeiten, deren Tätigkeit primär digital erfolgt, da eine tägliche Präsenz beim Arbeitgeber nicht notwendig ist. Dadurch kann Wohnen auf dem Land mit einer Arbeit aus dem Homeoffice und lediglich sporadischen Besuchen beim Arbeitgeber in der Stadt künftig eine stärker genutzte Variante werden. Zudem kann eine gezielte Ansiedlung von Behörden und Unternehmen in strukturschwachen Räumen sinnvoll sein. Andererseits werden teilweise auch infrastrukturelle Anpassungen notwendig, wie beispielsweise die Zusammenlegung von Schulen oder die Anpassung der Abwasserversorgung und Verkehrsinfrastruktur.

Verkehrspolitik: Die Verkehrspolitik steht durch den demografischen Wandel vor großen Herausforderungen, jedoch in unterschiedlichen Richtungen: Durch die Binnenwanderung in einige Metropolen wie München, Stuttgart, Düsseldorf, Berlin oder das Rhein-Main-Gebiet stößt dort eine autofixierte Verkehrspolitik zunehmend an ihre Grenzen, was sich an der Verkehrsdichte und dem begrenzten Parkraum zeigt. Umgekehrt ist bei ländlichen Räumen mit Bevölkerungsrückgang die Mobilität zu sichern, auch um den Zugang zu Geschäften, Kulturangeboten oder der medizinischen Versorgung zu gewährleisten. Da sich stündlich fahrende Linienbusse oft nicht mehr lohnen, sind kreative Angebote des öffentlichen Personennahverkehrs notwendig, beispielsweise Anruf-Sammeltaxis oder Carsharing-Angebote wie "Dorfautos".

Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Innenpolitik: Sowohl zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft als auch zwischen unterschiedlichen Generationen ist der gesellschaftliche Zusammenhalt zu festigen. Durch die hohe Zuwanderung der vergangenen Jahre ist die Integration von besonderer Bedeutung. Dazu gehört der Erwerb der deutschen Sprache und die Verinnerlichung von Grundwerten wie der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung. Dabei sind die Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt und die frühkindliche und schulische Bildung von großer Bedeutung. Angesichts unterschiedlicher Lebenswelten von Generationen und den geringeren Anteil an Kindern und Jugendlichen ist dafür Sorge zu tragen, dass ihre Bedarfe nicht durch die der älteren Mehrheitsgesellschaft übersehen werden. Soziale Innovationen wie Mehrgenerationenhäuser können den intergenerationalen Zusammenhalt stärken. Zivilgesellschaftliches und ehrenamtliches Engagement aller Generationen und Bevölkerungsgruppen sind ein Schlüssel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, ob Feuerwehr, Kultur, Kirche, Sportverein oder das Engagement in Nichtregierungsorganisationen oder sozialen Bewegungen.

Familienpolitik: Die Familienpolitik spielt also nicht nur eine Rolle dabei, demografische Prozesse wie die Geburtenrate zu beeinflussen, sondern auch bei der Reaktion auf den Fachkräftemangel. Um die Erwerbstätigkeit von Müttern weiter zu fördern, ist ein weiterer Ausbau von qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung, Ganztagsschulangeboten und haushaltsnaher Dienstleistungen notwendig. Auch bei der Integration von Zugewanderten, insbesondere mit Fluchthintergrund, werden familienpolitische Maßnahmen wie beispielsweise Elternbegleitung für geflüchtete Familien und spezielle Programme für Mütter öfters nachgefragt.

Bildungspolitik: Die Bildungspolitik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist im Kontext des demografischen Wandels aus mehreren Gründen von besonderer Bedeutung. Für die Planung des Bedarfs an zukünftigen Lehrkräften orientieren sich Kultusministerien und Schulämter an der Zahl der zukünftigen Schülerinnen und Schüler auf Basis regionaler Bevölkerungsvorausberechnungen. Da die jüngeren Jahrgänge zahlenmäßig kleiner sind, müssen sie umso besser ausgebildet werden, da sich das Humanvermögen einer Gesellschaft aus dem Produkt von Anzahl und "Qualität" zusammensetzt. Dies beginnt bereits bei der frühkindlichen Bildung in Kitas. Infolge der Zuwanderung ist zudem ein frühzeitiger Erwerb der Sprache wichtig. Zudem bedeutet ein späteres Renteneintrittsalter, dass die regelmäßige Weiterbildung, bei körperlich beanspruchenden Berufen auch Umschulung, noch wichtiger wird.

Außenpolitik und Europäische Union: Der Anstieg der Bevölkerungsgröße vor allem in Afrika und Asien bei gleichzeitiger Stagnation in Deutschland und vielen europäischen Ländern führt dazu, dass das relative demografische Gewicht Deutschlands abnimmt. Der demografische Wandel ist ein weiteres Argument für die Notwendigkeit der europäischen Integration. Ohne die gemeinsame Stimme durch die EU wäre Deutschland allein aus demografischen Gründen zunehmend zu klein, um seine Interessen international erfolgreich verfolgen zu können. Dies gilt für internationale Handelsverträge, den europäischen Binnenmarkt sowie für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU.

Darüber hinaus wirkt sich der demografische Wandel auch auf weitere Politikfelder aus. In der Bau- und Wohnungspolitik ist die Bevölkerungsgröße ein zentraler Faktor. Zudem bekommt in einer alternden Gesellschaft das Thema altersgerechtes Wohnen eine besondere Größenordnung. Dazu gehören Barrierefreiheit in der Wohnung und bei angrenzenden Verkehrsflächen, Platz für Stützvorrichtungen im Badezimmer oder Fahrstühle in mehrgeschossigen Häusern. Für die Finanzpolitik ist der demografische Wandel eine Herausforderung, da bei einer Schrumpfung die Schulden pro Kopf steigen und durch die Alterung weniger Personen im Erwerbsalter sind und Einkommenssteuer zahlen. Eine nachhaltige Finanzpolitik orientiert sich an längeren Zeithorizonten und damit spielen auch Bevölkerungsvorausberechnungen eine wichtige Rolle. Für die Klima- und Entwicklungspolitik ist das weltweite Bevölkerungswachstum ein relevanter Faktor.

Kommt die Rente mit 69?

Die wohl gravierendsten Auswirkungen hat der demografische Wandel auf die Sozialsysteme. Sie können kaum allein durch die Hebung der Arbeitskräftepotenziale von Frauen, Zugewanderten und Personen ohne beruflichen Abschluss ausgeglichen werden. Um ein auskömmliches Rentenniveau zu sichern und den Anstieg der Beitragssatzsteigerungen – und damit der Lohnnebenkosten – zu begrenzen, ist langfristig auch das gesetzliche Renteneintrittsalter eine wichtige Stellschraube.

Als die Große Koalition im Jahr 2007 die Rente mit 67 beschloss, wurde diese vielfach kritisiert, insbesondere von Gewerkschaften und den Oppositionsparteien. Besonders bei älteren Menschen war diese Maßnahme unbeliebt, obwohl diese davon gar nicht betroffen waren, da der Anstieg des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 sich über den Zeitraum von 2012 bis 2031 in gleichmäßigen Schritten vollziehen sollte. Pro Jahr erfolgt der Renteneintritt seitdem ein bis zwei Monate später. Zudem sind lediglich Personen, die nach dem Jahr 1964 geboren wurden, vom erhöhten Renteneintrittsalter betroffen. Bei der Verabschiedung der Reform waren sie 43 Jahre oder jünger. Versicherungsmathematisch verschlechtern sich die Renditen für die Versicherten durch eine Anhebung des Renteneintrittsalters. Die zusätzlichen Beiträge erhöhen zwar die Rente, diese wird jedoch kürzer ausgezahlt als ohne Reform. Andererseits steigt die Lebenserwartung und damit auch die durchschnittliche Dauer des Rentenbezugs.

QuellentextAnstieg des Renteneintrittsalters

Die Abbildung zeigt, wie die Rente mit 67 den Anstieg des Altenquotienten im Vergleich zur Rente mit 65 gebremst hat bzw. bremsen wird und welchen Einfluss ein Anstieg des Renteneintrittsalter auf den zukünftigen Altenquotienten hat. Zur Erinnerung: Der Altenquotient 20/65 drückt die Zahl der über 65-Jährigen (potenziellen Rentnerinnen und Rentner) je 100 potenziell Erwerbstätigen zwischen 20 und 65 Jahren aus. Lag der Altenquotient 20/65 im Jahr 2011 noch bei 33,9 wäre dieser bis 2031 auf 48,4 angestiegen, also fast um die Hälfte, – ein gravierender Anstieg für ein umlagefinanziertes Sozialsystem (siehe Kapitel "Interner Link: Die Folgen des demografischen Wandels"). Beim Renteneintrittsalter mit 67 Jahren ist der Altenquotient 20/67 relevant, der 2031 dann bei 40,4 liegen wird. Die Rente mit 67 hat also dafür gesorgt, dass im Jahr 2031 auf 100 potenziell Erwerbstätige nicht 48, sondern nur 40 potenzielle Rentnerinnen und Rentner kommen.

Wie wir heute bereits wissen, wird der Altenquotient auch zwischen 2031 und 2038 weiter stark ansteigen; in der Variante 20/67 von 40,4 auf 46,7. Danach findet eine Seitwärtsbewegung statt, zwischen 2038 und 2050 steigt der Altenquotient nur minimal von 46,7 auf 46,8. Der steile Anstieg in den 2030er-Jahren wird eine große Herausforderung für das Rentensystem. Was würde eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters bewirken? Die Rente mit 69 könnte den Altenquotienten bis zum Jahr 2050 bei etwa 40 halten, also dem Wert des Jahres 2031, wenn der Übergang des Rentenalters auf 67 Jahre abgeschlossen ist. Bei einer Rente mit 68 würde der Altenquotient bis 2038 bis 43,4 steigen und bis 2050 etwa auf diesem Niveau bleiben.

Eigene Berechnungen basierend auf Ergebnissen der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Bundes und der Länder (Variante 2)

Da das Renteneintrittsalter nicht innerhalb eines Jahres "springt", ist ein Blick auf die gleichmäßigen Übergänge eines (zwei-)monatlichen Anstiegs sinnvoll: Würde der jährliche Anstieg des Renteneintrittsalters um zwei Monate (also das Tempo der Rente mit 67 zwischen 2024 und 2031) beibehalten, wäre im Jahr 2038 ein Renteneintritt mit 68 realisiert. Bei einem Anstieg von 67 auf 69 Jahre von 2031 bis 2038 müsste das Renteneintrittsalter jedes Jahr um vier Monate ansteigen, was deutlich über dem jährlichen Anstieg der Lebenserwartung liegt. Bezüglich eines steilen Anstiegs des Renteneintrittsalters wird gelegentlich argumentiert, dass das Renteneintrittsalter von 65 früher lange nicht angehoben wurde, obwohl die Lebenserwartung deutlich gestiegen ist. Andererseits könnte bei einem zweimonatlichen Anstieg die Rente mit 69 im Jahr 2045 erreicht werden, dann läge der Altenquotient 20/69 bei 40,5.

Ein Anstieg des Renteneintrittsalters auf 68 Jahre bis 2038 ist ein realistisches Szenario. Eine weitere Erhöhung wäre theoretisch denkbar. Ob eine dieser Varianten kommen wird, kann aus heutiger Sicht nicht abschließend beurteilt werden. Dies ist eine weitgehende politische Entscheidung. Sicher ist jedoch: Der Altenquotient 20/65 von 34 in 2010, der bis 2050 auf 54 steigen würde, würde in der Variante 20/68 in 2050 bei knapp 44 liegen. Etwas mehr als die Hälfte des Anstiegs des Altenquotienten zwischen 2010 und 2050 ließe sich also mit einer Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 auf 68 ausgleichen. Das Renteneintrittsalter ist ein hochgradig effektiver Hebel, um den gravierendsten Nachteil des demografischen Wandels für die Sozialsysteme zu einem Teil abzumildern.

Ein Argument für die Anhebung des Renteneintrittsalters ist häufig die steigende Lebenserwartung: Wenn Menschen länger leben, können sie auch etwas länger arbeiten. Es gibt Vorschläge, für das Renteneintrittsalter einen demografischen Faktor einzuführen, nach dem die gestiegene Lebenserwartung zu zwei Dritteln die Arbeitszeit und zu einem Drittel die Rentenbezugszeit verlängert oder beides zur Hälfte. Hier lohnt sich ein genauer Blick: In den beiden Jahrzehnten von 1999 bis 2019 ist die Lebenserwartung um 2,1 Monate pro Jahr gestiegen, die fernere Lebenserwartung der 60-Jährigen um 1,4 Monate. Insofern ist ein Anstieg des Renteneintrittsalters um zwei Monate pro Jahr relativ viel, da er dem kompletten Anstieg der jährlichen Lebenserwartung entspricht. Eine solche Anhebung des Rentenalters muss folglich eine Ausnahme sein, die durch die verspätete Reform des Renteneintrittsalters und den rapiden Anstieg des Altenquotienten in bestimmten Phasen gerechtfertigt werden kann.

(© picture-alliance, dpa-infografik, Globus 13 604; Quelle: Deutsche Rentenversicherung)

Hier lohnt ein Blick in die Geschichte: Nachdem die Rentenversicherung 1889 eingeführt wurde, lag das Renteneintrittsalter im Jahr 1900 bei 70 Jahren – also deutlich höher als heute. Dies ist bemerkenswert, weil damals die Lebenserwartung deutlich geringer war als heute und auch der Arbeitsschutz nicht so weit entwickelt war. Das Renteneintrittsalter ist dann 1911 für Angestellte und 1916 für Arbeiter auf 65 Jahre abgesenkt worden.

Für eine Erhöhung des Renteneintrittsalters gibt es zudem aber einige ernstzunehmende Gegenargumente: Nicht alle Menschen können arbeiten bis sie 67, 68 oder gar 69 Jahre alt sind. Zum einen verfügen nicht alle über die benötigte Gesundheit, sodass der Anteil von Personen, die frühverrentet werden, bei einem Anstieg des Renteneintrittsalters automatisch zunimmt. Verbesserungen der gesundheitlichen Prävention könnten dem entgegenwirken. Zum anderen gibt es Berufe, die körperlich anspruchsvoll sind und die mit Mitte 60 weniger gut oder überhaupt nicht mehr ausgeübt werden können. Dies betrifft beispielsweise Personal in der Pflege und im Baugewerbe, hier ist die Erhöhung der beruflichen Flexibilität wichtig. Zudem wünschen sich viele Menschen schon einen früheren Renteneintritt, der bei einer Erhöhung des Renteneintrittsalters mit Kürzungen der Rentenhöhe einhergehen würde. Auch die Probleme älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, bei Arbeitslosigkeit wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, sind zu bedenken.

Andererseits ist die Arbeitslosigkeit vor allem bei den Älteren im Jahr 2020 deutlich geringer als Mitte der 2000er-Jahre, in denen die Rente mit 67 diskutiert und beschlossen wurde. Auch die Frühverrentungspraxis hat sich deutlich reduziert, der Anteil der Beschäftigten im Alter von 60 bis 64 ist erheblich angestiegen, von 39 Prozent in 2009 auf 62 Prozent in 2019. Für eine Erhöhung des Renteneintrittsalters spricht auch die Generationengerechtigkeit, denn sonst manifestiert sich der demografische Wandel in höheren Lohnnebenkosten oder geringerem Rentenniveau in der Zukunft. Angesichts der Vielfältigkeit der beruflichen Tätigkeiten ist eine gewisse Differenzierung zwischen Berufsgruppen sinnvoll. Die Möglichkeit zum abschlagsfreien zwei Jahre vorgezogenen Renteneintritt ("Rente mit 63") trägt dem insofern Rechnung, als Menschen, die mindestens 45 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt haben, früher in Rente gehen können. Dies betrifft vor allem gut qualifizierte männliche Fachkräfte mit nichtakademischen Berufen. Zudem verstärkt die Erhöhung des Renteneintrittsalters die Anreize der beruflichen Weiterbildung, damit Menschen mit körperlich anstrengenden Berufen frühzeitig in eine andere Tätigkeit wechseln können, beispielsweise Pflegepersonal in die Organisation von Pflegeinrichtungen.

QuellentextEin Ausblick in fünf Thesen von Martin Bujard

Im Folgenden werden fünf Thesen formuliert, die zentrale zukünftige Entwicklungen und Handlungsfelder des demografischen Wandels ansprechen:

1. Deutschland wird älter, bunter und mobiler

Der demografische Wandel ist eines der zentralen gesellschaftlichen und politischen Themen der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts und wird auch Deutschland grundlegend verändern. Dass er in der Politik und in den Medien zu einem solchen Megathema geworden ist, liegt zu einem großen Teil an der niedrigen deutschen Geburtenrate, die seit mehr als vier Jahrzehnten sinkt bzw. stagniert und deren Auswirkungen auf die Altersstruktur und das Rentensystem in den nächsten Jahren zunehmend sichtbarer werden wird. Dies wird sich im Freizeitverhalten, in der Politik, in den Medien, beim ehrenamtlichen Engagement und in Vereinen bemerkbar machen. So wird das Bild der alternden Bevölkerung im Alltag, im öffentlichen Raum, in Fußgängerzonen, Cafés, Parks sowie in Bus und Bahn sichtbar werden.

Wir wissen bereits heute, dass die deutsche Bevölkerung deutlich älter wird, da die Lebenserwartung steigt und die älteren Jahrgänge größer sind als die nachrückenden jüngeren. Es wird eine größere Nachfrage nach Plätzen in Alten- und Pflegeheimen geben, aber auch viele Seniorinnen und Senioren, die ihren Hobbys nachgehen und reisen, da sie länger gesund und aktiv sein werden als die Generationen vor ihnen.

Deutschland wird außerdem mobiler. Mehr Menschen werden eine Zweitwohnung haben und Familien werden zunehmend an verschiedenen Orten leben, sodass mehr Mobilität erforderlich ist, damit sich Verwandte und Freunde regelmäßig sehen können. Die Coronavirus-Pandemie und die damit verbundenen Homeoffice-Erfahrungen werden zu einer stärkeren räumlichen Trennung von Wohnort und Arbeitsstätte für viele Menschen führen.

Auch die hohe Zuwanderung, die sich seit 2015 verstärkt hat, ist ein zentrales Element des demografischen Wandels. Deutschland wird "bunter" in Bezug auf Sprachen, Kulinarik, Religionen und kulturelle Prägungen, da zunehmend Menschen mit Zuwanderungsgeschichte aus verschiedensten Herkunftsländern in Deutschland leben werden. Diese Diversität kann einerseits Nachteile aufweisen, wenn kulturelle Spannungen und Gettoisierungen zunehmen, andererseits eine Bereicherung in mehrerlei Hinsicht sein. Viele Menschen haben bereits jetzt Verwandte im Ausland, sodass internationale Migration in beide Richtungen zunehmen wird und viele Menschen Kenntnisse über andere Länder gewinnen und so ihren Horizont erweitern und andere Perspektiven kennenlernen können.

2. Die wichtigste Antwort auf den demografischen Wandel heißt Bildung

Dem Arbeitsmarkt werden künftig weniger Menschen zur Verfügung stehen, daher müssen diese (noch) besser ausgebildet werden. Hinzu kommt, dass Deutschland als Exportland in einem globalen Wettbewerb steht, sowohl die Industrie als auch der Dienstleistungssektor benötigen gut ausgebildete Arbeitskräfte für die vielen digitalen und wissensbasierten Arbeitsplätze der Zukunft. Ökonomisch gesprochen wird die geringere Erwerbspersonenzahl durch höheres Humankapital ersetzt, das heißt durch eine höhere Produktivität des Einzelnen ausgeglichen, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten.

Bei Menschen mit Zuwanderungsbiografie sind Bildungsunterschiede stark ausgeprägt. Sie unterscheiden sich unter anderem nach den jeweiligen Herkunftsländern, dem Alter bei der Zuwanderung und der Inanspruchnahme der frühkindlichen und schulischen Bildungsangebote in Deutschland. Während laut Mikrozensus 2018 etwa 36 Prozent aller Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund aufwiesen, waren dies auf dem Gymnasium 30 Prozent und auf der Hauptschule fast doppelt so viele (57 %). Da unter jungen Menschen mit Migrationshintergrund der Anteil ohne beruflichen Abschluss sehr hoch ist und auch der Anteil junger Menschen mit Migrationshintergrund steigt, ist eine bessere Bildung dieser Gruppe eine zentrale Herausforderung des demografischen und gesellschaftlichen Wandels. Dazu gehört auch die Einbindung der Eltern, insbesondere in Familien mit einem vergleichsweise geringen Bildungshintergrund. Der Ausbau einer qualitativ hochwertigen frühkindlichen Bildungsinfrastruktur ist dafür nicht nur effektiv, sondern auch effizient. Vor allem für Kinder, deren Familien zu Hause nicht deutsch sprechen, sind gute Kitas und frühe Sprachförderangebote sehr wichtig.

Der Anteil von Hochschulabsolventen an den Erwerbspersonen wird weiter steigen. Die Akademikerquote lag Anfang der 1980er-Jahre noch unter 10 Prozent, im Jahr 2010 bei 17 Prozent und sie wird bis 2030 auf 26 Prozent ansteigen. Im Jahr 2020 hatten erstmals mehr als 10 Millionen Erwerbspersonen einen Hochschulabschluss, das entspricht etwa 23 Prozent. In den jüngeren Altersgruppen ist dieser Anteil noch deutlich höher. Entgegen manch gegenteiliger Aussagen trifft dies auf eine hohe Nachfrage nach Hochschulabsolventen auf dem Arbeitsmarkt. Allerdings werden auch Personen mit dualer Berufsausbildung weiterhin sehr gefragt sein. Diese bleiben für Industrie, Handwerksberufe und personenbezogene Dienstleistungsberufe in der Gastronomie oder im Gesundheitssektor nach wie vor wichtig. Ein Potenzial der Bildungspolitik liegt darin, den Anteil an Erwerbspersonen ohne Schul- oder Berufsabschluss zu reduzieren. Im Jahr 2019 waren dies 8,1 Millionen Personen, was einem Anteil von 18 Prozent aller Erwerbspersonen entspricht.

Letztlich sollte über den gesamten Lebensverlauf in Bildung investiert werden, wenn wir in Anbetracht des demografischen Wandels unseren Wohlstand bewahren oder sogar mehren möchten. Dies betrifft frühkindliche Bildung, Grundschulbildung, Sekundarschulbildung, Berufsbildung und Hochschulbildung sowie betriebliche und außerbetriebliche Weiterbildung. Bildungsinvestitionen zahlen sich nicht nur für die Individuen, sondern auch für die Gesellschaft vielfach aus, etwa in Form höherer zukünftiger Steuereinnahmen und Sozialabgaben. Zudem stärken sie die Chancen der individuellen Teilhabe, unter anderem an Kultur, Freizeit, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft.

3. Wir werden weniger über Schrumpfung diskutieren und mehr über Migration

Während über Jahrzehnte hinweg angekündigt wurde, dass Deutschland schrumpfen wird, ist dies aus heutiger Sicht noch völlig offen. Mit 83 Millionen Einwohnern ist Deutschland heute größer als noch vor einigen Jahrzehnten. Die Menschen sorgen sich eher um steigende Mietpreise als um einen Rückgang der Bevölkerung vor Ort. Der Hauptgrund für das Ausbleiben der Schrumpfung ist die hohe kontinuierliche Zuwanderung von rund 300.000 Menschen pro Jahr seit der Wiedervereinigung. Diese ist vor allem auf exogene Faktoren wie Kriege im ehemaligen Jugoslawien und Syrien sowie auf die große Zuwanderung aus EU-Ländern zurückzuführen. Soll ein Land auf eine dauerhaft hohe Zuwanderung setzen, weil es eine niedrige Geburtenrate hat und nicht schrumpfen möchte bzw. die Arbeitskräfte benötigt? Eine solche Strategie wäre für einige andere Länder, beispielsweise in Mittel- und Osteuropa oder Ostasien, schwer vorstellbar, da die Akzeptanz einer hohen kontinuierlichen Zuwanderung dort kaum gegeben wäre.

Auch in Deutschland wird der öffentliche Diskurs zum demografischen Wandel zunehmend von Fragen der Zuwanderung und Integration geprägt. Einwanderungskritische Positionen, die beispielsweise auf Integrationsprobleme oder Parallelgesellschaften in bestimmten Gruppen bzw. Regionen hinweisen, sind nicht zwangsläufig rechts oder rassistisch. Auch muss zwischen Zuwanderung und Integration differenziert werden, so können Personen oder Parteien gegen eine (hohe) Zuwanderung sein und gleichzeitig für die Integration der hier lebenden Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.

Zuwanderung hat unterschiedliche Ursachen. Zum einen besteht die Zuwanderung aus Arbeitsmarktmigration. Zum anderen ist es eine humanitäre Aufgabe, Menschen, die vor Kriegen und politischer Verfolgung fliehen, aufzunehmen. Ängste vor einer starken Zuwanderung werden teilweise von politischen Parteien aufgegriffen und vor allem von rechtspopulistischen Parteien instrumentalisiert. Zu einer demokratischen Debatte gehört auch, dass die Strategien von Zuwanderung und die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung offen diskutiert und politisch auf Basis parlamentarischer Willensbildung entschieden werden.

Mehrere Argumente spielen bei der Bemessung des Umfangs der jährlichen Zuwanderung eine Rolle: ethische Gründe für das Recht auf Asyl, eine Einwanderungspolitik, die die wirtschaftlichen Interessen des Landes fokussiert, die Aufnahmebereitschaft der heimischen Bevölkerung, die Fairness gegenüber Herkunftsländern, denen die Arbeitskräfte ggf. fehlen, das Werben um kluge Köpfe, europäisches Recht wie die Freizügigkeit von Arbeitskräften und Anreizwirkungen für weitere internationale Wanderungsbewegungen Richtung Deutschland. Die Zuwanderung (und Abwanderung) lässt sich allerdings nur begrenzt steuern, da politische Ereignisse und Lebenschancen in anderen Ländern ein wichtiger Faktor dafür sind. Eine Gesellschaft tut aber gut daran, einen breiten Konsens über die Größenordnung und die Kriterien einer zukünftigen Zuwanderung zu finden.

Neben dem Umfang der Zuwanderung ist die Integration ein zweites wichtiges Thema. Dieses wird vielfach von Emotionen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten geleitet – auf beiden Seiten. Bemerkenswert ist, dass in den Städten und Regionen, in denen weniger Menschen mit Migrationshintergrund leben, größere Sorgen bezüglich Zuwanderung bestehen. Entscheidend für eine erfolgreiche Integration der Zugewanderten sind das Beherrschen der Sprache und die Akzeptanz sozialer Regeln und des Grundgesetzes, diese Dinge werden von der deutschen Gesellschaft eingefordert. Umgekehrt hat die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 2000 – welches das ursprüngliche Gesetz aus 1913 ersetzte – das frühere Abstammungsprinzip durch das Geburtsortsprinzip ergänzt. Deutsche bzw. Deutscher ist demnach nicht nur, wer von deutschen Eltern geboren wird, sondern auch Kinder ausländischer Eltern, die in Deutschland geboren werden. Letztere haben dann als Minderjährige oft die doppelte Staatsbürgerschaft und behalten die deutsche Staatsbürgerschaft häufig bei. Viele Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, identifizieren sich ebenso mit Deutschland, der Kultur, der Gesellschaft, dem Staat und dem Grundgesetz wie diejenigen, deren Urahnen bereits im Teutoburger Wald, im Odenwald oder an Rhein oder Elbe gelebt haben.

Vielen Deutschen ohne Migrationshintergrund ist dies durch den Sport verdeutlicht worden. Ein Blick auf die Entwicklung der deutschen Fußballnationalmannschaft zeigt, wie zunehmend Spieler mit Migrationsgeschichte in den Kader berufen werden. Während in der Weltmeistermannschaft von 1990 kaum jemanden mit Zuwanderungsgeschichte spielte, waren bei der WM 2006 fünf Spieler dabei, die im Ausland geboren sind und/oder nicht deutsche Eltern(teile) haben. Bei den WM-Qualifikationsspielen Ende 2021 sind bereits zehn deutsche Spieler mit Migrationshintergrund in der Nationalmannschaft vertreten. Der Sport illustriert hier gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und kann zur Integration beitragen.

4. Geburten und Renten werden politische Megathemen

Der Anstieg des Altenquotienten ließ sich in den 2010er-Jahren durch die günstige Arbeitsmarktentwicklung und einige Rentenreformen gut abmildern. Der Anstieg des Altenquotienten in den 2020er-Jahren bis 2035 ist eine erhebliche Herausforderung und könnte zu schwierigen Reformprozessen führen. Es wird über eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters über 67 Jahre hinaus diskutiert werden. Aber auch Alternativen dazu werden in Betracht gezogen werden müssen, etwa ein höherer staatlicher Zuschuss zur Rentenkasse, eine Anhebung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge und eine Dämpfung der Rentenhöhen. Dabei geht es um ernstzunehmende Verteilungskämpfe, die weitaus schwieriger ausfallen werden, sollten sich die Ressourcen verknappen – was durch einen Anstieg des Altenquotienten durchaus realistisch ist.

Da die geringe Geburtenrate eine zentrale Ursache für den demografischen Wandel und damit für die Rentenproblematik sowie die Belastung der öffentlichen Finanzen ist, wird sie ein viel beachtetes Thema bleiben. Ein Anstieg der Geburtenrate wird vor allem davon abhängen, ob es wieder mehr kinderreiche Familien geben wird. Hier sind gesellschaftliche Normen und Akzeptanz kinderreicher Familien ebenso wichtig wie politische Rahmenbedingungen, die etwa Wohnraum für kinderreiche Familien zur Verfügung stellen und eine Zeitpolitik verfolgen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie speziell für kinderreiche Familien erleichtert und die Rushhour des Lebens entzerrt.

5. Stadt-Land-Gegensätze als zentrale kulturelle Konfliktlinie

(© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons Müllheim)

International gibt es in mehreren Ländern politisch-kulturelle Gegensätze, die sich in Stadt-Land-Unterschieden wiederfinden. In den USA sind es die Trump-Wählerinnen und Wähler, in Frankreich die Gelbwesten und in Großbritannien die Brexiteers. In den Städten und Metropolregionen leben viele Menschen, die in modernen Dienstleistungsberufen arbeiten, die Globalisierung als positiv empfinden und die Vielfalt von Menschen mit Einwanderungsgeschichte in ihrem Alltag leben und schätzen. Im Allgemeinen sind sie kulturell und politisch eher progressiv. In ländlichen Regionen leben viele Menschen, die der Globalisierung häufiger kritisch gegenüberstehen, mehr Berührungspunkte zu klassischen Berufen aus Landwirtschaft, dem Handwerk oder der Industrie haben und – besonders in Ostdeutschland – weniger Berührungspunkte zu Menschen mit Migrationshintergrund haben.

In vielen westlichen Staaten existieren Fliehkräfte, die auch mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Bedingungen in der Arbeitswelt, den genutzten (sozialen) Medien und dem Wohnort zusammenhängen. Dabei ist zunehmend eine kulturell-politische Konfliktlinie geprägt worden, bei der starke Stadt-Land-Unterschiede eine gewisse Rolle spielen. Überspitzt formuliert finden sich in urbanen Zentren mehr Menschen mit postmodernem Lebensstil, globaler Perspektive, einem Interesse an Identitätspolitik und teilweise mit einer Offenheit zu progressiven oder liberalen Parteien. In kleineren Städten und ländlichen Regionen leben dagegen mehr Menschen, die, weil sie stärker auf das Auto angewiesen sind, der Klimapolitik gegenüber skeptischer sind, sich mit Begriffen wie Heimat identifizieren und teilweise offen gegenüber konservativen oder populistischen Parteien sind.

Es spricht einiges dafür, dass sich die kulturell-politische Konfliktlinie in Deutschland weniger stark manifestiert als in den USA, Großbritannien oder Frankreich. Deutschland ist ein föderaler Staat, der auch viele mittlere Metropolen vorweisen kann. Große Firmen und wichtige Bundesbehörden sind auf verschiedene Städte und Bundesländer verteilt. Das Verhältniswahlrecht hat bisher sichergestellt, dass selbst wenn populistische Parteien an den Rändern des politischen Spektrums auftauchen, die gemäßigten Parteien der Mitte die Koalitionsbildung unter sich ausmachen konnten.

Trotzdem werden die kulturellen und wirtschaftlichen Fliehkräfte, die sich in Stadt-Land-Gegensätzen zeigen, auch Deutschland betreffen, da sie ein internationales Phänomen sind. Die demografische Binnenentwicklung und die Lebenslagen in ländlichen und städtischen Regionen sind von großer Bedeutung. Daher ist die Stärkung der gleichwertigen Lebensverhältnisse für die Kohäsion der Gesellschaft und die politische Stabilität elementar, dies bleibt eine der zentralen politischen Aufgaben für die Gestaltung unserer Zukunft.

PD Dr. Martin Bujard ist stellvertretender Institutsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden.

Nach beruflichen Erfahrungen in der Privatwirtschaft und der Politik zog es ihn in die Schnittstelle von Wissenschaft und Politikberatung. Von 2009–2011 war er im Projekt "Zukunft mit Kindern" an der Humboldt Universität zu Berlin tätig. Seit 2011 wirkt er am BiB in Wiesbaden, seit 2015 als Forschungsdirektor des Bereichs "Familie und Fertilität", seit 2020 als stellvertretender Institutsdirektor. Der habilitierte Sozialwissenschaftler hatte Lehraufträge an den Universitäten Berlin, Mainz und Bamberg inne. Er ist Mitgründer des Familiendemografischen Panels FReDA und forscht zu Geburtenentwicklung, Public Health mit Schwerpunkt Familien und Kinder sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Martin Bujard berät die Bundesregierung u. a. als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen des Bundesfamilienministeriums, bei der Demografiestrategie der Bundesregierung und in der Coronavirus-Pandemie bezüglich der Auswirkungen auf Jugendliche und Familien. Er ist Mitglied in wissenschaftlichen Gremien wie beispielsweise im Consortium Board des EU-weiten Generation and Gender Programme und der Arbeitsgruppe "Fortpflanzungsmedizingesetz" der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Ehrenamtlich setzt er sich als Präsident des evangelischen Familienverbandes eaf für Familien ein.

Danksagung: Der Autor dankt Samira Beringer, Felix Berth, Holger Bonin, Christian Fiedler, Mathias Huebener, Bernhard Köppen, Sandra Krapf, Elke Loichinger, Olga Pötzsch, Kerstin Ruckdeschel, Harun Sulak und Frank Swiaczny für viele wertvolle Kommentare zum Manuskript.