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Informationen zur politischen Bildung Nr. 350/2022

Die Ursachen der Geburtenentwicklung

Martin Bujard

/ 16 Minuten zu lesen

Entscheidungen für oder gegen Kinder – und die aus diesen resultierende Geburtenentwicklung – werden von verschiedenen individuellen, gesellschaftlichen und politischen Faktoren beeinflusst.

Eine Frau mit rot lackierten Fingernägeln löst eine einzelne Antibabypille aus einer Tablettenverpackung. Auf einem Tisch vor ihr liegt ein Kalender und zeigt die Monate Juni und Juli an. (© picture-alliance/dpa, Annette Riedl )

Warum bekommen Menschen überhaupt Nachwuchs?

Da die Geburtenentwicklung die zentrale Ursache für den demografischen Wandel darstellt, lohnt sich ein Blick auf die Ursachen der aktuellen Geburtenentwicklung. Zwischen Deutschland und anderen modernen Industrieländern gibt es dabei Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Zur Erklärung dieses Phänomens lassen sich Theorien aus Soziologie, Demografie, Mikroökonomie und Sozialpsychologie heranziehen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Faktoren Geld, Frauenerwerbstätigkeit, Gleichstellung, Familienpolitik, Partnerwahl sowie der Zugang und die Einstellungen zu Verhütungsmitteln. Die grundsätzliche Frage, warum Menschen Kinder bekommen, kann am besten unter Einbezug der verschiedenen Dimensionen, die bei einer Entscheidung für oder gegen Kinder wichtig sind, beantwortet werden:

Normen: Das Fertilitätsverhalten, also ob und wie viele Kinder jemand haben möchte und bekommt, hängt von vielen Faktoren ab. Werden junge Erwachsene gefragt, ist die Antwort auf den Kinderwunsch oft "zwei Kinder". Dies ist die Norm und zeigt sich beispielsweise in der eigenen Familie, im Freundeskreis oder in den Medien als typisches Bild einer Familie – sozusagen als Familienleitbild. Solche Normen sind sehr wirkungsvoll, entstehen unbewusst und werden vielfach nicht hinterfragt, sondern übernommen. Insofern spielen auch normative Faktoren wie Wertewandel, egalitäre Geschlechterrollen sowie die kulturell geprägte Akzeptanz von kinderreichen Familien eine wichtige Rolle.

Rationale Abwägung: Wenn über Vor- und Nachteile von Kindern abgewogen wird, fließen mehrere Argumente ein: Einerseits empfinden viele Menschen Kinder als sinnstiftend und ihr Leben bereichernd, sie gefallen sich in der Rolle von Mama oder Papa und wollen Kinder erziehen und prägen. Oft gibt es gesellschaftliche Anerkennung für Mütter und Väter, insbesondere von den eigenen Eltern, die sich wiederum über Enkelkinder freuen. Andererseits kosten Kinder Geld, und das in der Regel mindestens 18 Jahre lang. Auch können Kinder das eigene Leben einschränken, da neben der Verantwortung für das eigene Leben nun die Verantwortung für die Kinder hinzukommt. So müssen Kinder bei der Alltagsbewältigung und -planung oder auch bei der Urlaubsgestaltung eingeplant werden und limitieren möglicherweise Reiseziele, Hobbys und Unternehmungen mit Freundinnen und Freunden. Insbesondere für Frauen bedeuten Kinder meistens eine Unterbrechung der Ausbildung bzw. der Erwerbstätigkeit, was auch zu beruflichen Nachteilen oder einem Karriereknick führen kann. Zudem sind Frauen während Mutterschutz und Elternzeit häufig finanziell abhängig von ihrem Partner.

In die rationale Abwägung fließen auch politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie beispielsweise die Verfügbarkeit von Kitaplätzen, Ganztagsschulangeboten, die Unterstützung des Arbeitgebers bei familienbedingten Unterbrechungen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die kommunale Familienfreundlichkeit hinsichtlich verkehrsberuhigter Wohngegenden und Spielplätzen mit ein. Auch das eigene soziale Netzwerk spielt eine wichtige Rolle: So sind beispielsweise Großeltern, die bei der Kinderbetreuung helfen können, oftmals ein wichtiger Faktor für eine Pro-Kind-Entscheidung.

Sexualität, Verhütung und Fruchtbarkeit: Eine andere Dimension ist die Frage nach Sexualität und Verhütung und die biologische Fähigkeit, Kinder zu zeugen. Durch moderne Verhütungsmittel sind Sexualität und Schwangerschaft heute weitgehend entkoppelt. Noch bis in die 1960er-Jahre war Sexualität immer auch mit dem Risiko einer (ungewollten) Schwangerschaft verbunden. Sexualität ist, von den knapp 3 Prozent der Geburten mit künstlicher Befruchtung abgesehen, heute meistens noch eine Voraussetzung, um Kinder zu bekommen. Mit zunehmendem Alter sinkt die Fruchtbarkeit, bei Frauen setzt dies vor allem ab Anfang 30 ein und verstärkt sich ab Mitte 30 zunehmend. Aber auch bei Männern sinkt die Fruchtbarkeit, allerdings in deutlich späterem Alter. Das Nachlassen der Fruchtbarkeit mit dem Alter ist allerdings individuell sehr unterschiedlich und wird von Faktoren wie beispielsweise Rauchen oder Über- und Untergewicht beeinflusst. Zudem gibt es Menschen, die aus verschiedenen medizinischen Gründen keine Kinder bekommen können.

Timing von Geburten: Der abstrakte Kinderwunsch ist das eine, die konkrete Entscheidung für Kinder das andere. Diese findet zu bestimmten Zeitpunkten im Lebensverlauf statt. Beispielsweise kann jemand mit 20 Jahren angeben, dass sie/er zwei Kinder haben möchte, die Realisierung ist aber erst mit Anfang 30 ein Thema, wenn er/sie beruflich angekommen ist und wenn ein Kind in die Lebensphase passt. Durch das Aufschieben des Kinderwunsches bleiben biografische Optionen wie Wohnortwechsel, Backpack-Reisen oder aufwändige und zeitintensive Hobbys länger möglich. In diese Abwägung fließt möglicherweise auch das eigene zunehmende Alter ein; auch Torschlusspanik kann hierbei eine Rolle spielen.

Partnerdimension: Die Entscheidung für Kinder und das Fertilitätsverhalten inklusive der Verhütung ist meist eine gemeinsame Entscheidung auf partnerschaftlicher Ebene. Dabei werden die beruflichen Biografien heute meist aufeinander abgestimmt, nicht selten leben Paare aufgrund ihres Arbeitsplatzes in verschiedenen Städten. Das Zusammenziehen in eine gemeinsame Wohnung ist fast immer eine Voraussetzung für die Geburt eines gemeinsamen Kindes. Auch muss es für beide in Hinblick auf die jeweilige Lebenssituation passen. Wenn nur eine/r von beiden Kinder möchte, wird der Kinderwunsch in der Regel nicht umgesetzt oder aufgeschoben. Letztlich ist die Entscheidung für Kinder hochgradig komplex, da sie im Lebensverlauf über mehr als zwei Jahrzehnte stattfindet und Partnerschaft, biologische Fruchtbarkeit und Sexualität ebenso wie Beruf, Geld, Wohnsituation und familienpolitische Rahmenbedingungen sowie letztlich die persönlichen Lebensziele eine wichtige Rolle spielen. Diese Faktoren haben sich im Laufe der Zeit grundlegend geändert.

Zwei Geburtenrückgänge – unterschiedliche Ursachen

Der Erste Geburtenrückgang zwischen 1870 und 1920 war die Folge der zuvor gesunkenen Säuglings- und Kindersterblichkeit. Um mit einer großen Wahrscheinlichkeit zwei Kinder zu haben, die das Erwachsenenalter erreichen und dann selbst Kinder bekommen können, waren zuvor vier Kinder notwendig. Dadurch, dass die Säuglings- und Kindersterblichkeit im Kaiserreich so stark zurückging, war diese Absicherung nun auch mit zwei Kindern pro Frau möglich. Parallel dazu verbesserten sich die technischen Möglichkeiten von Verhütungsmitteln, damals vor allem Kondome und Spiralen, sowie ihre Verfügbarkeit. Auch die Vorstellungen zur gewünschten Kinderzahl veränderten sich. Insbesondere bei gebildeten Personen, zunächst bei Lehrenden und Beamtinnen und Beamten, etablierte sich eine Zwei- oder Drei-Kind-Norm, wobei zeitgleich die Investitionen in Erziehung und Bildung verstärkt wurden. Wie später der Zweite Geburtenrückgang wurde der Erste Geburtenrückgang auch von einer Emanzipationsbewegung begleitet und breitete sich zunächst in gebildeteren Schichten sowie in Städten aus und wurde im Anschluss auch von den weiteren gesellschaftlichen Schichten übernommen.

Die Bedeutung von Kindern hat sich im Laufe der Zeit verändert. Bis Ende des 19. Jahrhunderts und teilweise bis Mitte des 20. Jahrhunderts waren eigene Kinder für die Alterssicherung sowie zur Absicherung weiterer Lebensrisiken wie Krankheit oder Pflege notwendig. Durch die Einführung der Rentenversicherung und anderer Sozialversicherungen unter Reichskanzler Otto von Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts löste sich dieser Zusammenhang zunehmend auf. Die Kollektivierung des Risikos individueller Kinderlosigkeit für die Altersabsicherung wurde in den folgenden Jahrzehnten ausgebaut, vor allem durch die zunehmende Zahl an Anspruchsberechtigten, die Absicherungen mehrerer Lebensrisiken und zuletzt die Dynamisierung der Altersrente unter dem ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer.

Zu Beginn des Zweiten Geburtenrückgangs, der etwa Mitte der 1960er-Jahre einsetzte, waren eigene Kinder für die Alterssicherung nicht mehr erforderlich. Auch die Bedeutung von Kindern als Erben des eigenen Landwirtschafts- oder Handwerksbetriebs ließ durch den Wandel des Arbeitsmarktes und der Transformation von der Agrar- zur Industrie- bzw. Dienstleistungsgesellschaft nach. Der "Wert von Kindern" (Value of Children-Theorie) ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger mit ökonomischen Funktionen verbunden. Als Motivation für Kinder und ihren "Wert" werden seitdem vor allem die Weitergabe des eigenen Namens und der eigenen Gene, die Vermittlung von Werten und Bildung sowie ein bestimmter gesellschaftlicher Status genannt. Zentrale Faktoren des Zweiten Geburtenrückgangs waren die Emanzipation vieler Frauen sowie Fortschritte bei den Verhütungsmitteln wie hormonelle Kontrazeptiva ("Pille") und die Spirale, die weitaus sicherer waren als vorige Verhütungsmethoden. Kinder zu haben wurde zu einer von mehreren Optionen im Lebenslauf und Fortpflanzung und Sexualität letztendlich voneinander getrennt. Dies alles hat in einem dynamischen Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Veränderungen zum Zweiten Geburtenrückgang geführt. In diesem Zusammenhang müssen auch die Faktoren Individualisierung, geänderte Geschlechterrollen und Säkularisierung sowie ein umfassender Wertewandel, der die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensformen und die Sexualmoral weitreichend veränderte, genannt werden.

Emanzipation der Frauen und Aufschub der Geburten

(© picture-alliance, dieKLEINERT | Freimut Woessner)

In Westeuropa und der früheren Bundesrepublik ist die Emanzipation von Frauen eng verbunden mit der Bildungsexpansion und dem Wandel zur Dienstleistungsökonomie. Dadurch sind die beruflichen Bestrebungen von Frauen ebenso gestiegen wie ihre beruflichen Optionen und Verdienstmöglichkeiten. Infolge dessen sind die Opportunitätskosten von Kindern, also der durch die berufliche Unterbrechung entgangene Verdienst, gestiegen: Die Entscheidung für Kinder führte vor einigen Jahrzehnten häufig zu einer mehrjährigen oder gar dauerhaften Unterbrechung der Erwerbstätigkeit und Karriereentwicklung, welche mit höherer Bildung der Frauen "teurer" waren, da sie auf mehr Gehalt verzichten mussten. Aber auch die biografischen Optionen außerhalb der Erwerbstätigkeit wie große Reisen, Erfahrungen in unterschiedlichen Beziehungen und Selbstverwirklichung sind durch einen Aufschub der ersten Geburten länger möglich.

QuellentextSchwangerschaften, Feste und Influencerinnen

[...] Annika Schutt [Gynäkologin, Ende 30] ist unfreiwillig Teil einer immer größer werdenden gesellschaftlichen Entwicklung geworden. Heute gibt es nicht nur die Babyparty kurz vor der Geburt im Kreise der besten Freundinnen. Seit einer Weile ist – auch in Deutschland – die Tatsache, dass das Geschlecht feststeht, ein Anlass für eine Überraschungsparty mit den Freunden, auch den Männern, überhaupt der gesamten social-Media-Followerschaft. Die sogenannte Genderzeugin, etwa die beste Freundin oder die Schwester, organisiert das Fest, die werdenden Eltern erfahren vor versammelter Mannschaft und laufender Kamera, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen, indem sie eine Torte anschneiden und der Teig rosa oder blau eingefärbt ist. […]

[Die Gender-Reveal-Partys] sind auch nur ein Baustein des großen Boheis, das zunehmend um die Schwangerschaft gemacht wird. Sicher liegt – sofern alles gut geht – am Ende einer Schwangerschaft ein alles veränderndes Lebensereignis. Alles verändert sich aber heute häufig schon mit dem positiven Test. Eine Schwangerschaft mutet zunehmend wie die Adventszeit vor Weihnachten an, nur eben nicht vier Wochen lang, sondern neun Monate. […]

Annika Schutt, die eigentlich anders heißt, sagt: "Die Schwangerschaft wird zunehmend verdinglicht." Schuld daran sind nicht allein schwangere Influencerinnen, die jedes Ziehen im Bauch öffentlich dokumentieren, sich im Konsum ausleben und damit viel Geld verdienen, denn mit nichts erreichen sie die Zielgruppe besser als mit hoch emotionalem, persönlichem Content. Die Industrie hält anschließend einfach die Hand auf. Die sogenannte "mom Economy" machte in den Vereinigten Staaten 2019 46 Milliarden Dollar Umsatz. Auch in Deutschland ist der Umsatz mit Produkten rund um Schwangerschaft, Geburt und das Kleinkindalter (0 bis zwei Jahre) von 2,4 Milliarden Euro im Jahr 2015 auf knapp 2,6 Milliarden 2019 gestiegen, wie das Kölner Institut für Handelsforschung berechnet hat. [2020] […] sank der Wert leicht. […]

[Als Assistenzärztin in der Klinik] arbeitete Schutt irgendwann auch in der Kinderwunschbehandlung. Auch auf diesem Feld sei es irgendwann losgegangen mit dem Bohei – in Verbindung mit einer erstaunlichen Anspruchshaltung. Zu ihr seien Frauen zum Embryotransfer mit T-Shirts gekommen, auf denen "Mama" steht. Oder: "Upload läuft". Oder: "Mum to be". "Sie kamen rein und sagten: 'Ich hole mir jetzt mein Baby ab.' Und ich dachte in solchen Momenten: 'Nein, sie bekommen ein Embryo transferiert. Wenn sie Glück haben, mit ungefähr 37,5 Prozent Wahrscheinlichkeit, werden Sie schwanger. Die Chance, dass Sie ein Kind bekommen, liegt für diesen Zyklus bei etwa 28,1 Prozent'".

Mittlerweile, in der Praxis, wird sie von den Patientinnen häufig gebeten, bitte darauf zu achten, dass die Ultraschallfotos schön sind. "Häufig muss es ein tolles Bild sein, das sie posten können. […]"

Schutt freut sich für jeden, dessen Kinderwunsch in Erfüllung geht. Aber sie sagt auch: "Da ist ganz schön viel aus den Fugen geraten. Eine Schwangerschaft wird häufig nicht mehr als die Sache an sich gesehen, sondern als das, was noch drum herum passiert." Es könnte ihr egal sein, jeder zieht eben aus anderen Quellen sein Glück. In einer individualistischen Gesellschaft kann jeder leben, wie er mag. Aber das Gewese um die Schwangerschaft ist etwas anderes, als eine große Hochzeit zu feiern, ein halbes Jahr auf einem Segelboot zu verbringen oder sich vegan zu ernähren. […]"

Die Chance, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, ist auch im zweiten Trimester, in dem die Gender-Reveal-Partys typischerweise gefeiert werden, keineswegs ausgemachte Sache […]. Carly Gieseler […] ist Kommunikationswissenschaftlerin und beschäftigt sich am York College der City University of New York mit Geschlechterrollen. […] Auch Gieseler sieht die direkte Verbindung zu den sozialen Medien. "Die Gender-Reveal-Partys sind sehr viel extremer als die traditionellen babyshowers kurz vor der Geburt", sagt Gieseler. "Hier geht es um die Fragen: Wie kann ich den größtmöglichen Eindruck machen? Wie kann ich so viele Menschen wie möglich erreichen?" […]

"Man gibt vor, dass es ein Fest für das ungeborene Kind ist", sagt Carly Gieseler. "Aber eigentlich ist es das Paar, das sich selbst feiert."

Auch Annika Schutt sagt, beim Tamtam um die Schwangerschaft sei das Kind allenfalls zweitrangig. Im Mittelpunkt steht die werdende Mutter. "Und Themen, mit denen sich unsere Gesellschaft eigentlich auseinandersetzt, nämlich Nachhaltigkeit und Geschlechterfragen, sind auf einmal vergessen", sagt Schutt. Auf einmal gehe es zum Beispiel nicht mehr darum, was man wirklich braucht, also einen Kinderwagen, ein Bett, einen Wickeltisch, fünf Bodys, drei Strampler, eine Mütze. Auf einmal ist es in Ordnung, dass das Kinderzimmer schon vor der Geburt eingerichtet ist, ein farbliches Thema hat, der Schrank voll ist mit Kleidern. "Für das Kinderzimmer scheint immer Geld da zu sein, aber für den Abstrich auf Streptokokken kurz vor der Geburt häufig nicht."

Oder Thema Geschlecht: "Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Geschlechtergrenzen fallen, versichern wir uns mit einer Party des binären Systems", kritisiert Carly Gieseler […].

An die Geschlechterstereotypisierung im Wirbel um die Schwangerschaft knüpft sich allerdings noch eine andere Frage an: Was macht das mit Frauen? […] Carly Gieseler und Annika Schutt haben aber auch festgestellt, dass das Umfeld Frauen auf diese Weise nur auf die eine Rolle reduziert. "Bei diesen Feierlichkeiten besteht die Frau praktisch nur noch aus Babybauch", sagt Gieseler. Und Schutt meint: "Immer wieder hören Schwangere: 'Setz dich hin, du bist schwanger. Du musst trinken, du bist schwanger. Du musst essen, du bist schwanger.' […]"

Und die Entwicklung wirft gleich noch eine Frage auf: Welches Bild von der Bedeutung des Geschlechts propagiert die sogenannte westliche Wertegemeinschaft eigentlich in einer Zeit, in der an anderen Orten noch immer weibliche Föten abgetrieben werden und Jungs mehr zählen als Mädchen? "Das ist beinahe ein Widerhall dieser Art von Traditionen", sagt Gieseler.

Absurde Feste, sinnloser Konsum und beides bedeutungsschwer aufgeladen: Das Bohei um die Schwangerschaft trifft einen Nerv in der ich-Gesellschaft. Das Gefühl des Babyglücks ist praktischerweise käuflich. Nur: Kein Geld der Welt garantiert, dass es sich erfüllt. […]

Jennifer Wiebking, „Das Gewese um die Schwangerschaft“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 7. November 2021; © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Die dauerhafte Kinderlosigkeit von Frauen lag bei den in den 1940er-Jahren geborenen Frauen bei rund 12 Prozent und stieg bei den Ende der 1960er-Jahre Geborenen auf 21 Prozent. Bei Akademikerinnen stieg die Kinderlosigkeit in der Zeit sogar auf knapp 30 Prozent.

Kinderlosigkeit bedeutet allerdings nicht zwingend, dass sich die Frauen und Männer bewusst für ein Leben ohne Kinder entschieden haben. Mehrere Umfragen zeigen, dass etwa zwischen sechs und acht Prozent der jungen Erwachsenen keine Kinder bekommen möchten oder Kinderlosigkeit für ideal halten. Im gesamten Leben unfruchtbar sind weniger als fünf Prozent. Ab einem Alter von Ende 40 lässt sich bei Frauen eine dauerhafte Kinderlosigkeit feststellen – bei den um 1970 geborenen Frauen sind dies 21 Prozent. Gut die Hälfte von ihnen wollte ursprünglich eigene Kinder bekommen und war dazu auch biologisch in der Lage. Ihre Kinderlosigkeit ist daher durch ein permanentes Aufschieben des Kinderwunsches entstanden, weil es beispielsweise in bestimmten Phasen vielleicht beruflich nicht passend war, die finanzielle Absicherung fehlte, der Partner noch nicht wollte, kein Partner vorhanden war oder gesundheitliche Probleme auftraten. Kinderlosigkeit kann also gewollt sein, biologisch begründet oder sich im Lebensverlauf ungewollt ergeben.

Datenquellen: 1960–89 DDR und 1961–88 BRD: Statistisches Bundesamt 2013, 1988–2008 West und 2002–2008 Ost: Bujard/Diabaté 2016; ab 2009: Statistisches Bundesamt 2021

Das Alter von Frauen bei der Geburt des ersten Kindes ist seit Beginn der 1970er-Jahre immer weiter gestiegen. Es lag in der früheren Bundesrepublik 1970 bei 24 Jahren, in den 1990er-Jahren bei 27 und inzwischen bei 30 Jahren. In der ehemaligen DDR wurden Frauen in den 1970er- und 1980er-Jahren durchschnittlich im Alter von 22–23 Jahren erstmals Mutter. Die großen Unterschiede im Erstgeburtsalter zwischen West- und Ostdeutschland haben sich nach der Wiedervereinigung reduziert, das Geburtsverhalten der ostdeutschen Frauen hat sich nach und nach an das westdeutsche angepasst. Im Jahr 2020 lag das Erstgeburtsalter bei 30,2 Jahren (West 30,3 und Ost 29,4). Bei Akademikerinnen liegt das Erstgeburtsalter bei 32 Jahren, mehr als die Hälfte ist mit 35 Jahren noch kinderlos.

Während die Zahl der Geburten von Frauen unter 30 Jahren immer weiter zurückgehen, werden zunehmend Geburten im Alter von über 30 Jahren zur Norm. Allerdings werden nicht alle Geburten, die von Frauen im jüngeren Alter nicht realisiert werden konnten, zu einem späteren Zeitpunkt im Leben "nachgeholt". Dadurch sinkt die durchschnittliche endgültige Kinderzahl pro Frau aktuell.

Die Fortpflanzungsmedizin kann durch künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IVF) einigen Paaren helfen, den Kinderwunsch umzusetzen. Etwa 2,7 Prozent der Geburten, 21 385 nach Behandlungen im Jahr 2018, kommen dadurch zur Welt. Die Erfolgsrate pro Embryotransfer beträgt lediglich 23,5 Prozent in 2019 für alle Altersgruppen zusammen.

Mit ansteigendem Alter der Frauen nimmt sie ebenfalls ab: Mit 26 bis 32 Jahren liegt die Erfolgsrate von IVF bei über 30 Prozent, mit 40 Jahren nur bei 13 Prozent, wobei die Rate an Fehlgeburten und das Risiko gesundheitlicher Schäden für das Kind wie Trisomie 21 oder Schwangerschaftskomplikationen für die Mutter zunehmen. Die Fortpflanzungsmedizin kann auf individueller Ebene helfen, die Probleme niedriger Geburtenraten und des fortwährenden Aufschubs der Geburten kann sie jedoch nicht lösen.

Gleichstellung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Schlüssel

Mit Geburtenraten zwischen 1,2 und 1,4 Kindern pro Frau war Deutschland lange Zeit eines der Schlusslichter im internationalen Vergleich, insbesondere in Europa und im Vergleich zu den übrigen in der OECD (engl. für Organisation for Economic Co-operation and Development) organisierten wohlhabenden Demokratien in Nordamerika, Australien oder Ostasien. Ein Vergleich der Geburtenentwicklung in den OECD-Ländern zeigt, dass ein interessanter Zusammenhang zwischen Geburtenrate und Frauenerwerbsquote besteht: Während in den 1970er-Jahren Länder mit einer höheren Frauenerwerbsquote niedrigere Geburtenraten hatten, also scheinbar beides in Widerspruch stand, hat sich dieser Zusammenhang in den 1980er-Jahren gedreht. Seit den 1990er-Jahren zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen Frauenerwerbsquote und Geburtenrate. In den Ländern, in denen Frauen und Mütter stärker berufstätig sind, haben diese auch mehr Kinder. Beispiele hierfür sind die skandinavischen Länder, aber auch Frankreich, die USA oder Australien. Umgekehrt waren die Kennwerte Frauenerwerbstätigkeit und Geburtenrate in Südeuropa, Japan, Südkorea sowie Österreich und der Bundesrepublik Deutschland niedrig.

Der entscheidende Faktor für dieses Phänomen ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dies betrifft familienpolitische Maßnahmen wie Kleinkindbetreuung und Ganztagsschulen, aber auch gesellschaftliche Normen, die Emanzipation von Frauen, Gleichstellung und die Erwerbstätigkeit von Müttern (sowie die Familienarbeit von Vätern). Denn es macht einen großen Unterschied, ob die Entscheidung für ein Kind eine dreijährige berufliche Auszeit mit im Anschluss zehn Jahren Teilzeitarbeit bedeutet oder nur eine einjährige Unterbrechung.

Quellen: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage, Statistisches Bundesamt, Prognos AG; In: Süddeutsche Zeitung vom 6. Oktober 2021 (© SZ-Grafik: Mainka)

Den oben genannten Gründen für ungewollte Kinderlosigkeit lässt sich durch Vereinbarkeitspolitik teilweise entgegenwirken. Wichtig ist aber auch eine gesellschaftliche Akzeptanz von arbeitenden Müttern und Fremdbetreuung. Letztere beinhaltet nicht zuletzt auch positive Bildungsaspekte, da viele Kitas die frühkindliche Bildung fördern. Diese Akzeptanz zeigt sich beispielsweise beim Partner, bei den Eltern und Schwiegereltern, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz, oder sie zeigt sich nicht, was Frauen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stark erschwert.

Faktisch bedeutete dies in der Vergangenheit für mehrere westdeutsche Frauengenerationen eine Entscheidung zwischen "Kind oder Karriere". Einige Frauen bekamen Kinder und mussten dafür beruflich erhebliche Abstriche in Relation zu ihrer Ausbildung in Kauf nehmen, was sich auch beim Lebenseinkommen und den Rentenansprüchen deutlich zeigte. Eine Vereinbarung von Kind und Beruf war oftmals nur durch die Unterstützung der Großeltern möglich. Andere Frauen verzichteten für ihre Karriere auf Kinder. Das hatte gesellschafts-, sozial- und gleichstellungspolitisch, aber auch volkswirtschaftlich erhebliche negative Konsequenzen.

Auch aus diesen Gründen leitete die Bundesregierung im Jahr 2003 einen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik ein. Bis dahin war die deutsche Familienpolitik (inklusive Bildungs- und Steuerpolitik sowie Unterhaltsrecht) vom männlichen Ernährermodell geprägt, bei dem der Mann Vollzeit arbeitet und die Frau die Haus- und Familienarbeit übernimmt und ggf. in Teilzeit Zuverdienerin ist. Vor allem in den westdeutschen Bundesländern gab es kaum Betreuungsplätze für unter Dreijährige und die Schulen waren dort weitgehend halbtags organisiert, sodass erwartet wurde, dass die Mütter mittags kochen und nachmittags die Hausaufgaben betreuen. Für Eltern gab es einen dreijährigen, gering bezahlten Erziehungsurlaub, den meistens die Mütter nahmen. Dazu kam auf steuerlicher Seite das Ehegattensplitting, dessen gemeinsame Veranlagung bis heute Anreize für eine traditionelle Arbeitsteilung bietet, wobei der in der Regel gutverdienende Mann Steuerfreibeträge der gar nicht oder nur geringfügig beschäftigten Frau nutzen kann. Auch Minijobs und die beitragsfreie Mitversicherung in der GKV setzen heute noch Anreize für eine traditionelle Arbeitsteilung.

Wie sieht der Paradigmenwechsel der deutschen Familienpolitik aus? Während das Ehegattensplitting bis heute geblieben ist, haben sich die anderen Rahmenbedingungen grundlegend geändert. Im Jahr 2004 verabschiedete die rot-grüne Regierung unter Altbundeskanzler Gerhard Schröder das Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG), wobei der Ausbau der Kindertagesbetreuung in den folgenden Regierungskoalitionen unter Altbundeskanzlerin Angela Merkel durch weitere Gesetze wie das Kinderförderungsgesetz weitergeführt wurde und es seit 2013 einen Rechtsanspruch für Kinder ab dem ersten Geburtstag gibt. Waren 2007 in Westdeutschland nur knapp 10 Prozent der unter Dreijährigen in öffentlicher Kinderbetreuung, sind es 2020 bereits 31 Prozent, in Ostdeutschland 53 Prozent. Im Jahr 2003 wurden Pläne des Elterngeldes im Kabinett beschlossen und 2006 verabschiedet. Für ab Januar 2007 geborene Kinder gibt es für Eltern ein einkommensabhängiges Elterngeld, das die Gleichwertigkeit von Familienarbeit im Vergleich zur Berufsarbeit signalisieren soll. Dieses ist für 14 Monate möglich, dabei pro Elternteil für maximal 12 Monate. Dies hat die berufliche Unterbrechung für viele Mütter auf ein Jahr reduziert und den beruflichen Wiedereinstieg beschleunigt. Gleichzeitig haben die zwei "Partnermonate" dazu geführt, dass inzwischen etwa 40 Prozent der Väter Elternzeit nehmen, meistens jedoch nur zwei oder drei Monate. Auch die Ganztagsschulen wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten sukzessive ausgebaut, im Jahr 2021 wurde im Bundestag ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulen zum 1. August 2026 beschlossen. Auch das Unterhaltsrecht hat sich in Richtung einer partnerschaftlichen Aufteilung von Erwerbsarbeit und familialer Fürsorge orientiert.

Die Reformen der Kleinkindbetreuung und des Elterngeldes, die jeweils mehrere Milliarden Euro pro Jahr kosten, wurden auch mit Erwartungen eines Anstiegs der Geburtenrate begründet. Bei der Verkündung der Elterngeldpläne in der Kabinettsitzung im September 2004 hatte Altbundeskanzler Gerhard Schröder explizit die hohe Kinderlosigkeit von Akademikerinnen angesprochen. Obwohl die Reformen bei Familien und aus Gleichstellungssicht beliebt waren, wurden sie zwischen 2008 und 2014 vielfach als erfolglos kritisiert, da sich die erhoffte positive Wirkung auf die Geburtenrate (zunächst) nicht erfüllte.

QuellentextFamilienpolitische Wirkung auf Geburten benötigt Zeit

In der deutschen Familienpolitik ist Bewegung, das Elterngeld und der Ausbau der Kinderbetreuung sind zentrale Paradigmenwechsel. Allerdings sind diese Bemühungen bei denjenigen, die Familienpolitik an der Geburtenrate messen, in Verruf geraten. Denn einerseits gibt Deutschland gut 120 Milliarden Euro jedes Jahr für Familien aus, mit ehebezogenen Leistungen sogar 195 Milliarden. Andererseits gibt es aber kaum ein Land, in dem die Geburtenrate schon so lange so niedrig ist: Sie liegt seit 1975 bei 1,3 bis 1,4 Kindern pro Frau. […] Ist denn die Familienpolitik ihr Geld nicht wert? Die Antwort aus der Wissenschaft ist eine gute. Sie wirkt nicht nur in ihrer genuinen Aufgabe, indem sie Eltern und Kinder vielfältig unterstützt, sondern sie steigert langfristig auch die Geburten. Bisher wurde angenommen, dass die Geburtenzahl durch Familienpolitik kaum beeinflusst wird. Insbesondere deutsche Forscher sind skeptisch. […] Politische Anreize scheinen wirkungslos zu verpuffen. Allerdings verstellt der Blick durch die deutsche Brille die Sicht auf die Wirkungen ebenso wie der in der Wissenschaft häufig praktizierte Fokus auf kurzfristige Effekte.

Eine neue Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigt, dass Familienpolitik langfristig sehr wohl auf die Geburtenentwicklung wirkt. Sie analysiert einen langen Zeitraum seit 1970 für 28 Industrieländer. Familienpolitik kristallisiert sich dabei sogar als Schlüsselfaktor, um die internationalen Unterschiede der Geburtenraten zu erklären. Entscheidend ist dabei nicht eine einzelne Maßnahme, sondern das Zusammenspiel von Zeitpolitik, Kinderbetreuung und finanziellen Transfers für Familien. Statistische Analysen belegen, dass eine Kombination familienpolitischer Maßnahmen, ein starker Dienstleistungssektor und niedrige Arbeitslosigkeit über 80 Prozent der internationalen Unterschiede der heutigen Geburtenraten erklären können. Dabei ist in Ländern mit hoher Frauenerwerbsquote auch die Geburtenzahl höher. Bei der Analyse langer Zeiträume werden Veränderungen sichtbar, die sonst verborgen bleiben. Der Ländervergleich ermöglicht interessante Rückschlüsse auf Deutschland. […]

Fünf Erkenntnisse über die Wirkungsweise sind zentral für die Konzeption zukünftiger Familienpolitik. Erstens: Familienpolitik wirkt erheblich zeitverzögert. […] Zweitens wirkt Familienpolitik nur, wenn sie ganzheitlich aufeinander abgestimmt ist und Widersprüche beseitigt werden. […] Drittens sind verschiedene Zielgruppen zu beachten. Die Rolle der Akademiker ist zentral. […] Viertens sind der familienpolitischen Wirkung Grenzen durch ökonomische und kulturelle Faktoren gesetzt. […] Vor allem aber muss Familienpolitik, fünftens, verlässlich sein. […]

Allerdings harmonieren demografische und politische Zeithorizonte schlecht. Innerhalb einer Legislaturperiode, in der Maßnahmen eingeführt werden, sind kaum verkündbare Erfolge zu erwarten. Ein großes Dilemma, denn die Politik benötigt Erfolge. Umso wichtiger ist es, keine unrealistischen Erwartungen zu wecken und eine langfristige familienpolitische Strategie zu kommunizieren. Die Menschen sind durchaus in der Lage, auch Zwischenschritte auf einem solchen Weg anzuerkennen. Zudem sind demografische Effekte nicht die Hauptaufgabe von Familienpolitik. Vor allem sollte es um das Wohlbefinden von Kindern und ihren Eltern gehen. Beides sind keineswegs Gegensätze: Wenn es Familien gut geht, entscheiden sich auch mehr Menschen für Kinder.

Martin Bujard; Dieser Essay des Autors erschien am 3. Juli 2012 in der Zeitung DIE WELT. Die Geburtenrate in Deutschland lag seit mehreren Jahrzehnten bei 1,3, trotz familienpolitischer Reformen stieg sie damals noch nicht wieder an. Erst 2015 sollte sich dies wieder ändern. Anhand dieses Quellentextes wird deutlich, wie langwierig demografische Änderungen und wie zeitintensiv daher auch Paradigmenwechsel in der Familienpolitik sind.

2012 und 2013 zeigte sich, dass der Anstieg der Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen gestoppt war. Die Elterngeldreform hat sich positiv auf die Müttererwerbstätigkeit und späte Geburten bei Akademikerinnen ausgewirkt – dem Muster der nordeuropäischen Länder entsprechend. Die Geburtenrate blieb bis 2014 im jahrzehntelangen Korridor unter 1,5. Seit 2015 liegt sie über 1,5.

Zuwanderung und Geburtenanstieg

Bei Frauen mit Migrationshintergrund ist die Geburtenrate im Durchschnitt etwas höher, hier muss jedoch in mehrfacher Hinsicht differenziert werden. Ein Geburtenanstieg kann zum einen durch einen Anstieg der Geburtenrate bei Migrantinnen, zum anderen durch den Anstieg ihres Anteils an der Bevölkerung geschehen. Bei den Frauen im gebärfähigen Alter von 15–44 Jahren hatte im Jahr 2020 etwa ein Drittel einen Migrationshintergrund. Dabei zeigt sich, dass Frauen der sogenannten zweiten Generation, die also in Deutschland geboren sind, sich in ihrem Geburtenverhalten an die hiesige Bevölkerung anpassen. Höhere Geburtenraten haben insbesondere die Frauen, die in Ländern mit grundsätzlich hohen Geburtenraten geboren sind und später im Leben nach Deutschland emigrierten. Ein entscheidender Faktor ist hierbei die Bildung, wie Analysen des Mikrozensus 2018 für Frauen mit abgeschlossener Fertilitätsbiografie im Alter von 45 bis 54 Jahren zeigen: Bei hohem Bildungsstand haben im Ausland geborene Frauen lediglich eine minimal höhere Kinderzahl (1,5) als in Deutschland geborene Frauen (1,4). Im Ausland geborene Frauen mit einem niedrigem Bildungsstand haben dagegen durchschnittlich 2,4 Kinder. In Deutschland geborene Frauen mit niedrigem Bildungsstand gebären hingegen durchschnittlich 1,7 Kinder. Die insgesamt hohe durchschnittliche Kinderzahl von Zuwanderinnen in diesen Jahrgängen lässt sich damit erklären, dass der Anteil von zugewanderten Frauen mit niedrigem Bildungsstand (und höherer Geburtenrate) bei 41 Prozent liegt. Das entspricht etwa dem Fünffachen der in Deutschland geborenen Frauen.

Statistisches Bundesamt 2021. Anmerkung: 2010/11: zensusbedingte Korrektur

Bei Frauen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben (Ausländerinnen), ist die Geburtenrate im Durchschnitt mit Werten zwischen 1,6 und 2,2 höher als bei deutschen Frauen. Diese Geburtenrate hängt sehr von den Herkunftsländern der zugewanderten Frauen ab, ihrem Alter und vom Zuwanderungskontext, daher schwankt sie stark – beispielsweise infolge der Zuwanderung von Schutzsuchenden von 2015 bis 2018.

Der Geburtenanstieg in den 2010er-Jahren wurde demnach auch vom gestiegenen Anteil von Frauen mit Migrationshintergrund beeinflusst. Wäre die Geburtenrate in Deutschland auch ohne eine Zuwanderung ausländischer Frauen angestiegen? Die untere Linie der Grafik unten zeigt die Geburtenrate für deutsche Frauen. Diese hatte ihren Tiefpunkt 1994 mit 1,15 und lag bis 2006 unter 1,3. Im Jahr 2014 überschritt sie 1,4, 2016 lag sie bei 1,46, 2020 bei 1,43. Die Differenz zwischen der mittleren Linie (Insgesamt) und der unteren (deutsche Staatsbürgerschaft) ist auf den Effekt von Ausländerinnen auf die Geburtenrate zurückzuführen. Ausländerinnen und generell Frauen mit Migrationshintergrund haben teilweise ein anderes Geburtenverhalten, was unter anderem auf andere kulturelle Prägungen sowie andere Bildungs-, Erwerbs- und Einkommenschancen zurückzuführen ist. Insbesondere Frauen mit Herkunftsländern in Afrika oder dem Nahen Osten haben eine höhere Geburtenrate. Ein großer Teil der zugewanderten Menschen kommt aus Europa, dort ist das Geburtenverhalten dem der deutschen Paare relativ ähnlich. Studien bestätigen, dass sich das Geburtenverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund in zweiter Generation, also der in Deutschland geborenen und aufgewachsenen, an das der anderen Deutschen anpasst. Ein zentraler Faktor hierzu ist die Bildung.

Der Rückgang kinderreicher Familien und die Zwei-Kind-Norm

Eine Geburtenrate um fünf Kinder pro Frau, wie es im 18. und bis Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen Gebieten des heutigen Deutschlands der Fall war, bedeutete, dass eine verheiratete Frau durchschnittlich sechs bis sieben Kinder bekam, wobei jede vierte Frau unverheiratet (und meistens auch kinderlos) blieb.

QuellentextWas macht eine Familie aus?

[…] Das bürgerliche Familienideal? In Deutschland ist es bis heute ein verheiratetes heterosexuelles Elternpaar, das mit seinem biologischen Kind in einem gemeinsamen Haushalt lebt, wobei der Vater hauptsächlich für das Einkommen und die Mutter vor allem für Kind und Haushalt sorgt. Zu verdanken haben wir dieses Ideal einer historischen Ausnahmesituation in den Fünfzier- und Sechzigerjahren. In diesen zwei Jahrzehnten, in der Familienforschung auch "Golden Age of Marriage" genannt, konnte sich die moderne Kleinfamilie in Nordamerika und Europa für einen sehr kurzen historischen Zeitraum durchsetzen. Zwar besteht der Trend zu wenig Kindern fort – in den meisten Familien leben auch heute nur ein bis zwei –, und mit 70 Prozent dominieren weiterhin verheiratete heterosexuelle Paare die Familienformen. Doch die Zahl der Lebensgemeinschaften nimmt stetig zu, ebenso wie die der gleichgeschlechtlichen Eltern. Bei den Alleinerziehenden wächst vor allem die Zahl der Väter, die alleine mit ihren minder- oder volljährigen Kindern in einem Haushalt leben. Noch aber sind fast neun von zehn Alleinerziehenden Frauen. Insgesamt erzieht heute etwa in jeder fünften Familie ein Elternteil alleine die Kinder (19 Prozent). Sieben bis 13 Prozent aller Familien, so schätzt das Familienministerium, leben als Patchwork-Familie, genaue Zahlen gibt es hier nicht. Jede dritte Familie mit minderjährigen Kindern hat zudem heute einen Migrationshintergrund, in Westdeutschland ist es sogar schon fast jede zweite, in Ostdeutschland nur jede fünfte.

15.000 Kinder wuchsen 2018 in Regenbogenfamilien auf. Statistisch gesehen werden Regenbogenfamilien als Haushalte definiert, in denen gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern leben. Für lesbische, schwule, bisexuelle, trans-, intergeschlechtliche oder queere Menschen (LSBTIQ) sind Regenbogenfamilien jedoch Familien, in denen mindestens ein Elternteil sich zu einer dieser Gruppen zählt. In Statistiken lässt sich das allerdings nur schwer erfassen, weshalb die Zahl der dort ausgewiesenen Regenbogenfamilien – laut Familienreport waren es 2018 10.000 – vermutlich unterschätzt ist. Von diesen Familien hatte die Hälfte ein Kind, die andere Hälfte zwei Kinder.

26,7 Stunden betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit erwerbstätiger Mütter 2018. Das sind zwei Stunden mehr als noch 2006, wobei die Frauen im Osten im Schnitt 33 Stunden arbeiteten, im Westen nur 25 Stunden. Trotzdem sind viele Frauen weiterhin finanziell von ihrem Partner abhängig. Nur 65 Prozent der erwerbstätigen Mütter gelingt die Existenzsicherung. Bei den Vätern sind es 96 Prozent. […]

Text: Ann-Kathrin Eckardt, Grafik: Sead Mujic, "Familienaufstellung", in: Süddeutsche Zeitung vom 16./17. Januar 2021

Datenquelle: Statistisches Bundesamt

Lange Zeit wurde die gestiegene Kinderlosigkeit für den zentralen Treiber des Zweiten Geburtenrückgangs gehalten. Auch die Zunahme von Frauen mit einem Kind galt als Ursache. Allerdings ist der Anteil von kinderreichen Frauen, also mit drei oder mehr Kindern, ebenfalls zurückgegangen. Eine Studie mit Dekompositionsmethoden, die den Einfluss verschiedener Komponenten einer Entwicklung quantifiziert, berechnete für den gesamten Zweiten Geburtenrückgang, wie hoch die jeweiligen Faktoren waren. Dabei zeigte sich, dass 68 Prozent des Geburtenrückgangs auf den Rückgang kinderreicher Frauen und nur 26 Prozent auf den Anstieg von Kinderlosigkeit zurückzuführen sind. Die Interaktion aus Rückgang kinderreicher Frauen und Anstieg von Kinderlosigkeit trägt zu den restlichen 6 Prozent bei. Die Zunahme von Müttern mit einem Kind spielte kaum eine Rolle.

Die Abbildung zeigt den Rückgang der Geburtenrate der Frauen der Geburtsjahrgänge 1934-1968 im Vergleich zum Jahrgang 1933. Die Gesamtveränderung zwischen den Jahrgängen 1933 und 1968 beträgt -0,6 Kinder pro Frau, wobei die unterschiedlichen Komponenten von steigender Kinderlosigkeit, abnehmendem Kinderreichtum etc. dieses Rückgangs dargestellt sind. (© Bujard/Sulak 2016 (siehe Literatur))

In den 1960er-Jahren gab es eine Überbevölkerungsdebatte, die dazu führte, dass viele verheiratete Frauen, die bereits zwei Kinder hatten, keine weiteren Kinder bekommen wollten. Daten zur Nutzung moderner Verhütungsmittel zeigen, dass diese Mitte der 1960er-Jahre zunächst verheirateten Frauen mit eigenen Kindern verschrieben wurden. Jüngeren, kinderlosen Frauen dagegen wurde der Zugang zu diesen Verhütungsmittel erst einige Jahre später ermöglicht. Dies entspricht den gezeigten Dekompositionsanalysen: Der Geburtenrückgang begann vor allem mit dem Rückgang kinderreicher Familien.

Der Geburtenanstieg in den 2010er-Jahren von 1,3 auf etwa 1,5 Kinder pro Frau ging unter anderem mit dem Rückgang der Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen einher. Deutschland ist zwar gegenwärtig im europäischen Mittelfeld, die Geburtenrate liegt aber noch deutlich unter dem Bestandserhaltungsniveau. Selbst wenn sich die Kinderlosigkeit von etwa 20 Prozent halbieren würde und diese Mütter jeweils durchschnittlich zwei Kinder bekämen, würde die Geburtenrate um 0,2 steigen, also von 1,5 auf 1,7. Ein solcher Rückgang der Kinderlosigkeit ist wenig realistisch und die Geburtenrate wäre trotzdem noch deutlich unter dem Bestandserhaltungsniveau. Weitaus höhere Geburtenraten als gegenwärtig wären möglich, wenn sich mehr Paare für ein drittes Kind entschieden. Hier spielen gesellschaftliche Normen und die Anerkennung von kinderreichen Familien eine wichtige Rolle. Aber auch bei den familienpolitischen Dimensionen Zeit, Geld und Infrastruktur sowie Wohnraum haben kinderreiche Familien oft spezifische Bedürfnisse. Beispiele für finanzielle Unterstützung sind ein nach der Anzahl der Kinder gestaffeltes Kindergeld oder wie im französischen Familiensplitting ein "Quotient Familial", der Familien mit drei Kindern besonders entlastet.

Da die meisten Frauen auch nach der Geburt eines dritten Kindes wieder in das Berufsleben einsteigen möchten, ist es wichtig, die zeitliche Mehrfachbelastung aus Erwerbs- und Familienarbeit in der Phase mit kleinen Kindern ("Rushhour des Lebens") zu entzerren. Denn für drei oder vier Kinder benötigen Eltern nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Zeit. Umfragen zeigen, dass insbesondere Akademikerinnen und Akademiker sich oft drei Kinder wünschen. Während 32 Prozent der Akademikerinnen drei oder mehr Kinder als ideal ansehen, setzt mit 14 Prozent nicht einmal die Hälfte diesen Wunsch um. Hier könnte die Politik Verbesserungen ermöglichen, beispielsweise durch eine dynamische Familienarbeitszeit, die vollzeitnahe Teilzeitarbeit für Väter und Mütter und eine flexiblere Familienzeit ohne Angst vor erheblichen beruflichen Nachteilen.

PD Dr. Martin Bujard ist stellvertretender Institutsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden.

Nach beruflichen Erfahrungen in der Privatwirtschaft und der Politik zog es ihn in die Schnittstelle von Wissenschaft und Politikberatung. Von 2009–2011 war er im Projekt "Zukunft mit Kindern" an der Humboldt Universität zu Berlin tätig. Seit 2011 wirkt er am BiB in Wiesbaden, seit 2015 als Forschungsdirektor des Bereichs "Familie und Fertilität", seit 2020 als stellvertretender Institutsdirektor. Der habilitierte Sozialwissenschaftler hatte Lehraufträge an den Universitäten Berlin, Mainz und Bamberg inne. Er ist Mitgründer des Familiendemografischen Panels FReDA und forscht zu Geburtenentwicklung, Public Health mit Schwerpunkt Familien und Kinder sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Martin Bujard berät die Bundesregierung u. a. als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen des Bundesfamilienministeriums, bei der Demografiestrategie der Bundesregierung und in der Coronavirus-Pandemie bezüglich der Auswirkungen auf Jugendliche und Familien. Er ist Mitglied in wissenschaftlichen Gremien wie beispielsweise im Consortium Board des EU-weiten Generation and Gender Programme und der Arbeitsgruppe "Fortpflanzungsmedizingesetz" der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Ehrenamtlich setzt er sich als Präsident des evangelischen Familienverbandes eaf für Familien ein.

Danksagung: Der Autor dankt Samira Beringer, Felix Berth, Holger Bonin, Christian Fiedler, Mathias Huebener, Bernhard Köppen, Sandra Krapf, Elke Loichinger, Olga Pötzsch, Kerstin Ruckdeschel, Harun Sulak und Frank Swiaczny für viele wertvolle Kommentare zum Manuskript.