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Polnische Literatur nach 1989 Nach dem Ende der Zensur

Anna Nasilowska Anna Nasiłowska

/ 5 Minuten zu lesen

1989 war zwar keine Zäsur für die polnischen Literatur. Doch die Abschaffung der Zensur löste einen ''Freiheitsschock'' aus. Publizistik, Litraturkritik und Literatur wurden nicht zwangsläufig freier, sondern vielmehr empfänglicher für Demagogie.

Eine Frau geht an einem Stapel Bücher im polnischen Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse vorbei. (© AP)

Die mit der Problematik literarischer Umbrüche, d. h. mit den Binnenzäsuren der literarischen Evolution befassten Kritiker sowie Literaturwissenschaftler sind sich weitgehend darin einig, dass das Jahr 1989 für die polnische Literatur keine grundlegenden Veränderungen mit sich brachte. Der Dichter und Kritiker Julian Kornhauser stellte fest: "Direkt nach 1989 erwartete man allgemein einen Umbruch auch in der Literatur. Das war zwar verständlich, doch aus historischer Perspektive völlig unbegründet." Eine ähnliche Auffassung vertritt Jerzy Jarzębski in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel "Apetyt na przemianę" (Appetit auf Veränderung, 1997). Seiner Ansicht nach schuf die Erwartung einer neuen (und im Vergleich zur bisherigen völlig anderen) Literatur nach 1989 ein günstiges Klima für eine Generation junger Autoren und Autorinnen, deren Werke die Hoffnungen aber nicht ganz erfüllen konnten.

Mit Sicherheit jedoch bewirkte das Jahr 1989 Umbrüche im Kulturbetrieb, die man durchaus als Schock oder Revolution bezeichnen könnte. Plötzlich gab es keine Zensur mehr. Seit sich in den 1960er Jahren unter maßgeblicher Beteiligung des literarischen Milieus eine sichtbare Opposition formiert hatte, war eine der wichtigsten Forderungen die Beschränkung oder Abschaffung der Zensur gewesen. Dass diese Forderung in der Folge auch von der ersten "Solidarność"-Bewegung übernommen wurde, war ein wichtiges Signal für die Verständigung der intellektuellen Eliten mit dem Arbeitermilieu. In der Praxis der 1980er Jahre hob die Regierung viele Verbote auf.

Die Abschaffung der Zensur bewirkte einen "Freiheitsschock" – allerdings wurden Publizistik, Literaturkritik und Literatur nun nicht zwangsläufig freier, sondern oft lediglich empfänglicher für Demagogie. Verbotenes zu äußern oder heimlich unbequeme Wahrheiten zu transportieren, war in der Volksrepublik Gegenstand eines Spiels zwischen Autoren, Zensoren und den Rezipienten gewesen, die nach Andeutungen und Doppelkodierungen suchten. Ironie und die Kunst der Anspielung hatten in hoher Blüte gestanden. Plötzlich stellte sich heraus, dass dieses Spiel sinnlos geworden war. An seine Stelle trat ein direktes Sprechen, welches für das Publikum oft weniger aufregend und künstlerisch uninteressant war.

Die Abschaffung der Zensur ermöglichte die Verwirklichung einer weiteren zentralen Forderung der Opposition: die Aufhebung der als ungerecht und zerstörerisch angesehenen Unterscheidung verschiedener Literaturumläufe. In den 1980er Jahren, vor allem in der Phase vor der Transformation, gab es drei solcher Umläufe: die offizielle, in den Buchhandlungen zugängliche Literatur, die inoffizielle, im Untergrund vertriebene Literatur des sogenannten zweiten Umlaufs und die Literatur des Exils, die illegal eingeführt und häufig im zweiten Umlauf nachgedruckt wurde. Durch die Aufhebung der Trennung in verschiedene Umläufe wurden auch Untergrund- und Exilliteratur allen Lesern zugänglich. Anders als erwartet, kam es jedoch nicht zur Integration der unterschiedlichen Strömungen und zur Entstehung eines einheitlichen literarischen Diskurses. Stattdessen war ein neues Phänomen zu beobachten: Viele große Fragen aus der Zeit vor dem Systemwandel verloren an Bedeutung, die alten Betrachtungsweisen erschöpften sich ebenso wie das für den zweiten Umlauf charakteristische politische Engagement auf Seiten der Gesellschaft und wurden zu Relikten einer vergangenen Epoche.

Schockartig war auch der Wandel der ökonomischen Bedingungen, der sich grundlegend auf die Situation der Verlage und das System des Buchvertriebs auswirkte. Für eine kurze Zeit agierten nach 1989 viele Verlage des zweiten Umlaufs in einer Grauzone, Bücher wurden damals auf der Straße auf Feldbetten verkauft. Es galt das Schlagwort der ökonomischen Freiheit – "was nicht verboten ist, ist erlaubt". Dann stellte sich heraus, dass man Steuern zahlen musste. Nur wenige Verlage des zweiten Umlaufs verwandelten sich in normale, am Markt orientierte Unternehmen und von den Literaturverlagen überlebte kein einziger.

Die Krise erfasste auch die von alten Kadern geleiteten großen offiziellen Verlage, die auf die Bedingungen des freien Marktes und des Wettbewerbs nicht vorbereitet waren. Spektakuläre Bankrotte waren nur deshalb nicht zu verzeichnen, weil die Verlage meist in großen Gebäuden saßen und Räume vermieten konnten; darüber hinaus gingen sie mit Neuauflagen von Klassikern auf Nummer sicher. Mit dem Zusammenbruch des Hauptgroßhändlers der Volksrepublik, der zu Beginn der 1990er Jahre viele kleinere Häuser mit sich riss, verschärfte sich die Krise. Die Bibliotheken schränkten nach dem Wegfall staatlicher Subventionen ihre Anschaffungen drastisch ein, der Buchmarkt brach zusammen.

Unter den Jüngeren erwachte nach der Wende das Interesse am Feminismus. Es tauchten neue Autorinnen wie Manuela Gretkowska, Izabela Filipiak oder Magdalena Tulli auf. Besondere Aufmerksamkeit verdient Olga Tokarczuk, deren Werke beachtliche Erfolge beim Publikum erzielten. Kennzeichnend für ihre Prosa sind mythologisierende Verfahren, die Suche nach weiblichen Archetypen sowie Frauenfiguren, die von Anfang an nicht in traditionelle Rollenmuster passen und häufig mit magischen Kräften begabt sind. In jüngster Zeit ist auf der anderen Seite eine Blüte der homosexuellen Erzählprosa zu beobachten. Hier kann man von der sukzessiven Überwindung eines sittlichen Tabus sprechen. In Michał Witkowskis bekanntem Roman "Lubiewo" (2005, dt. Lubiewo) geht es jedoch weniger um die Aneignung westlicher Muster als vielmehr um die Darstellung einer polnischen Subkultur noch zu Zeiten der Volksrepublik.

Das Phänomen der Homosexuellen-Literatur ist ebenfalls nicht aus dem Nichts entstanden: Grzegorz Musiał hatte schon in den 1980er Jahren das homosexuelle Milieu geschildert. Nun weckt es aber das Interesse der Medien, nicht zuletzt im Kontext der Diskussionen über die Liberalisierung der Gesellschaft, die noch immer geführt werden – einem erstarkenden Konservatismus zum Trotz. Dieser findet, meist in Werken mittlerer Qualität, ebenfalls seinen literarischen Ausdruck. Viele Autoren aus dem rechten Lager, die zeitgleich mit dem Systemwechsel debütierten (Cezary Michalski, Rafał Ziemkiewicz, Andrzej Horubała), schalten sich mit Romanen in die aktuellen Debatten ein, welche Menschen auf der Suche nach Werten zeigen und die als oberflächlich empfundene Gegenwartskultur kritisieren.

Eine Generation noch jüngerer Prosa-Autoren, die in den 1970er und 1980er Jahren geboren wurden, zum Beispiel Dorota Masłowska, interessiert sich noch viel weniger als die Generation derer, die in den 1990er Jahren ihren literarischen Durchbruch erzielten, für politische Diskussionen. Ihr Bild Polens, das sich in ihren Werken widerspiegelt, ist durch Ironie, das Gefühl des Chaos und der Demaskierung der Falschheit offizieller Klischees gekennzeichnet.

Übersetzung: Bernhard Hartmann

Quellen / Literatur

Auszug aus: Anna Nasiłowska, "Polnische Literatur nach 1989", in: Externer Link: "Länderbericht Polen", hrsg. von Dieter Bingen und Krysztof Ruchniewicz (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung Bd. 735), Bonn 2009.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Julian Kornhauser, Międzyepoka. Szkice o poezji i krytyce [Zwischenepoche. Skizzen zu Lyrik und Kritik], Kraków 1995, S. 18.

  2. Viele der in dieser Studie angesprochenen Probleme habe ich zwischen 1993 und 2005 im Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts "Ansichten" in Jahreschroniken zu den literarischen Ereignissen in Polen ausführlicher besprochen.

  3. Vgl. Stefan Kisielewski, Kiedy spotkają się piśmiennicze nurty [Wann werden sich die schriftstellerischen Strömungen treffen], Erstdruck in "Spotkania", Nr. 6, 1979; Nachdruck in Stefan Kisielewski, Bez cenzury [Unzensiert], Editions Spotkania, Paris 1987, S. 130–143.

Weitere Inhalte

Anna Nasilowska, geboren 1957, ist Professorin für Journalismus an der Humanistischen Hochschule in Warschau und Dozentin am Institut der Literarischen Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Sie arbeitet außerdem als Literaturkritikerin und Schriftstellerin.