Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Kommentar: Das Protestjahr 2019 | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl)

Kommentar: Das Protestjahr 2019

Jan Matti Dollbaum

/ 3 Minuten zu lesen

Ein Blick in die nationalen und internationalen Medien verrät ein turbulentes Jahr in Russland: Zahlreiche Proteste machten 2019 Schlagzeilen – von Umweltprotesten über Demonstrationen gegen Repression bis hin zu Unmut gegenüber Stadtentwicklungsprozessen und Arbeitsbedingungen. Doch kann man wirklich von einem Protestjahr sprechen?

Demonstranten in Moskau zeigen Transparente mit den Portraits von politischen Gefangenen während einer Welle von Protesten der Opposition im Sommer 2019. (© picture-alliance/AP)

War das Jahr 2019 in Russland ein Jahr der Proteste? Legt man die Medienberichterstattung zugrunde, so muss die Antwort "ja" lauten. In Moskau demonstrierten Tausende für den Journalisten Iwan Golunow, dem die Polizei – mutmaßlich wegen seiner Korruptionsrecherchen – Drogen untergeschoben hatte. Später protestierten über 50.000 Menschen gegen Polizeigewalt und die Nichtzulassung unabhängiger KandidatInnen bei der Wahl zum Moskauer Stadtparlament. In Archangelsk wurde währenddessen gegen den Bau einer Deponie für Müll aus der Hauptstadt mobilisiert, in Jekaterinburg gab es Proteste gegen den Bau einer Kathedrale in einem Stadtpark, und in verschiedenen Regionen forderten Angestellte im Gesundheitswesen bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. All diese Ereignisse erregten mediale Aufmerksamkeit und fanden teils sogar international Beachtung. Doch gibt es im Vergleich zu den Vorjahren tatsächlich quantitative und qualitative Unterschiede?

In den Umfragen des Lewada-Zentrums ist sowohl der Anteil derjenigen Befragten, die (ökonomische) Proteste in ihrer Region für wahrscheinlich halten, als auch der Anteil derjenigen, die sich selbst an solchen Protesten beteiligen würden, zwischen 2015 und Sommer 2018, dem Zeitpunkt der Proteste gegen die Rentenreform, deutlich angestiegen – seither allerdings wieder leicht zurückgegangen (siehe Grafik 1 auf S. 3). Verlässliche Zahlen zu tatsächlichen Protestereignissen im laufenden Jahr stehen noch aus. Untersuchungen vergangener Jahre legen jedoch nahe, dass die in Umfragen gemessene Protesterwartung und -bereitschaft eher die Bewertung der Gesamtlage (siehe Semenov 2019) und die Bewertung politischer Eliten und Institutionen abbilden, als dass sie direkt mit Protesten in Verbindung stünden.

Qualitativ unterscheiden sich die vielbesprochenen Protestereignisse des Jahres 2019 auf den ersten Blick wenig von denen früherer Jahre. Thematisch bilden sie recht genau das traditionelle Spektrum ab: Umweltprobleme, Konflikte um urbane Grünanlagen, Beschneidung demokratischer Rechte, Korruption und Repression, soziale und/oder ökonomische Forderungen. Ebenfalls nicht neu ist, dass ein Brückenschlag zwischen politischen Protesten und oft explizit "unpolitischen" sozialen und ökologischen Protesten wiederholt gefordert und angestrebt wird, aber nur in Einzelfällen gelingt.

Neues findet sich weniger in den Protesten selbst als vielmehr in den Reaktionen, die sie hervorrufen. Erstens erfahren Proteste – auch in den Regionen – größere Aufmerksamkeit von unabhängigen und oppositionellen Medien. Zweitens ziehen einige Anliegen mittlerweile die Solidarität von Gruppen außerhalb oppositioneller Milieus oder direkt Betroffener auf sich – siehe etwa die kritischen Reaktionen regierungsfreundlicher JournalistInnen auf die Verhaftung Golunows und die Aussprache zahlreicher Künstler für die Opfer der Repressionen in Moskau. Drittens sahen sich auch die politisch Verantwortlichen in vielen Fällen zu Konzessionen gezwungen: der Bau der Kathedrale in Jekaterin­burg wurde verlegt, die Arbeiten an der Mülldeponie in Schijes (im Gebiet Archangelsk) wurden unterbrochen und die Ermittlungen gegen Golunow eingestellt.

Jedoch: Der konzertierte Gewalteinsatz der Polizei im Zentrum Moskaus anlässlich der Wahlproteste und die mehrjährigen Freiheitsstrafen für einzelne Protestierende weisen darauf hin, dass sich aus einigen Teilerfolgen keine Prognose für eine generell höhere Kompromissbereitschaft ableiten lässt. Im Gegenteil: Wenn nötig, wird schnell klargestellt, wo die Grenzen sind. Dies zeigen auch die Repressionen gegen Alexej Nawalnyjs regionales Netzwerk im Oktober und November 2019 und die Verschärfung des Gesetzes über "ausländische Agenten", auf dessen Basis nun auch Einzelpersonen zu solchen Agenten erklärt werden können.

Dass die politische Führung in der heutigen Situation zu härterer Gangart bereit ist, heißt wiederum nicht, dass dies für immer gelte oder dass politische Veränderungen ausgeschlossen wären. Dafür aber wäre es notwendig, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung dem Präsidenten Wladimir Putin das Vertrauen entzieht (siehe z. B. Greene und Robertson 2019). Auch in einem solchen Szenario wären Proteste allerdings eher eine Begleiterscheinung der gesellschaftlichen Umwälzungen – und wohl kaum ihre Ursache.

Lesetipps:

  • Bericht des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) zu Jugend und Protest:Externer Link: https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-report/zois-report-12018/ (Englisch).

  • dekoder-Dossier zu Protesten in Russland, erschienen auf Deutsch, Englisch und Russisch: Externer Link: https://protest.dekoder.org/

  • Dollbaum, Jan Matti. 2019. "Wie politisch Ist Protest? Außerparlamentarische Opposition in Russland." INDES: Zeitschrift Für Politik Und Gesellschaft, im Erscheinen.

  • Greene, Samuel A., und Graeme B. Robertson. 2019. Putin v. the People: The Perilous Politics of a Divided Russia. New Haven: Yale University Press (Englisch).

  • Interview mit dem Soziologen Alexander Bikbov zu den Moskauer Protesten im Sommer 2019: Externer Link: https://republic.ru/posts/94458 (Russisch).

  • Semenov, Andrei: Unregelmäßiger Rhythmus: Die Dynamik von Proteststimmung und kollektivem Handeln in Russland. Vortrag vom 5. Dezember 2019 an der Europäischen Universität St. Petersburg (Russisch).



Fussnoten

Jan Matti Dollbaum ist Doktorand an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Derzeit arbeitet er an der Fertigstellung seiner Dissertation zu Entwicklungspfaden von Protestinstitutionalisierung in vier russischen Regionen. Diese Publikation ist im Rahmen des internationalen Forschungsprojektes "Comparing protest actions in Soviet and post-Soviet spaces" entstanden, das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen-Stiftung koordiniert wird.