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Notizen aus Moskau: Siegestagparade unter dem Corona-Stern | Russland-Analysen | bpb.de

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Notizen aus Moskau: Siegestagparade unter dem Corona-Stern

Jens Siegert

/ 9 Minuten zu lesen

Durch die Corona-Pandemie konnte der 75. Jahrestag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland nicht wie geplant in Russland veranstaltet werden.

Herausgeber der Länderanalysen

Gemeinsam herausgegeben werden die Russland-Analysen von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V., dem Deutschen Polen-Institut, dem Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien, dem Leibniz- Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gGmbH. Die bpb veröffentlicht sie als Lizenzausgabe.

Zum "Tag des Sieges" fliegen Kampfjets am Himmel über dem Kreml in Moskau. Mit dieser Flugparade erinnert Russland an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren. (© picture alliance/dpa | Christian Thiele)

Die Parade zum 75. Jahrestag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland sollte der Höhepunkt des politischen Jahres in Russland werden. Die Corona-Pandemie hat daraus eine eher traurige Vorstellung gemacht. Zwar flogen, wie vorgesehen, symbolische 75 Militärflugzeuge vom Langstreckenbomber über Kampfhubschrauber bis zum Abfangjäger über den leeren Roten Platz, aber die Feier, sowohl das Pompöse der Militärparade als auch das Fröhliche des Volksfests in den Straßen der Moskauer Innenstadt (und überall im Land) fand nicht statt. Anstelle von lebendigen Menschen musste auch hier das Steril-Virtuelle der Fernsehübertragung und des YouTube-Videos herhalten. Präsident Putin hielt am Grab des unbekannten Soldaten im Alexandergarten an der Kremlmauer eine kurze, nüchterne Rede, in der er immerhin versprach, sowohl die Parade als auch der sehr populäre Umzug des sogenannten Unsterblichen Regiments würden unbedingt nachgeholt.

Dabei hätte die Parade prunkvoller als je zuvor ausfallen sollen – selbstverständlich mit Putin im Zentrum. An seiner Seite sollte der chinesische Staatschef Xi Jinping, der französische Präsident Emmanuel Macron und andere Staatschefs die russischen Soldaten vorbeimarschieren sehen. Das Bild: Putin in der Mitte, Xi und Macron zu seiner Seite. Xi als Symbol der neuen chinesisch-russischen (Gegen-)Allianz und Macron als Zeichen, dass all das Gerede von der Isolation Russlands wegen der Krimannexion und des Kriegs in der Ostukraine nicht mehr ist als eben das: Gerede. Die Parade hätte zudem der prächtige Schlussstein der Verfassungsänderungen sein sollen, die Putin Mitte Januar initiiert hatte und die 17 Tage zuvor, am 22. April, durch eine Volksabstimmung ihre höheren Legitimationsweihen hätten erhalten sollen. Auch die Volksabstimmung musste wegen der Pandemie verschoben werden. Hätten, sollen, wären, alles vom Virus dahingerafft.

Dabei hatte alles (wir sind wieder im Indikativ), bis etwa Mitte März, für Putin wie am Schnürchen geklappt. Mitte Januar verkündete er (zumindest zu diesem Zeitpunkt unerwartet für alle) die Verfassungsänderungen, die, so der allgemeine Kommentar-Tenor damals, dazu dienen sollten, dass sogenannten Problem 2024 zu lösen, also die Frage, wie Putins Nachfolge organisiert werden kann, ohne seine Macht, seine Sicherheit und damit die Stabilität des von ihm in den vergangenen 20 Jahren geschaffenen politischen Systems zu gefährden.

Mitte März schlug dann die erste sowjetische Kosmonautin Walentina Tereschkowa, heute Abgeordnete der Staatsduma, in der Parlamentsdebatte über die Verfassungsänderungen vor, auch einen Passus aufzunehmen, mit dem Putins bisherige Amtszeiten, wie sie es nannte, auf Null zu setzen . Erneut waren alle überrumpelt. Doch die offenbar gut geplante Aktion im Stil einer Geheimdienstoperation ging weiter. Nur wenige Stunden später trat Putin (was sonst fast nie vorkommt) in der Duma auf und erklärte, er sei mit dieser Änderung einverstanden, wenn auch mit der Einschränkung, dass das Verfassungsgericht alles absegnen müsse. Nur drei Tagen später schon hatte nicht nur die Duma die Verfassungsänderungen verabschiedet, sondern auch der Föderationsrat und alle 85 Regionalparlamente (inklusive Krim und Sewastopol) den Verfassungsänderungen zugestimmt. Das Verfassungsgericht folgte, wie immer und nicht anders zu erwarten, weitere drei Tage später. Innerhalb von nur einer Woche war aus der Frage, wie Putins Nachfolge 2024 geregelt wird, die Frage geworden, was es für das Land heißt, dass Putin nun eventuell bis 2036 Präsident bleibt.

Die Pandemie, die in der übrigen Welt schon längst die Tagesordnung bestimmte, blieb derweil im Hintergrund und wurde medial klein gehalten. Sie komme aus dem Ausland, hieß es aus dem Kreml. Russland habe früh und entschieden reagiert und die Grenzen rechtzeitig geschlossen. Alles sei unter Kontrolle , sagte Putin. War es aber nicht. Spätestens am 25. März wurde dieser Selbstbetrug offensichtlich (wenn es denn ein Selbstbetrug war und nicht ein Betrug an den Menschen im Land). Putin musste öffentlich den Ernst der Lage anerkennen und das Land in die seither in den allermeisten Regionen, vor allem aber in Moskau und St. Petersburg geltende sogenannte Selbstisolation schicken. Wenn diese Ausgangssperre, denn darum handelt es sich (im Gegensatz zu zum Beispiel Deutschland), nicht über den bisher geltenden 31. Mai hinaus verlängert wird, wird sie mindestens neun Wochen gedauert haben.

Niemand, auch die besten Expert/innen, kann momentan voraussagen, wie zerstörerisch die wirtschaftlichen Folgen und damit die sozialen und politischen Folgen sein werden. Hinzu kommt, dass Russland von einer Doppelkrise getroffen ist. Nicht nur Corona zieht die Wirtschaft hinunter, sondern auch der tief gefallenen Ölpreis (an dem der Kreml wegen der Aufkündigung des sogenannten OPEC+-Deals im März, vorsichtig ausgedrückt, nicht ganz unschuldig ist). Das ist für Putin und das Land eine seit dem Ende der 1990er Jahre nicht mehr dagewesene wirtschaftliche Herausforderung. So sehen das, wie Umfragen u. a. des Lewada-Zentrums nahelegen, auch viele Menschen in Russland: Die Wirtschaftskrise beunruhigt sie bisher weit mehr als die Pandemie. Das liegt wohl auch daran, dass der Kreml das Land besonders gut aussehen lassen will und die offiziellen Infektionszahlen lange Zeit durch geschickte Zählung niedrig gehalten hat und die Zahl der offiziellen Corona-Toten noch immer hält. Das erweckt bei vielen Menschen den Eindruck, das Virus sei gar nicht so schlimm und die strengen Isolierungsmaßnahmen nur eine neue Grille ihrer Staatsführung.

In dieser Situation sieht Putin erstmals seit langem nicht mehr wie der strahlende Sieger aus. Zwar bemühen sich Kreml und Staatsfernsehen weiter redlich, den Präsidenten ausschließlich als Quelle guter Nachrichten und diverser Wohltaten für die Bevölkerung auftreten zu lassen. Aber das bisher so oft erfolgreiche Spiel, dass alles Gute Putin zugeschrieben wurde, während er gleichzeitig alles Schlechte auf seine (je nachdem unfähigen oder unwilligen ) Untergebenen abwälzen konnte, funktioniert in der Corona-Krise plötzlich kaum noch. Die Pandemie scheint diese bisherige Regel zu Putins Ungunsten geändert zu haben. Plötzlich gilt nicht mehr er als der Tatkräftige, sondern viele der Gouverneure vor Ort, besonders der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin. Daran ist Putin selbst schuld. Und das kam so.

Am Beginn der Pandemie war Putin fast unsichtbar. Er hatte Sobjanin zu seinem Corona-Beauftragten gemacht. Ob es nun so war, dass man im Kreml für Putin in dieser so unerwarteten wie völlig neuen Situation nichts zu gewinnen sah oder dass man mit den Verfassungsänderungen zu beschäftigt war oder die Pandemie einfach nicht ernst genug nahm oder alles zusammen, ist schwer zu beantworten. Jedenfalls zeigte sich der bis dahin als öffentlicher Politiker eher blasse Sobjanin in dieser Krise unerwartet entschieden und zupackend. Schnell mauserte er sich zum (kompetenten) Corona-Gesicht des russischen Staates. Erst als der Lockdown unabwendbar wurde, tauchte Putin wieder auf. Allerdings nur, um die Verantwortung für die Umsetzung und auch für die Details der Ausgestaltung der Beschränkungen sofort wieder den Gouverneuren zu übertragen. Das funktionierte (von der Ausnahme Moskau abgesehen) aber nicht wirklich gut. Wie sollte es auch. In den vergangenen 20 Jahren waren nach und nach alle Macht und die allermeisten Ressourcen im Kreml konzentriert worden. Gouverneur wird man (und ganz selten frau) schon lange nicht mehr als Politiker/in, sondern vorzüglich durch den Aufstieg im Kreml-Personalpool. Loyalität und (wenn auch weniger) administrative Kompetenz spielen dabei die entscheidende Rolle. Gouverneure sollen Umsetzer von Kremlpolitik sein, ohne eigene politische Ambitionen, möglichst nicht zu sehr verbunden mit regionalen Eliten, und also völlig vom Zentrum in Moskau abhängig. Mit der ihnen nun plötzlich übertragenen (Eigen-)Verantwortung, noch dazu in einem echten Notstand, sind viele der Gouverneure offensichtlich überfordert (ihnen fehlen in einem umfassenden Sinn einfach die Ressourcen).

Seit Mitte März nun regiert Putin in großen, immer mal wieder öffentlichen Digital-Sitzungen, in denen er Gouverneuren, Minister/innen oder Behördenleiter/innen sagt, was sie zu tun haben (inkl. der verräterischen Betonung darauf, es "diesmal" aber "wirklich richtig" zu machen). Im Ergebnis wirkte Putin bisher seltsam schwach und selbst die (blassen) Gouverneure gewinnen im Vergleich zu ihm an Gewicht, was sich Ende April in einer Umfrage zeigte, in der die Befragten einigen Gouverneuren erstmals mehr Vertrauen zusprachen als dem Präsidenten. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Putin die Pandemie vor allem als Störung wahrnahm. Ein Eindruck, der, wie mir scheint, von vielen Menschen in Russland geteilt wird. Die schon vorher immer wieder angemerkte Entrücktheit Putins aus der Tagespolitik in eine Position als eine Art unanfechtbarer Vater der Nation (repräsentiert durch viel Außen- und Geopolitik, aber kaum Innen- und Sozialpolitik), auf der bisher, gestützt selbstverständlich durch die hohe Zustimmung in Umfragen, seine Ausnahmestellung ruhte, scheint sich in dieser sehr konkreten Krise, die das Leben aller verändert hat, zu einem Nachteil zu werden. Putin, der sich immer auch dadurch auszeichnete, ein sehr feines Gespür für die Stimmungen im Land zu haben, zeigte sich nicht auf der Höhe der Zeit als er sehr lange zögerte, die geplante Volksbefragung zu den Verfassungsänderungen am 22. April und für die Siegesparade am 9. Mai abzusagen, selbst als allen schon klar war, dass das notwendig war.

Das scheint inzwischen auch im Kreml angekommen zu sein. Denn am 11. Mai zeigte sich plötzlich ein ganz anderer Putin. Viel energischer als zuvor, vor allem aber fast schon warm und mitfühlend ging er in einer erneuten als Videokonferenz mit Gouverneuren und Ministern getarnten Fernsehansprache auf die Probleme von älteren und kranken Menschen ein, sorgte sich um Familien mit Kindern, zeigte Mitgefühl mit arbeitslos gewordenen und Kleinunternehmern. Vor allem aber verkündete er über eine halbe Stunde lang sehr detailliert materielle Unterstützungsmaßnahmen für von der Corona-Krise betroffene Menschen und Unternehmen. Außerdem versprach er baldige Lockerungen, auch wenn er einschränkend hinzufügte, natürlich nur sofern die Epidemie-Lage das erlaube. Damit sieht es aber weiter schlecht aus. Seit Anfang Mai steigt die Zahl der Neuinfektionen Tag für Tag um mehr als 10.000, so dass das so gut gestartete Russland am Ende der Maifeiertage in absoluten Zahlen schon auf dem zweiten Platzt nach den USA angekommen war. Ob dieser Auftritt also in der Lage ist, eine Wende herbeizuführen, wird wohl auch von der weiteren Entwicklung der Epidemie abhängen.

Doch noch einmal zurück zur Siegesparade. Sie sollte das wichtigste ideologische Ereignis des Jahres werden, begleitet vom verstärkten "Kampf gegen Geschichtsfälschungen", also gegen jene, die aus Sicht des Kremls die Geschichte des Zweiten Weltkriegs "umzuschreiben" und so angeblich den überragenden Beitrag der Sowjetunion, sprich Russlands zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland zu schmälern versuchen. Hierzu gehört eine Rehabilitierung des Hitler-Stalin-Paktes ebenso wie die Auseinandersetzung mit Ländern wie Polen und den baltischen Staaten um die Frage, ob sie denn nun von der Sowjetunion 1945 befreit oder besetzt wurden.

Der Sieg im Zweiten Weltkrieg oder besser im "Großen Vaterländischen Krieg" ist das eine wirklich alle Teile und Schichten der russischen Gesellschaft einigende Band. Nicht zuletzt deshalb hat Putins Vorgänger Boris Jelzin schon 1995 die Siegesparaden auf dem Roten Platz (wenn auch zuerst ohne Panzer und Flugzeuge) wiedereingeführt. Schon damals ging es um eine "nationale Idee" für den neuen und jungen Staat jenseits einer seinerzeit undenkbaren Fortsetzung von Russischem Imperium und Sowjetunion. Putin hat den "Sieg" zum ideologischen Fundament seiner Herrschaft ausgebaut, indem er die Nachfolge dieser "glorreichen Vergangenheit" für sich in Anspruch nimmt und sie in die Zukunft fortzusetzen verspricht. Das macht den Sieg aber zu einer heiligen Kuh und Kritik oder abweichende Sichtweisen zum Sakrileg.

Die Siegesparade ist das Hochamt dieser Religion. In diesem Jahr sollte sie aber auch noch einem anderen Zweck dienen: Mit den eingeladenen Staats- und Regierungschefs aus aller Welt wollte Putin demonstrieren, dass Russland, trotz Krim und entgegen aller tatsächlicher und angeblicher Isolierungsversuche durch "den Westen", wieder zu den geopolitisch führenden Ländern dieser Welt gehört. Darin, nicht in gesellschaftlicher Hinsicht oder durch das Wirtschaftssystem, sehen Putin und seine Unterstützer/innen sich als die wahren Erben der Sowjetunion. Diese "Errungenschaft" möchte Putin durch seine Nachfolgerschaft gesichert sehen. Weil er das aber, zumindest momentan, niemandem zutraut, musste die Verfassung geändert werden. Beides zu vollenden, hat die Corona-Pandemie nun verhindert. Es gibt, da hat Putin immerhin recht, Wichtigeres, auch in den Augen der meisten Menschen in Russland.

Dieser Beitrag von Jens Siegert erschien in seinem Blog (rExterner Link: ussland.boellblog.org/) am 13.05.2020.

Fussnoten

Jens Siegert lebt seit 1993 in Moskau. Er war Korrespondent, hat mehr als 15 Jahre das Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung geleitet und bemüht sich seit einigen Jahren, im Auftrag der EU Public Diplomacy in und mit Russland zu fördern.