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Kommentar: Ein Refugium der Freiheit wird zerstört

Marieluise Beck Berlin) Marieluise Beck (Zentrum Liberale Moderne

/ 3 Minuten zu lesen

"Memorial" – Weshalb ist es so wichtig und so umstritten, sich zu erinnern? Zerstört werden soll nicht nur eine Organisation. Zerstört werden soll die Chance auf einen Neuanfang durch Erinnerung. Dabei sind die Gründer und Träger von Memorial gewaltfrei und unbeugsam zugleich.

30. Oktober 2015. Besucher:innen nehmen an der Eröffnungszeremonie des Gulag-Geschichtsmuseums in Moskau teil. (© picture-alliance, MAXIM SHIPENKOV)

"Memorial" – Weshalb ist es so wichtig und so umstritten, sich zu erinnern? An die Opfer, die Täter, die Namen, die Orte, die Spuren und Zeugnisse. Nicht nur aus Respekt für die Opfer – auch um Eurer, um unserer Zukunft willen. Damit Willkür, Unmenschlichkeit, Leiden, das Brechen von Menschen, das zügellose Ausleben von Macht, die Straflosigkeit – damit all das nie wieder zurückkehren kann.
Der Wahn Hitlers, das totalitäre System des Nationalsozialismus, das Europa beinahe zerstörte – zu seiner Aufarbeitung bedurfte es zunächst des Anstoßes durch die alliierten Sieger. Sehr zögerlich und langsam stellte sich das deutsche Volk diesen dunklen Jahren der Geschichte.

Der Wahn Stalins, das totalitäre System der Sowjetunion hatte ein anderes Gesicht, eine andere Ideologie, andere Charakterzüge und doch viele strukturelle Gemeinsamkeiten. Auch dieses Regime führte viele Millionen ins Verderben – Erschießungskommandos, Gulag, Holodomor, Deportationen.
Aber es gab keine Siegermächte, die verlangten, sich mit dieser Tragödie zu konfrontieren.
Stalins Tod brach die schlimmste Welle der Gewalt, doch Unterdrückung und Willkür, das Ausgeliefertsein blieb.
Auch in der Sowjetunion machten sich mutige, aufrechte und kluge Menschen auf den Weg der Erinnerung. Sie gingen in Archive, soweit sie zugänglich waren, befragten Zeitzeugen, sammelten Material. Sie trafen sich in kleinen Zirkeln, vertraulicher Austausch fand in den Küchen statt.
Arsenij Roginskij ging für diese verbotene Spurensuche noch ins Straflager. Man arbeitete im Untergrund, fotografierte Zeugnisse. St. Petersburg und Moskau wurden zu Zentren, in denen das Schweigen gebrochen wurde.
Keine Familie in der Sowjetunion, die nicht einen oder eine verloren hatten. Erschütternde Zettel von Müttern, die ihren Kindern noch einen letzten Gruß zukommen ließen.
Die leeren Augen derer, die wussten, dass sie der Tod erwartete, für nichts. Aus reiner Willkür.
1990 schienen die Türen aufzugehen. Es gab Luft zum Atmen. Wahrheiten durften benannt, Opfer und ihre Zeugnisse gesucht, Täter benannt werden. Das System der Repression, das das ganze Land in Angst versetzt hatte, durfte erforscht werden.
West und Ost reichten sich die Hand. In den 90er Jahren konnten wir in Deutschland und den Folgestaaten der Sowjetunion gemeinsam die Zivilisationsbrüche des destruktiven 20. Jahrhunderts erforschen.
Schon lange gefällt dem Putin-Regime die Arbeit an der Wahrheit nicht mehr. Schon lange arbeitet der Kreml an einer neuen Deutungshoheit der Geschichte, will die imperiale Größe wieder herstellen. Die Siege der Sowjetunion werden wieder gefeiert, ihre Abgründe stören das heroische Bild. Dass nur die Wahrheit über die Vergangenheit neue Untaten verhindern kann, passt nicht mehr in die Logik der Macht.
Schon lange zieht sich der Ring um Memorial zu. Die "Nestbeschmutzer" sollen schweigen oder das Land verlassen. Sie werden erneut mit Haft und Straflager bedroht.
Die Archive sollen wieder geschlossen werden. Darunter auch das größte Archiv zu Zwangsarbeitern in Deutschland, das von Memorial aufgebaut wurde.
Memorial ist ein großes Netzwerk, es reicht über Russland hinaus, in die baltischen Staaten, in die Ukraine, ja, bis nach Deutschland.
Zerstört werden soll nicht nur eine Organisation. Zerstört werden soll die Chance auf einen Neuanfang durch Erinnerung. Es geht um Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit als Grundlage für ein demokratisches und friedliches Europa.
Die Gründer und Träger von Memorial sind gewaltfrei und unbeugsam zugleich. Sie setzen ihren friedlichen Kampf um Recht und Gerechtigkeit auch vor Gericht fort, obwohl jeder weiß, dass die Urteile nicht im Gerichtssaal gefällt werden.
Es gibt viele Gründe, diese mutigen Menschen zu lieben. Die Staatsmacht kann Gebäude schließen und Organisationen verbieten. Aber den Geist von Memorial wird sie nicht besiegen.

Fussnoten

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Marieluise Beck ist Direktorin für Ostmitteleuropa/Osteuropa am Zentrum Liberale Moderne in Berlin. Sie war langjährige Abgeordnete im Deutschen Bundestag von Bündnis 90/Die Grünen und ist seit gut dreißig Jahren mit den Menschen von Memorial verbunden.