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Kommentar: Memorial als wichtiger geschichtswissenschaftlicher Akteur | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Memorial als wichtiger geschichtswissenschaftlicher Akteur

Martin Aust Martin Aust (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn)

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Ruinen des Gefangenenlagers Butugychag aus der Sowjetzeit in der Region Kolyma im Nordosten Russlands. Das Foto wurde am 10.1989 aufgenommen. (© picture-alliance, Nikolai Nikitin)

Die Staatsanwaltschaft Russlands hat die Auflösung von Memorial beantragt. Die zuständigen Gerichte haben ihre weitere Befassung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft in die zweite Dezemberhälfte dieses Jahres verlegt. Zuvor wird die drohende Auflösung von Memorial Gegenstand eines Treffens zwischen Präsident Putin und dem Rat für Menschenrechte in Russland sein. Ob sich damit die drohende Schließung von Memorial abwenden lässt, steht dahin. Allein die Beantragung der Schließung unter dem fadenscheinigen Vorwand, Memorial habe gegen Bestimmungen des Gesetzes über ausländische Agenten verstoßen, lässt schlimmes befürchten. Der Vorstoß der Staatsanwaltschaft richtet sich gegen die älteste und größte Menschenrechtsorganisation in Russland. Memorial ist 1989 in der Sowjetunion unter maßgeblicher Beteiligung des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow und der Germanistin und Historikerin Irina Scherbakowa gegründet worden. Der Antrag der Staatsanwaltschaft stellt einen beispiellosen Angriff auf die Zivilgesellschaft und Meinungsfreiheit in Russland dar. Zugleich gilt er aber auch einer wissenschaftlichen Institution, die wie keine andere für das Gedächtnis Russlands steht.

Die Anfänge Memorials in der Sowjetunion fallen in die Phase der Glasnost, als Gorbatschow es zuließ, dass die blinden Flecken der sowjetischen Geschichte und insbesondere des Stalinismus ausgeleuchtet werden. Die Erfahrung des stalinistischen Terrors hatte sich buchstäblich in beinahe jede Familiengeschichte in der Sowjetunion eingeschrieben, musste dort jedoch im Zeichen von Angst und Furcht häufig beschwiegen werden. Memorial vermaß und dokumentierte diese Geschichte. Memorial kartierte die Lager des Gulags und der Erschießungsstätten. Memorial rekonstruierte die Namen der Opfer, gab ihnen ihre Stimme zurück. Memorial sammelte Lebensinterviews von Überlebenden und ihren Nachfahren, initiierte und unterstützte die Eröffnung von Gedenkstätten des stalinistischen Terrors wie beispielweise in Perm und neuer Erinnerungspraktiken wie "Die letzte Adresse", die den letzten Wohnort von Opfern des stalinistischen Terrors mit Plaketten an Hauswänden im öffentlichen Raum sichtbar macht.

Memorial ist in dreifacher Hinsicht ein wichtiger geschichtswissenschaftlicher Akteur. Das gilt zuerst für die konzeptionelle Weiterentwicklung von Geschichtswissenschaft. In den 1990er Jahren wandte sich die Geschichtsschreibung in vielen Ländern verstärkt den einzelnen Menschen, ihren Erfahrungen und Selbstbeschreibungen zu. Die große Geschichte von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erhielt eine anthropologische Dimension. Wie einzelne Menschen Umbrüche erfahren haben, unter welchen Zwängen Menschen lebten, aber auch über welche Handlungsmacht sie verfügten und wie sie sie nutzten, wie sie ihr eigenes Leben erzählten – dies waren neue und drängende geschichtswissenschaftliche Fragen der 1990er Jahre. Memorial hat sie in Russland maßgeblich mit entwickelt und sie in der Geschichtsschreibung etabliert. Zweitens hat Memorial dabei Unschätzbares für die Internationalisierung von Geschichtsschreibung geleistet. Die Moskauer Zentrale von Memorial ist in einem Netzwerk mit Filialen in Belarus, der Ukraine, Deutschland, Tschechien, Frankreich, Belgien und Italien verbunden. Memorial steht exemplarisch dafür, dass Geschichtswissenschaft allein als internationale Kooperation gelingen kann. Drittens hat Memorial über die Jahrzehnte ein einzigartiges Archiv angelegt. Es ist in verschiedene Sammlungen unterteilt. Sie umfassen ein Archiv der Geschichte des Gulags von 1918 bis 1956, ein Archiv der poststalinistischen Dissidenz in der Sowjetunion, ein Archiv der Ostarbeiterinnen und Ostarbeiter, die die Deutschen zur Zwangsarbeit im Reich deportiert hatten, mit mehr als 320.000 Briefen und Memoiren, ein Archiv lebensgeschichtlicher Videos und Audiodateien zur Tätigkeit von Memorial, ein Fotoarchiv des 20. Jahrhunderts und ein Zentrum der Oral History. Die Geschichte der Sowjetunion kann ohne diese Materialien nicht geschrieben werden.

Der russländische Staat mag Memorial als Organisation verbieten können. Doch wir Historikerinnen und Historiker müssen alles uns Mögliche dazu beitragen, dass Memorial als Idee, Gedächtnis, Archiv und Partner der Geschichtswissenschaft weiterlebt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Martin Aust ist Professor für Geschichte und Kultur Osteuropas an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Vorsitzender des Verbands der Osteuropahistorikerinnen und -historiker Deutschlands. Jüngste Publikationen: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991 (München 2019); Erinnerungsverantwortung. Deutschlands Vernichtungskrieg und Besatzungsherrschaft im östlichen Europa 1939 – 1945 (Bonn, 2021).