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Kommentar: Die sozialen Sorgen der Bevölkerung in der politischen Rhetorik | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Die sozialen Sorgen der Bevölkerung in der politischen Rhetorik Russland-Analyse Nr. 413

Heiko Pleines Heiko Pleines (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

/ 5 Minuten zu lesen

In den letzten zwei Jahrzehnten sind die Sorgen der russischen Bevölkerung weitgehend unverändert geblieben. Die Begriffe "Arbeitslosigkeit" und "Inflation" werden in der politischen Rhetorik sehr bedacht eingesetzt.

Lebensmitteleinkauf in einem Pjatjorotschka-Geschäft. (© picture-alliance/dpa, TASS)

Einleitung

Die russische politische Führung gibt sich seit dem ersten Wahlsieg von Wladimir Putin im Jahr 2000 große Mühe, die eigene Herrschaft zu legitimieren. So entstanden in den ersten beiden Amtszeiten Putins die Konzepte der "Diktatur des Gesetzes" und der "souveränen Demokratie". Zunehmend rückten jedoch die eigenen Leistungen ins Zentrum – in den 2000er Jahren vor allem das Wirtschaftswachstum, in den 2010er Jahren außenpolitische Erfolge.

Die eigenen Leistungen wurden auch als Reaktion auf die Wünsche der Bevölkerung dargestellt. So schrieb Wladimir Putin z. B. in einem viel beachteten Zeitungsbeitrag zu Demokratie, der Teil einer Reihe programmatischer Aufsätze im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfes 2012 war, dass seine Regierung durchweg den Willen des Volkes umsetze und dass dies zwischen den Wahlen durch Meinungsumfragen bestätigt werde (Externer Link: https://www.kommersant.ru/doc/1866753).

Die folgende kleine Analyse präsentiert Meinungsumfragen des unabhängigen Lewada-Instituts zu den "drängendsten Problemen" des Landes, um die Wünsche der Bevölkerung zu erfassen. Sie beschränkt sich dabei auf soziale und wirtschaftliche Probleme. (Externer Link: https://www.levada.ru/2021/03/09/problemy-obshhestva/) Die Wünsche der Bevölkerung werden dann mit der politischen Rhetorik verglichen, um zu überprüfen, ob diese tatsächlich entsprechende Reaktionen zeigt. Hierzu werden Datenbanken aller öffentlichen Aussagen des russischen Präsidenten und aller Debatten im russischen Parlament genutzt, die von Dekoder u. a. mit Unterstützung des Sonderforschungsbereichs "Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik" (Universität Bremen) erstellt wurden. (Externer Link: https://duma.dekoder.org, Externer Link: https://putin.dekoder.org) Abschließend muss natürlich auch der Zusammenhang zwischen Worten und Taten thematisiert werden.

Auf wachsende Sorgen reagieren

Am deutlichsten zeigt sich die staatliche Reaktion auf die Sorgen der Bevölkerung, wenn ein Problem innerhalb kurzer Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung an Bedeutung gewinnt. Zum Beispiel stieg in Folge der globalen Finanzkrise 2008 die Zahl derjenigen, die Arbeitslosigkeit für eines der zentralen Probleme des Landes halten, innerhalb weniger Monate von etwa 25 Prozent auf über 50 Prozent. Gleichzeitig bezog sich der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew in diesem Zeitraum so oft auf Arbeitslosigkeit wie sonst nie. Dasselbe gilt für die Staatsduma insgesamt und für alle vier Fraktionen. Die häufigsten Bezüge auf Arbeitslosigkeit finden sich während der Krise bei der Kommunistischen Partei, etwa doppelt so viele wie bei der inoffiziellen Regierungspartei "Einiges Russland". Aber immerhin benutzten Abgeordnete von "Einiges Russland" das Wort Arbeitslosigkeit sechsmal so oft wie vor der Krise.

Ebenfalls zur Zeit der globalen Finanzkrise 2008 nannten über 80 Prozent Inflation als großes Problem, etwa 20 Prozent mehr als vor der Krise. In den russischen Parlamentsdebatten wird Inflation 2008 mehr als dreimal so häufig erwähnt wie im Vorjahr. "Einiges Russland" hat dabei den größten Anteil, knapp vor der Kommunistischen Partei.

Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich mit Beginn der Covid-19-Pandemie. In der Wahrnehmung der Bevölkerung wird Arbeitslosigkeit ein größeres Problem und gleichzeitig steigen 2020 die Erwähnungen von Arbeitslosigkeit bei Präsidenten und Duma auf die höchsten Werte seit 2009.

In anderen Fällen spiegelt die politische Rhetorik eher indirekt die Wahrnehmung der Bevölkerung. 2004 gibt es einen starken Anstieg der Erwähnungen von Armut, der im Zusammenhang mit der in diesem Jahr diskutierten Sozialreform steht. Diese Reform führte 2005 zur größten Protestwelle des Jahrzehnts, aber nicht zu einer zunehmenden Sorge der Bevölkerung vor Armut.

Das rhetorische Aufgreifen sozialer Sorgen der Bevölkerung hat aber auch Grenzen. So ist die Rentenreform, die im Sommer 2018 Massenproteste auslöste, in der politischen Rhetorik wenig sichtbar. Sowohl bei Präsident Wladimir Putin als auch bei der Duma geht die Häufigkeit der Bezüge auf Renten nicht über frühere Anstiege hinaus und bei der Duma ist der Anstieg bei den Oppositionsparteien besonders stark. Dies wurde allgemein als Zeichen dafür interpretiert, dass eine für notwendig gehaltene Reform möglichst unauffällig auf den Weg gebracht werden sollte.

Rhetorik und Handeln

In den letzten zwei Jahrzehnten sind die Sorgen der Bevölkerung, so wie sie in den Lewada-Umfragen erfasst werden, weitgehend unverändert geblieben. Bei den sozialen und wirtschaftlichen Problemen steht Inflation mit kurzen Ausnahmen an erster Stelle und wird durchgehend von über der Hälfte der Bevölkerung als eines der drängendsten Probleme gesehen. Auf dem zweiten und dritten Platz folgen die meiste Zeit Armut und Arbeitslosigkeit. Dies kann als Beleg dafür gesehen werden, dass aus Sicht der Bevölkerung die Politik zwar über die Probleme redet, diese aber nicht löst.

Bezogen auf die drei am häufigsten genannten Probleme scheint die Statistik aber eine andere Sprache zu sprechen. Die Inflationsrate war Anfang der 1990er Jahre dreistellig, bis 2005 zweistellig und seitdem mit kurzen Ausnahmen immer einstellig. Unabhängig von der Messmethode ist der langfristige Trend bei der Armut vom Amtsantritt Putins bis Mitte der 2010er Jahre ein allmählicher Rückgang, der wohl erst 2020 mit der Corona-Krise nachhaltig unterbrochen worden ist. Die Arbeitslosigkeit ist seit dem Jahr 2000 – gemessen nach der Methode der International Labour Organisation – nie über 9 % gestiegen, auch nicht während der Corona-Pandemie. (Externer Link: https://www.bofit.fi/en/monitoring/statistics/russia-statistics/, zur Armut Externer Link: https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/kennzahlen-zur-armut-in-russland/)

Die Sicht der Bevölkerung hat aber nicht nur mit der tatsächlichen Lage, sondern auch mit Erwartungen zu tun. Neil Robinson hat so argumentiert, dass die Bevölkerung zum Ende der zweiten Amtszeit Putins dynamisches Wirtschaftswachstum und entsprechend steigende Löhne zunehmend als neue Normalität wahrnahm und deshalb – gerade in dem Moment als die globale Finanzkrise begann – höhere Erwartungen entwickelte.

Trotzdem hat seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000 in Umfragen die Zustimmung zum Präsidenten immer über 60 % gelegen (Externer Link: https://www.levada.ru/en/ratings/), was darauf hindeutet, dass ein großer Teil der Bevölkerung dem Präsidenten die Schwere der anstehenden Probleme zugutegehalten hat bzw. es gelingt, andere zu Sündenböcken zu machen.

Resümee

Es zeigt sich also, dass Krisen und stark zunehmende Befürchtungen in der politischen Rhetorik in Russland aufgegriffen werden. Inwieweit die Bevölkerung dann mit den tatsächlichen Leistungen der Politik zufrieden ist, hängt auch von ihren Erwartungen ab.

Hinzu kommt aber, dass zunehmende autoritäre Unterdrückung die öffentliche Debatte über Probleme einschränkt. In Russland erklärten bereits 2016 gut 25 % der Bevölkerung, dass sie Bedenken haben, in einer Umfrage ihre ehrliche Meinung zur Lage im Land zu äußern. Eine große Mehrheit gab an, dass solche Bedenken in der Bevölkerung vor allem mit der Angst vor negativen Folgen zusammenhängen (Externer Link: https://www.levada.ru/2016/01/22/strah-vyskazat-svoe-mnenie/). Wenn also gesellschaftliche Probleme aus Angst vor negativen Folgen nicht mehr öffentlich benannt werden, kann die Politik auch nicht mehr auf sie reagieren.

Grundsätzlicher hat Greg Yudin mit Bezug auf Russland argumentiert, dass Umfragen die demokratische Meinungsbildung nicht ersetzen können. Aus seiner Sicht sind dafür öffentliche Debatten erforderlich und nicht das Abfragen vorgefasster und von staatlichen Medien beeinflusster Standpunkte.

(© dekoder-Special)

(© Lewada-Zentrum)

Weitere Inhalte

leitet die Abteilung Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Er ist Mitglied im SFB 1342 "Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik", der Dekoder bei der Erstellung der Analyse-Tools für die Textdatenbanken unterstützt hat.