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Analyse: Festung Russland: Völlig verloren im wirtschaftlichen Sanktionskrieg, tiefe Wirtschaftskrise unausweichlich | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Festung Russland: Völlig verloren im wirtschaftlichen Sanktionskrieg, tiefe Wirtschaftskrise unausweichlich Russland-Analysen Nr. 418

Gunter Deuber Wien) Gunter Deuber (Raiffeisen Bank International AG

/ 17 Minuten zu lesen

Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat die westliche Welt eine breit angelegte Sanktionsspirale in Gang gesetzt. Es gibt bereits Anzeichen für technische Zahlungsausfälle Russlands.

Die Präsidentin der russischen Zentralbank, Elwira Nabiullina, spricht in einer Sitzung der russischen Staatsduma. (© picture-alliance/dpa, Russian State Duma)

Zusammenfassung

Mit der "Festung Russland"-Strategie hat Russland sich seit Jahren auf fassbare westliche Wirtschafts- und Finanzsanktionen vorbereitet. Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat die westliche Welt aber eine unvorhergesehen breit angelegte Sanktionsspirale in Gang gesetzt. Instrumente der wirtschaftlichen Kriegsführung wurden schnell implementiert. Noch umfassender und von russischer Seite komplett unerwartet waren die "privaten" freiwilligen Sanktionen (Rückzug von Unternehmen, Lieferstopps in nicht sanktionierten Sektoren usw.). Das Gros der Sanktionen wird lange Zeit in Kraft bleiben, die Firmenrückzüge werden eher dauerhaft sein. Russlands wirtschaftliches Krisenmanagement ist bisher eklektisch und defensiv; stärkere Gegenmaßnahmen könnten noch folgen und deuten sich schon an.

BIP-Entwicklung und Ausblick auf Wirtschaftsentwicklung

Russland steht in den Jahren 2022 und 2023 vor der schwersten und selbstverschuldeten Wirtschaftskrise seit der tiefen und mehrjährigen Transitionskrise Anfang der 1990er Jahre. Das komplexe Zusammenspiel von tiefen offiziellen westlichen Wirtschafts- und Finanzmarktsanktionen sowie einem in der modernen Wirtschaftsgeschichte nicht dagewesenen Rückzug von großen und mittelständischen ausländischen Firmen, Investoren und Handelspartnern aus Russland (private Sanktionen) wird in eine sehr tiefe Rezession und voraussichtlich lange anhaltende ökonomische Stagnation führen. Am Finanzmarkt ist Russland durch die äußerst schnell etablierten und sehr weitgehenden westlichen Finanzsanktionen, die auch weit über eine reine öffentliche Sanktionierung durch die USA, das Vereinigte Königreich und die EU hinausgehen, in Teilbereichen schon jetzt nahe an einem finanziellen Kollaps.

Der BIP-Einbruch bzw. der Einbruch an Wirtschaftsleistung im Jahr 2022 sollte deutlich tiefer sein als in vorigen Krisen (etwa während der globalen Finanzkrise 2008 und der Jahre nach der Krim-Annexion 2014 und 2015). Zudem ist im Vergleich zu früheren Krisen auch für 2023 mit einem weiteren BIP-Einbruch zu rechnen und mit einer langen anhaltenden Rezession über viele Quartale. In Summe könnte die Wirtschaftsleistung in den kommenden 12 – 24 Monaten mindestens um 10 – 15 Prozent einbrechen, mit Abwärtsrisiken. Diesmal sind schnelle Erholungs- und Rückprallmuster, wie sie sonst für Emerging Markets kennzeichnend sind, im Falle Russlands undenkbar. Eine konkrete Punktprognose für die Tiefe der kommenden Rezession ist kaum möglich. Ein wahrscheinlich noch starkes erstes Quartal bei Indikatoren wie der Industrieproduktion oder den Einzelhandelsumsätzen bzw. damit in der BIP-Rechnung und Hortungskäufe unmittelbar nach Kriegsbeginn könnten teils vor einem sehr dramatischen rechnerischen Einbruch im Jahr 2022 bewahren. Zudem ist nicht eindeutig abschätzbar, wie drastisch die Importe einbrechen werden, wieviel Export wie lange und wohin noch möglich ist bzw. damit auch wie hoch der (positive) Außenbeitrag rechnerisch zum BIP-Wachstum ausfallen wird. Im Lichte aktueller Entwicklungen könnten die Importe heute um 40 – 50 Prozent einbrechen, der Export nur um 10 – 15 Prozent. Derzeit ist auch noch nicht absehbar wie drastisch der heimische Konsum und das Wirtschafts- plus Investitionsvertrauen in Russland unter den Sanktionen leiden werden und Rücksetzer durch lokale Stützungsprogramme kompensiert werden können.

Die lokalen Zins- und Finanzierungsbedingungen haben sich bereits drastisch verschärft. Exemplarisch ist dabei ein Leitzins von 20 %. Für das Jahr 2022 ist mindestens mit einer Inflation im Jahresschnitt von 20 bis 25 % zu rechnen. Auch im Jahr 2023 wird die Inflation aller Voraussicht nach zweistellig sein und dies wird zu weiter sinkenden Reallöhnen führen. Die Notenbank sieht ein Erreichen ihres Inflationszieles frühestens im Jahr 2024 als realistisch an. Zusätzlich wird Russland angesichts der wirtschaftlichen Isolation auf absehbare Zeit nicht von im Außenhandel resultierenden Wachstumseffekten aus der drastischen Rubel-Währungsabwertung profitieren können. Das ist oftmals ein Kanal über den ansonsten überraschend schnelle Erholungen in Emerging Markets ausgehen und über den Russland im Nachgang der 1998er Wirtschafts- und Finanzkrise, und der daraus resultierenden Rubelabwertung, profitiert hat.

Allerdings ist in Russland kein BIP-Einbruch zu erwarten wie etwa im Falle des Irans während der Revolution in den Jahren 1979/1980 (BIP-Rückgänge von 10 % und 27 %). Im Gegensatz dazu verfügt Russland über mehr eigene Ressourcen, gefestigte Wirtschafsstrukturen in einigen Teilbereichen, die sich schon länger auf Autarkie ausgerichtet haben, sowie eine funktionierende wirtschafts- und finanzpolitische Bürokratie. Außerdem werden gewisse Exportaktivitäten weiterhin möglich sein, vor allem auf dem Landweg. Dennoch wird der bevorstehende Wirtschaftseinbruch dramatisch sein gerechnet auf die Wirtschaftskraft des Landes in Fremdwährung als auch in Bezug auf das allgemeine Wohlstandsniveau. Beim BIP in Fremdwährung wird Russland 2022/2023 auf ein Niveau von knapp über 1,3 Mrd. US-Dollar zurückfallen – wo die Wirtschaftskraft des Landes schon 2007 und 2015 war. Zu Beginn der 2010er Jahre lag das russische BIP in Fremdwährung gerechnet sogar noch bei knapp über 2,0 Mrd. US-Dollar. Es liegt derzeit etwa knapp 2,5-mal höher als zum Ende der 1980er Jahre, während die Weltwirtschaftsleistung in diesem Zeitraum um den Faktor 4,5 zugelegt hat. Das zeigt den relativen wirtschaftlichen Bedeutungsverlust Russlands, der sich nun weiter fortsetzen sollte. In Summe kann man mit Bezug auf BIP-Niveaus von 2007/2008 schon jetzt von wirtschaftlich 15 verlorenen Jahren sprechen. Ebenso dramatisch ist die bewusst in Kauf genommene fehlende Wohlstandsmehrung, die auf sehr langfristige Sicht einen Effekt haben wird. Das Zusammenspiel der Wirtschafts- und Finanzsanktionen sowie der sich abzeichnende Abfluss gut ausgebildeter Kräfte (Brain-Drain) – auch das eine Parallele zur Zeit der Iran-Revolution – wird das schon niedrige Potenzialwachstum der russischen Volkswirtschaft weiter absinken lassen. Konnte man vor dem Ukraine-Krieg das Potenzialwachstum der russischen Volkswirtschaft bei 1,5 % ansetzen, ist diese Kenngröße nun deutlich unter 1 % anzusetzen.

Völlige Unterschätzung der Sanktionsdynamik und des Globalumfeldes

Der anstehende Wirtschaftseinbruch wird aller Voraussicht nach deutlich heftiger ausfallen als wohl von der Staatsführung in ihrer zynischen Vorbereitung für den Ukraine-Krieg mit einkalkuliert. Denn die westlichen und international koordinierten Finanz- und Wirtschaftssanktionen sind viel rascher und weitreichender implementiert worden als aller Voraussicht nach von russischer Seite antizipiert. Von der westlichen Seite sind aber bewusste, klare und rasche Elemente einer – in der Wissenschaft sogenannten – "ökonomischen und finanziellen Kriegsführung" eingesetzt worden, die die russische Seite natürlich auch als solche erkannt und benannt hat. Exemplarisch ist hier die sehr weitgehende Sanktionierung der russischen Notenbank (CBR). Gemäß Indikationen vom Finanzplatz Moskau hatte man damit nicht gerechnet; maximal wurde von einem Ausschluss aus dem Zahlungssystem SWIFT ausgegangen. Die sehr weitreichenden westlichen Finanzsanktionen entfalten eine sehr breite Wirkung auf die Möglichkeiten überhaupt noch großvolumigen Außenhandel, auch in noch nicht sanktionierten Bereichen, finanziell und logistisch abzuwickeln. Sie werden mit besonderer Schärfe durch die USA und das Vereinigte Königreich betrieben, indem u. a. der fast vollständige Ausschluss Russlands von den dortigen Finanzplätzen forciert wird. Bezeichnend ist, dass selbst ohne breit angelegtes westliches Ölembargo derzeit schon etwa 50 – 80 % der russischen Rohölexporte per Schiff nicht mehr abgewickelt werden können; im Luftfrachtgeschäft gibt es derzeit ebenso kaum noch Abwicklungsmöglichkeiten (was etwa den Palladiumexport einschränkt). Außenhandelsfinanzierungen, die Absicherung von Russlandgeschäften und die logistische Abwicklung sind einfach nicht mehr zu normalen wirtschaftlichen Konditionen durchführbar. Solche Unsicherheiten führen dazu, dass traditionelle Abnehmer einfach keine russischen Produkte mehr kaufen wollen, auch beim Öl. Unter anderem deswegen liegt der Preisabschlag der russischen Ölsorte Urals vom Weltmarktpreis derzeit auf nicht gekannten Niveaus von 20 bis 40 US-Dollar. Des Weiteren stehen mit dem durch die USA und die EU betriebenen Ausschluss Russlands aus WTO-Regularien in Zukunft substanzielle Strafzölle auf noch handelbare russische Produkte im Raum.

Neben der staatlichen Sanktionierung in den letzten Wochen erfolgte eine so von russischer Seite wohl nicht erwartete private Sanktionierung, die unter Abwägung von Reputationsrisiken sowie der zu erwartenden schwierigen Wirtschaftssituation heute und in den kommenden Jahren ausgelöst wurde. Schon jetzt haben mehr als 400 internationale Großfirmen ihre Russlandgeschäfte auf Eis gelegt, verkauft oder beliefern den russischen Markt nicht mehr. Dabei geht es nicht "nur" um Energiekonzerne oder Konsum- und Luxusgüterhersteller, die die Einkaufsstraßen in Moskau und Sankt Petersburg füllen, sondern auch um viele internationale Industrie-, Investitionsgüter- und Maschinenhersteller (z. B. für Baumaschinen oder Reifen). Die russische Seite hat offenbar die gegenwärtige mediale Wirkung des Einmarsches in der Ukraine, den zunehmenden Fokus im internationalen Wirtschaftsleben auf soziale Aspekte und Governance-Themen sowie die heutige Cancel Culture als auch die Verbreitung von Managementkonzepten der schnellen Anpassung (auch in Großkonzernen) komplett unterschätzt. Denn die Russlandgeschäfte sind für viele internationale Großkonzerne angesichts der nominal geringen Wirtschaftskraft Russlands nicht von systemischer Bedeutung und somit entbehrlich. Erhebliche private Sanktionen sind nicht nur im Bereich von vielen Großfirmen und Exportverboten, sondern auch beim Mittelstand zu erwarten und bereits erkennbar, während in diesen Bereichen die Finanzsanktionen natürlich ebenso gravierende Wirkung entfalten. Das Fehlen von Lieferungen und technologischen Importen sollte heute und mittelfristig zu enormen Verspannungen im russischen Wirtschaftskreislauf führen, die derzeit noch nicht eins-zu-eins absehbar sind und nicht einfach "zentralplanerisch" substituierbar sein werden. So musste der Fahrzeughersteller AvtoVAZ bereits ankündigen, die Sommerbetriebsferien auf den April vorzuverlegen. Gerade im Technologiebereich wird es schwierig sein, entsprechenden Ersatz am Weltmarkt zu finden. Die sehr tiefgreifenden westlichen Finanzmarktsanktionen machen es für nicht-westliche Großfirmen sehr schwer, aktiv ein substanzielles Russland-Geschäft zu betreiben. Dies zeigt die in den letzten Wochen deutlich gewordene vorsichtige Haltung des chinesischen Energiekonzerns Sinopec in Bezug auf (neue) Russlandinvestitionen. Auch große chinesische (Staats-)Banken haben auf eine sehr restriktive Außenhandelsfinanzierungspraxis im Russlandgeschäft umgestellt. Selbst die gemeinsame Entwicklungsbank (NDB) der BRICS-Staaten hat Anfang März alle neuen Russlandfinanzierungen und -projekte auf Eis gelegt.

Naivität im Bereich der Finanzsanktionen – oder relevante Stellen nicht bis ins Schlimmste eingeweiht?

Noch nie zuvor wurde ein großer, handelsoffener und (zuvor) noch international integrierter Staat mit solchen Finanzsanktionen belegt wie es jetzt Russland in den letzten Wochen erfahren hat. Zum Vergleich: Hart sanktionierte Länder wie Iran, Venezuela oder Nordkorea hatten in Vor-Sanktionierungszeiten finanzielle Verflechtungen in das Ausland von 15 – 20 Mrd. US-Dollar (Iran und Venezuela) und 2 Mrd. US-Dollar (Nordkorea). Bei Russland belaufen sich die Verflechtungen auf mindestens 250 – 500 Mrd. US-Dollar. Angesichts dieser Relationen wird nochmals deutlich, welche ökonomisch-rational gesehen unverantwortliche Risikoeskalation Russland in Kauf genommen hat. Das rasche westliche Agieren in Bereich der Finanzsanktionen war möglich, da es eine akribische und koordinierte Vorbereitung auf westlicher Seite gab und dies im engen Austausch zwischen öffentlichen und privaten Akteuren passierte. Insofern war es möglich angesichts des brutalen Vorgehens Russlands in der Ukraine schnell zu massivsten Finanzsanktionen zu greifen, die eindeutig über zuvor öffentlich diskutierte Optionen (wie der Ausschluss vom SWIFT-Zahlungssystem) hinausgingen.

Zentral war vor allem das mögliche Einfrieren der Devisenreserven bzw. die umfassende Sanktionierung der CBR als Institution. Wobei diese Sanktionsoption auch zeigt, dass Russland offenbar nicht mit der raschen Umsetzung so einer Maßnahme gerechnet hat. Denn aus russischer Sicht erscheint es in der Logik einer ökonomischen Kriegsführung geradezu naiv, einen Großteil der Devisenreserven in französischen und deutschen Wertpapieren bzw. Guthaben bei westlichen nationalen Notenbanken und damit im Eurosystem zu halten, die im Falle solcher Sanktionen automatisch betroffen sind.

Die entschiedene Reaktion der USA, der EU und der G7-Staaten hat auch dazu geführt, dass die Länder starker Finanzplätze wie die Schweiz oder Singapur, die ansonsten seit Jahren keine westlichen Finanzsanktionen eins-zu-eins umsetzen, sich den Finanzsanktionen angeschlossen haben. Die harte Sanktionierung der CBR hat diese Institution auf eine Stufe gestellt mit Notenbanken von Ländern wie dem Iran, Venezuela, Myanmar oder Afghanistan. Die harte Sanktionierung der CBR hat aus dieser in internationalen Fachkreisen vor dem Ukraine-Krieg angesehenen Institution einen Paria-Akteur gemacht. Eine maximal harte und vielleicht auch partiell überraschende Sanktionierung war notwendig, da sich Russland in den letzten Jahren akribisch auf sogenannte "kosmetische" bis moderate Finanzmarktsanktionen vorbereitet hat. Es gibt den treffenden Begriff der "Festung Russland"-Strategie (also die Strategie der jahrelangen exzessiven Anhäufung von Devisenreserven, der internationalen Entschuldungspolitik, der vorsichtigen Fiskalpolitik, alles mit dem defensiven Ziel der Sanktionsabsicherung), die man eben genau ins Zentrum der heftigen westlichen Finanzsanktionspolitik stellen musste. Zugleich wird so auch der finanzielle Spielraum Russlands für die Stützung von "verbündeten" Staaten wie z. B. Venezuela eingeschränkt.

Am lokalen Finanzmarkt und auch in Bezug auf die internationale Investorensicht haben die umfassenden westlichen Finanzsanktionen schon eine vernichtend schnelle Wirkung gehabt. Innerhalb von einer Woche wurden so de facto 20 – 30 Jahre der Aufbauarbeit im Finanzbereich und im Bereich der Kapitalmarktreputation zu Nichte gemacht. Die Länderrisikobewertung Russlands ist innerhalb von Tagen in den Bereich von zahlungsunfähigen und/oder zahlungsunwilligen Ländern wie etwa Sri Lanka gerückt. Auch im Finanzbereich gab es spürbare private Sanktionen mit dem angekündigten Rückzug vieler international wichtiger Finanzmarktakteure aus dem Großkundengeschäft mit Russland (etwa der führenden US-Investmentbanken und der beiden großen deutschen Privatbanken) und globaler Zahlungsanbieter wie z. B. Visa, Master Card, American Express, Apple Pay, PayPal (nur das chinesische Zahlungssystem Union Pay funktioniert noch in Russland). Russische Vermögenswerte werden in den kommenden Tagen und Wochen komplett von relevanten internationalen Benchmark-Indizes und Handelsplattformen ausgeschlossen.

Die umfassenden öffentlichen und privaten westlichen Finanzsanktionen haben eine unerwartet harte Devisenbewirtschaftung für Firmen und Privatpersonen vor Ort notwendig gemacht, während die lokalen Finanzmärkte de facto auch dysfunktional sind. Die Börse in Moskau war für Wochen geschlossen, Wertpapierverkäufe und Auszahlungen an Ausländer waren nicht möglich. Das Einfrieren der Markttransaktionen sollte den Rubelkurs stützen. In den kommenden Tagen und Wochen steht eine vorsichtige Öffnung der lokalen Finanzmärkte an, mit unterschiedlichen Transaktionsregeln für Inländer und Ausländer. Die Existenz sogenannter lokaler Märkte (onshore) und externer Marktsegmente (offshore) etwa für den Devisen- oder Wertpapierhandel wird wohl noch lange Zeit von den Geschehnissen prägend sein.

Trotz administrativer Marktbeschränkungen hat der Rubel zeitweise bis zu 50 % seines Außenwertes eingebüßt. Russische Exporteure müssen zwangsweise 80 % ihrer Deviseneinnahmen umtauschen, um den Rubelkurs ansatzweise zu stabilisieren. Russische Bürger – ohne Devisenkonten – kommen derzeit und bis September nicht mehr an Fremdwährung, während das Abhebelimit für Bürger mit Devisenkonto auf 10.000 US-Dollar beschränkt ist. Kleine Firmen dürfen Fremdwährung bis September auch nur noch in Kleinstmengen von 5.000 US-Dollar abheben. Das sind erhebliche Restriktionen im Lichte der Tatsache, dass private Einleger in Russland über Summen im Bereich von 90 Mrd. US-Dollar verfügen, Unternehmen zusätzlich über mindestens 150 Mrd. Dollar. Damit kommen die Finanzsanktionen – im Gegensatz etwa zu der Sanktionierung in 2014/2015 – in der Breite des Wirtschaftslebens und der Bevölkerung an. An eine schnelle Erholung glauben auch Russlands Behörden nicht mehr. Die Devisenbewirtschaftung soll bis in den Herbst weitergehen, Marktpreise für russische Vermögenswerte in der Bank- und Bilanzbewertung sind bis in dem Herbst auf Vorkriegsniveau eingefroren.

Technische und/oder de facto Staatspleite als Symbol der Zeitenwende

In den kommenden Tagen und Wochen wird aller Voraussicht nach eine (Fach-)Diskussion über eine technische oder de facto Staatspleite Russlands aufkommen. Die Zahlungsfähigkeit von Devisen, angefangen bei russischen (Groß-)Unternehmen bis hin zum Staat ist durch mehrere Faktoren eingeschränkt.

Im Sinne der ökonomischen Kriegsführung hat Russland eine Liste unfreundlicher Staaten definiert, an die Devisen-Auslandszahlungen gemäß einem Präsidentendekret nur noch in Rubel erfolgen. In gewissen Finanzierungs- und Staatsanleiheverträgen hat sich Russland seit 2014 sogar zynischer Weise auf westliche Sanktionen eingestellt. Darin gibt es Vertragsklauseln, die eine anders geartete Rückzahlung als in der Ursprungswährung bzw. Fremdwährung erlauben. Kurz: Russland sicherte sich das Recht zu, ausländische Staatsanleihebesitzer in Rubel auszahlen zu können. Aber in anderen Finanzierungsstrukturen, vor 2014, hat Russland dieses Recht nicht. De facto stellt damit dann eine Rubel-Überweisung wie im Präsidentendekret gefordert, einen Zahlungsausfall dar, da eben eine einseitige Vertragsänderung vorliegt. Interessanterweise wurde dieses Dekret aber in der Praxis erstmal länger nicht angewendet. Russische (Groß-)Firmen wie etwa Gazprom, Rosneft, RZD (staatliche Eisenbahngesellschaft), Norilsk Nickel oder Severstal haben, teils mit Ausnahmegenehmigung des Finanzministeriums, im März noch Zahlungen in Fremdwährung getätigt und damit implizit das Dekret unterwandert. (Allerdings taten sie dies in komplexen Offshore-Zahlungsstrukturen.) Der Staat selbst hat bisher auch noch Dollar-Zinszahlungen geleistet, da das US-Sanktionsregime dies derzeit noch bis zum 22. Mai 2022 ermöglicht. Bis dato will man in Russland, und hier wohl vor allem in der öffentlichen Bürokratie und den Großfirmen selbst, noch einen technischen Zahlungsausfall verhindern. Dennoch gibt es schon jetzt in den ersten vier Wochen der harten Sanktionen Vorfälle, die in Richtung technischer Zahlungsausfälle hindeuten (etwa bei einer Zahlung von Severstal auf eine Auslandsanleihe). Dies ist das Resultat der komplexen Finanzsanktionen des Westens sowie der persönlichen Sanktionierung von Firmeneigentümern (Aktionären), während die Rechts- und Complianceabteilungen in westlichen Finanzinstitutionen derzeit bei jeder Transaktion mit Russland-Bezug lieber übervorsichtig sind. Gemäß jüngsten Indikationen können neue Präzisierungen bei den US-Finanzmarktsanktionen schon zu einem früheren staatlichen technischen Zahlungsausfall führen, als mit dem 22. Mai 2022 im Raum steht.

Sollte es zu schweren Friktionen im Zahlungsbereich, Zahlungsausfällen bei russischen Unternehmen oder einer technischen Staatspleite kommen (etwa wenn US-Ausnahmegenehmigungen im Mai nicht verlängert werden), wird man dies von Seiten Russlands auf die westlichen Sanktionen schieben. Wer die weiter im Raum stehende technische Staatspleite Russlands dann ausgelöst hat, ist aber sekundär. Denn primär zeigen die skizzierten Sachverhalte: Einerseits hat sich Russland über Jahre versucht, auf eine Sanktionierung vorzubereiten. Andererseits blieb somit nur noch eine äußerst harte finanzielle Sanktionierung übrig und das Risiko für so einen Einschnitt und die daraus resultierenden Folgewirkungen hat man in Russland bewusst in Kauf genommen. Derzeit gibt es damit auf westlicher Seite keinerlei Möglichkeit mehr, mit deiner gewissen Planbarkeit und finanziellen Absicherungsmöglichkeiten sinnvoll Russland-Geschäfte zu betreiben und Russland-Geschäfte zu versichern. Im Jahr 2022 sind noch etwa 60 Mrd. US-Dollar an Auslandschulden fällig und es bleibt abzuwarten was davon bedient wird und in welcher Währung. Eine harte Finanzmarktsanktionierung Russlands war aber möglich, da das schwache Abschneiden der russischen Wirtschaft im Zusammenspiel mit einem eher moderaten finanziellen Entwicklungsgrad plus der aktiv betriebenen Entschuldung dazu geführt hat, dass Russland am Finanzmarkt (im Gegensatz zum Energiemarkt) sehr einfach zu sanktionieren war, ohne substanzielle globale Systemrisiken einzugehen. Das Russland-Exposure internationaler Banken und an den internationalen Finanzmärkten bewegt sich etwa auf dem Niveau von 2008 im Falle von Griechenland. Hier war man damals nicht auf einen Schock vorbereitet und Griechenland wurde vor seiner Schuldenkrise nicht als Risikoexposure gesehen. Das ist im Falle Russland anders gelagert, hier war schon seit Jahren angesichts der bereits lange betriebenen Finanzmarktsanktionierung ein gewisses Risikobewusstsein vorhanden.

Der bereits skizzierte dramatische Währungsverfall, die finanzielle Isolation Russlands auf ein Niveau wie Iran, Nordkorea, Myanmar oder Afghanistan im Zusammenspiel mit der drohenden technischen bzw. de facto Staatspleite zeigt, dass die aktuelle russische Führung keinerlei längerfristig orientierten ökonomisch-rationalen Abwägungen mehr trifft. Es wurde sogar mehr oder weniger bewusst in Kauf genommen, das Land in eine wohl schlimmere Wirtschafts- und Finanzkrise zu führen als Ende der 1990er Jahren – ein tiefer Einschnitt im kollektiven russischen Gedächtnis. Damit liegt es leider nahe davon auszugehen, dass weitere und auch die bereits vollzogenen tiefen Wirtschafts- und Finanzsanktionen per se kein Abrücken von (außen-)politischen Zielsetzungen bringen werden. Zumal Russland zur kurzfristigen Kriegsführung finanziell nicht unbedingt auf Fremdwährungseinkünfte angewiesen ist, sondern die Kriegsfinanzierung in Lokalwährung und unter Inkaufnahme von substanziellen Inflationsrisiken weiter finanzieren kann; relevante Basis-Rohstoffe für die Kriegsführung produziert Russland ebenfalls selber.

Dennoch ist es wichtig, durchaus auf weitere Sanktionsschritte zu setzen, um dem Kreml nicht die Möglichkeiten zu geben, die Wirtschaftskrise abzufedern. Angesichts der noch erkauften partiellen Finanzmarktstabilität über den Zwangsumtausch von Deviseneinkünfte müssten wohl letztere weiter beschränkt werden. Des Weiteren ist zu akzeptieren, dass hier ein gesamtes institutionelles System auf einen Kultur- und Zivilisationsbruch vorbereitet wurde und damit das Gros der Sanktionen wohl über Jahre (oder Jahrzehnte) aufrechterhalten werden muss, um die mittel- und langfristige wirtschaftliche und politische Handlungsfähigkeit des Landes auf das Maximale zu begrenzen und solange es keine ernsthaften und umfassenden Systemveränderungen gibt. Aktuell befinden wir uns "erst" im achten Jahr der 2014 gestarteten Sanktionierung Russlands (damals noch eher gemäßigt), während Sanktionsregime durchaus Dekaden lang notwendig sind. Derzeit ist nicht erkennbar, welche politischen Entscheidungen es im Westen und gerade innerhalb der EU auf absehbare Zeit in Bezug auf Sanktionslockerungen geben könnte. Gerade Staaten, die vor dem Ukraine-Krieg in Bezug auf die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland sowie die Russland-Sanktionierung gemäßigter auftraten (wie auch Deutschland etwa im Bereich der SWIFT-Sanktionierung), sollten nicht mehr in der Lage und wohl auch nicht mehr Willens sein, hier auf konziliantere Positionen hinzuarbeiten. Nennenswerte Wirtschaftsbeziehungen des Westens mit Russland erscheinen derzeit für die kommenden Jahre (ohne unwahrscheinliche substanzielle politische Änderungen vor Ort) kaum noch vorstellbar. Der wirtschaftliche Austausch des Westens mit Russland könnte auf ein Niveau zurückgehen, dass noch unter dem der (ökonomisch) rationaler agierenden Sowjetunion lag.

Russische Notfallmaßnahmen – Gegensanktionen werden kommen

Angesichts der zunehmenden Anzeichen des massiven Einflusses der Wirtschafts- und Finanzsanktionen auf das Alltagsleben sind einerseits Hamsterkäufe erkennbar, andererseits setzen Substitutionsprozesse ein. Nachdem noch verfügbare westliche Smartphones rasch ausverkauft waren, sind seitdem chinesische Modelle gefragt. Russland hat im Wirtschaftsbereich schon auf Krisenmodus gestellt. Geplant ist etwa, Zölle auf zentrale Importe (Gemüse, Getreide, kritische Teile in der Produktion sowie Babynahrung und Waren zur Fertigung von pharmazeutischen Produkten) zumindest für 6 Monate auf null zu setzen und damit auch die Zollabfertigung zu erleichtern. Im Exportbereich hat Russland mehrmonatige Exportrestriktionen für Güter wie Weizen, Grieß, Roggen, Gerste, Mais und Zucker erlassen (mit Ausnahmen für Wirtschaftspartner der EAWU), um solche Produkte erstmal im Land zu belassen. Auch werden Corona-Restriktionen im öffentlichen Leben schnell aufgehoben, um die Wirtschaft etwas zu stützen.

Gleichzeitig sollen nach dem defensiven bisherigen Einfrieren der Märkte nun Mittel des Nationalen Wohlstandsfonds genutzt werden, um in großen Stil russische Staatsanleihen und Aktien (zurück) zu kaufen. Die CBR soll sich aktiv an der Marktstützung beteiligen; im Fiskalbereich wird erwartungsgemäß die restriktive und regelgebundene Budgetpolitik für 2022 aufgehoben. Zugleich werden Maßnahmen in die Wege geleitet, um ausländische Firmen bzw. Vermögenswerte (mit mehr als 25 % Ausländeranteil) aus "unfreundlichen Staaten" oder solcher, die sich vom russischen Markt zurückziehen, zu übernehmen. Hier könnten gemäß Statistiken der ausländischen Direktinvestitionen etwa 200 – 300 Mrd. Euro an westlichen Vermögenswerten betroffen sein. Wobei es derzeit nicht danach aussieht, als wollte man von russischer Seite hier möglichst schnell substanzielle Vermögenswerte übernehmen. Allerdings könnten Maßnahmen wie etwa die treuhänderische Bewirtschaftung deutscher Gazprom-Vermögenswerte hier das Kalkül ändern. Technisch-administrative Maßnahmen sind auch nicht auszuschließen. So erfolgte die aufsichtsrechtliche Schließung der europäischen Sberbank-Tochter (in Wien) durch die Europäische Zentralbank (EZB) auch auf Grund zu beobachtender Kunden- und Liquiditätsabflüsse. Solche Prozesse sind im Zusammenspiel mit Social-Media und/oder propagandistischen Kampagnen durchaus auch in Russland denkbar.

In den kommenden Tagen und Woche ist mit Exportrestriktionen und weiteren Maßnahmen von russischer Seite zu rechnen. Erste finanzpolitische Reaktionen im Kontext der ökonomischen Kriegsführung zeichnen sich schon ab. Hier ist der Präsidentenerlass zu nennen, den Gashandel (soweit möglich) von Fremdwährung auf Rubel umzustellen. Es bleibt abzuwarten, wie strikt die tatsächlich praktische Implementierung erfolgt und ob man dabei entschiedener vorgeht als bei der Schuldenrückzahlung in Rubel. Gemäß ersten Indikationen erfolgte die Umstellung ab 1. April ohne harten Schnitt der Nicht-Akzeptanz von Euro- und Dollarzahlungen durch Russland im Gashandel, eher wurde hiermit bis dato innenpolitisch ein vermeintliches Einknicken des Westens bzw. der EU zelebriert. Mit der intendierten Änderung bei der Fakturierung im Gashandel bereitet sich Russland eventuell sogar auf die Zeiten einer technischen Staatspleite in Fremdwährung vor und will den Westen zwingen, eventuell tiefere Beziehungen zum Finanzplatz Moskau zu unterhalten und etwa einer harten Sanktionierung der Gazprombank durch die EU entgegenzuwirken. Ob dieser Schritt nachhaltig zu den von russischer Seite intendierten Wirkungen führt, ist derzeit nicht abzusehen. Er könnte auch zu einer noch schnelleren Abwendung westlicher Staaten und Firmen von Russland führen. Ebenso soll die Notenbank in Zukunft bei noch stattfindenden Zahlungen an das Ausland die Höhe der eingefrorenen Devisenreserven in "unfreundlichen Ländern" berücksichtigen.

Einen umfassenden Plan zur Stützung der heimischen Wirtschaft gibt es aber Stand heute noch nicht, was im Zusammenspiel mit den zuvor skizzierten Rationierungsmaßnahmen ein weiteres Indiz dafür ist, dass die aktuelle Finanz- und Sanktionslage so wohl nicht mit eingeplant war. Eher sind derzeit politische Appelle zu vernehmen, dass private (und kleine) Unternehmen eine entscheidende Rolle in der Stabilisierung einnehmen sollen; Unternehmensformen und Unternehmen, die es seit Jahren im Lichte der staatszentrierten Umfeldbedingungen eher schwer hatten. Auch versucht man durch Ausnahmeregelungen (etwa in Bezug auf den Militärdienst), IT-Fachkräfte im Land zu halten. Immerhin sollen jetzt regulatorische und administrative Hürden schnell beseitigt werden. Zudem sollen nun über in Russland legalisierte Parallelimporte (bzw. offizielle "Grauimporte") Originalwaren ohne Zustimmung der Inhaber des geistigen Eigentums eingeführt werden können. So soll offenbar teilweise der Wegfall offizieller Importe von westlichen Gütern kompensiert werden. Gleichzeitig werden technisch-operationale Schritte gesetzt, um den China-Russland-Handel zu stärken, wie etwa die Verbindung beider nationaler Zahlungssysteme zeigt. Aber substanzielle aktive wirtschaftliche Unterstützung aus China zeichnet sich derzeit nicht ab. Sehr interessant wird zu beobachten sein, inwiefern Russland seinen Ölhandel per Schiff nach China oder in andere, Russland noch nicht sanktionierende Staaten, und teils auch unter Zuhilfenahme von chinesischer Infrastruktur (z. B. Schiffe) aufrechterhalten bzw. umleiten kann.

Stand 06.04.2022

Die beispiellose Situation in der Ukraine und Russland hat die RBI dazu veranlasst, ihre Position in Russland zu überdenken. Die Bank, die seit 26 Jahren in Russland präsent ist und über beträchtliche Erfahrung im Krisenmanagement verfügt, prüft derzeit alle strategischen Optionen für ihre Zukunft in Russland, bis hin zu einem sorgfältig gesteuerten Rückzug aus Russland.

Fussnoten

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Gunter Deuber ist Managing Director und Chefvolkswirt der Raiffeisen Bank International AG in Wien, einer der größten ausländischen Banken und Investoren in Russland, der Ukraine und Zentral- und Osteuropa. Der vorliegende Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors und nicht notwendigerweise die Ansicht der RBI AG wieder.