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Analyse: Grenzen einer "unbegrenzten Freundschaft". Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Neujustierung der russisch-chinesischen Beziehungen | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Grenzen einer "unbegrenzten Freundschaft". Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Neujustierung der russisch-chinesischen Beziehungen Russland-Analysen Nr. 428

Sebastian Hoppe

/ 12 Minuten zu lesen

Was bedeutet der Krieg in der Ukraine für die russisch-chinesischen Beziehungen? Analyse eines Balanceaktes der beiden Staaten zwischen Zusammenarbeit und Abgrenzung seit Februar 2022.

Wladimir Putin erhält die chinesische Freundschafsmedaille von Xi Jinping. (© picture-alliance, Russian Look | Kremlin Pool)

Zusammenfassung

Russlands Invasion der Ukraine hat in den chinesisch-russischen Beziehungen zu Neujustierungen geführt. Für Russland gewinnt die Weltmacht China als diplomatische Absicherung und wirtschaftlicher Partner weiter an Bedeutung. China beansprucht strategische Neutralität, zeigt aber gleichzeitig Verständnis für die "russischen Sicherheitsbedenken" gegenüber NATO und USA. Wirtschaftlich hat sich der Wert Chinas für das umfänglich sanktionierte Russland noch einmal erhöht. Allerdings beschränkt sich Chinas Wirtschaftshilfe bisher auf erhöhte Öl- und Gasimporte aus Russland. Insgesamt verstärkt der Krieg die Asymmetrie zwischen beiden Ländern zuungunsten Russlands. Putins Kriegsentscheidung gefährdet somit den defensiven Charakter der Partnerschaft und schafft neue Risiken für Chinas Wirtschaft und Außenpolitik, die zur Belastung der bilateralen Beziehungen werden könnten.

Eine defensive Partnerschaft auf dem Prüfstand

Russlands Invasion der Ukraine im Februar 2022 hat die chinesisch-russischen Beziehungen auf den Prüfstand gestellt. Bisher handelte es sich um eine Partnerschaft, die beiden Ländern die Möglichkeit bot, die von ihren Staatseliten angestrebte politische, wirtschaftliche und kulturelle Souveränität nach außen und innen abzuschirmen. Wladimir Putin hat nun mit seiner Entscheidung, offensichtlich ohne Absprache mit Peking einen Krieg gegen die Ukraine zu beginnen, den defensiven Charakter der Beziehung infrage gestellt. Der konfrontativere internationale Kontext, in dem sich die Partnerschaft nun bewegt und die Unberechenbarkeit der russischen Politik haben auch für China neue und unvorhergesehene Risiken geschaffen. Nicht nur laufen chinesische Unternehmen Gefahr, Ziel von westlichen Sekundärsanktionen zu werden. In den USA und der EU hat ferner eine Debatte darüber eingesetzt, welche Lehren aus Russlands Angriff für den Umgang mit China zu ziehen sind.

Während sich Russland eine Vertiefung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen mit Peking erhofft, um den Verlust europäischer Märkte auszugleichen, hat die chinesische Führung auf die neue Realität mit einem Balanceakt reagiert. Sie hält einerseits an den wesentlichen Koordinaten der Vorkriegszeit fest: diplomatische Unterstützung für Russlands Zurückweisung der NATO und der USA, Ausbau der Energiebeziehungen sowie selektive militärische Kooperation. Zum anderen verdeutlicht und vertieft der Krieg die bereits vor Februar 2022 bestehenden Divergenzen in den bilateralen Beziehungen. Während Russland daran arbeitet, sich aus internationalen Institutionen und Organisationen, etwa dem Internationalen Strafgerichtshof, der Weltgesundheitsorganisation oder der Welthandelsorganisation, zurückzuziehen bzw. Säulen der internationalen Ordnung wie den UN-Sicherheitsrat zu unterminieren, versucht China eine aktivere Rolle bei der Gestaltung globaler Politik zu spielen. Peking verfolgt dabei das Ziel, die globale Ordnung nach eigenen Vorstellungen aktiv zu gestalten. Nicht zuletzt führen die westlichen Sanktionen, die Unfähigkeit des russischen Wirtschaftsmodells, Wachstum zu erzeugen, und die unterschiedliche Gewichtung ökonomischen Wachstums in Moskau und Peking dazu, dass sich die politische und wirtschaftliche Asymmetrie weiter zuungunsten Russlands verschärft.

Chinas diplomatische Zurückhaltung mit Moskauer Schlagseite

Als Reaktion auf Russlands Krieg hat die chinesische Führung gegenüber der internationalen Öffentlichkeit in ihren eigenen Worten "eine objektive und unparteiische Position" (Externer Link: https://www.fmprc.gov.cn/) eingenommen. China stehe "auf der Seite des Friedens" und verfolge das Ziel, "die legitimen Sicherheitsinteressen aller beteiligten Parteien miteinander in Einklang zu bringen" (Externer Link: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/). Der Ukraine hat China bisher lediglich eine minimale Geste der humanitären Hilfe in Höhe von etwa 800.000 US-Dollar sowie weitere Hilfen über das chinesische Rote Kreuz zukommen lassen. Hingegen erklärte das chinesische Außenministerium unmittelbar nach dem 24. Februar, dass Russland gezwungen sei, Maßnahmen zu ergreifen, um seine Rechte und Interessen zu schützen. Zwar wurde betont, dass die Souveränität und territoriale Integrität aller Länder zu achten sei, allerdings müssten "Russlands legitime Sicherheitsinteressen" (Externer Link: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/) gegenüber der NATO-Osterweiterung berücksichtigt werden. In einer weiteren Stellungnahme bestritt das Außenministerium zudem, dass es sich um eine "russische Invasion" der Ukraine handele.

Chinas Staatspropaganda flankiert dabei die Moskauer Schlagseite der eigenen Diplomatie. Blätter wie PLA Daily oder People’s Daily bezeichnen die USA und die NATO als Provokateure, die den Konflikt weiter eskalieren würden. Zudem verbreiten chinesische Medien in den ersten Kriegswochen anti-amerikanische und anti-westliche Verschwörungstheorien, die jenen in Russland ähneln. So wurde im März und April das zu Beginn des Krieges von Russland lancierte Narrativ verbreitet, die USA würden in der Ukraine Labore zur Herstellung biologischer Kampfstoffe betreiben. Chinas Außenministerium nahm diese "russischen Bedenken" ebenfalls in seine offiziellen Stellungnahmen auf.

Die diplomatische Unterstützung Russlands durch China hat sich im Zuge der ersten Kriegsmonate verfestigt. Xis Aussagen vom Juni 2022 (Externer Link: https://www.politico.eu/article/) zufolge sei China auch unter den neuen Bedingungen "bereit, die stetige und langfristige Entwicklung der bilateralen pragmatischen Zusammenarbeit voranzutreiben" und "Russland in Kerninteressen und Angelegenheiten von höchster Bedeutung, wie Souveränität und Sicherheit, zu unterstützen und eine engere strategische Zusammenarbeit zu erreichen". Xi und Putin führen somit die diplomatische Linie der Vorkriegszeit fort: Beide Länder verabsolutieren gegenüber westlichen Staaten die eigene politische, ökonomische und kulturelle Souveränität und verurteilen insbesondere das Vordringen einer, in der eigenen Wahrnehmung von den USA dominierten, westlichen Hegemonie. Nimmt man das aus dem letzten Vorkriegstreffen zwischen Xi und Putin am 4. Februar hervorgegangene Dokument (Externer Link: http://en.kremlin.ru/supplement/5770), das sich gegen eine Erweiterung der NATO aussprach und verkündete, Moskau und Peking bauten eine "wahrhaft demokratische globale Ordnung" auf, als Maßstab, kann man von einer diplomatischen Kontinuität sprechen, die vom Krieg zunächst unberührt geblieben ist.

Andererseits zeigt sich, dass die im selben Dokument als "grenzenlos" bezeichnete Partnerschaft durchaus Grenzen hat. Bis Kriegsbeginn handelte es sich bei der gemeinsamen diplomatischen Position Russlands und Chinas um eine weitgehend defensive Haltung. Diese erlaubte es der russischen Führung, für ihre Außenpolitik die Unterstützung der zweiten globalen Supermacht zu reklamieren. China hingegen konnte mithilfe der Partnerschaft vermeintlichen westlichen Hegemoniebestrebungen entgegentreten und sich gleichzeitig weiterhin innerhalb der westlichen Ordnung bewegen und entwickeln. Mit der Kriegsentscheidung ist Putin aus diesem defensiven Konsens ausgebrochen.

Dadurch fühlen sich jene Teile der chinesischen Elite bestätigt, die Russlands internationales Vorgehen für destruktiv halten. Dem ehemaligen chinesischen Botschafter in der Ukraine Gao Yusheng zufolge wird der strategische Partner Russland den Krieg gegen die Ukraine verlieren und geschwächt aus dem Konflikt hervorgehen. Zudem seien westliche Staaten, die Chinas "pro-russische Neutralität" (Josep Borrell) verurteilen, und ihre Verbündeten in Asien, insbesondere Südkorea und Japan, jetzt geeinter als vor dem Krieg. Die NATO etwa stufte in ihrem im Juni 2022 verabschiedeten Strategiekonzept (Externer Link: https://www.nato.int/nato_static_fl2014/) China das erste Mal in ihrer Geschichte als Gefahr für die internationale Sicherheit ein. Aber auch jenseits des Westens wird Chinas Position kritisch beäugt: So wird die Frage der Verurteilung des russländischen Krieges von einigen Nachbarn Chinas und zahlreichen Entwicklungsländern, mit denen China enge Verbindungen pflegt, anders beantwortet als in Peking.

Obwohl es kritische Stimmen nur selten in die chinesische Öffentlichkeit schaffen, ist sich die chinesische Führung der diplomatischen Reputationsprobleme durchaus bewusst. Mittlerweile versucht Xi – im Gegensatz zu Putin – durch gezielte diplomatische Offerten gegenüber westlichen Staaten den durch den Krieg und Chinas stille Duldung des russischen Vorgehens verursachten Flurschaden einzugrenzen. Bereits im Februar hatte eine Vertreterin des chinesischen Außenministeriums davon gesprochen, dass Russland "seine Entscheidungen unabhängig treffe", sich "auf das eigene Urteil, die eigenen nationalen Interessen, die eigene Diplomatie und Strategie" verlasse und dass "die Beziehungen zwischen China und Russland nicht auf Konfrontation beruhen oder darauf, Dritte anzugreifen". Xis überraschend konstruktives Treffen mit Joe Biden im Rahmen des G20-Treffens im November sowie die gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz vorgetragene Verurteilung nuklearer Drohungen lassen sich ebenfalls als diplomatische Signale gegenüber westlichen Staaten verstehen, dass sich China nach wie vor der internationalen Konfliktlösung verpflichtet fühlt.

Keine wirtschaftliche Unterstützung russischer Kriegsanstrengungen

In den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen ist China weitaus weniger als auf diplomatischem Parkett gewillt, Russlands Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Aus Angst vor westlichen Sekundärsanktionen haben zahlreiche chinesische Großunternehmen ihre Tätigkeiten in Russland vorerst pausiert. Ferner entzogen zwei der wichtigsten chinesischen Entwicklungsbanken ihre Unterstützung für russländische Großprojekte. Sowohl die Führung in Peking als auch chinesische Unternehmen sind vorerst nicht willens, das westliche Sanktionsregime zugunsten der im Vergleich zum Europa- und USA-Geschäft unbedeutenderen und maßgeblich auf Rohstoffe beschränkten Handelsbeziehungen zu Russland zu unterlaufen.

Dabei betreffen die chinesischen Rückzüge durchaus sensible Sektoren der russischen Wirtschaft. Huawei, der größte Smartphone-Produzent der Welt, hat sein Geschäft in Russland im Lichte nicht absehbarer Risiken zunächst teilweise eingestellt und plant mittlerweile einen Komplettrückzug. Technologie von Huawei ist in einem Drittel aller Mobilfunkbasisstationen in Russland verbaut und damit ein zentraler Bestandteil der Netzabdeckung in den Regionen. Der Rückzug des Unternehmens wird negative Auswirkungen auf den Ausbau des 5G-Netzes in Russland haben, für das Huawei-Technologie eine wichtige Rolle spielen sollte, auch wenn Huawei-Produkte nach wie vor über Parallelimporte nach Russland gelangen dürften.

Auch energiepolitisch haben chinesische Unternehmen ihr Engagement in Russland reduziert. Mehrere chinesische Firmen, die an der Konstruktion von Modulen für Russlands prestigeträchtiges Arctic LNG 2-Projekt beteiligt sind, haben ihre Mitarbeit eingefroren. Das maßgeblich für das Projekt verantwortliche russische Unternehmen Novatek sieht damit bereits die Fertigstellung der notwendigen Baumaßnahmen in Gefahr. Chinesische Unternehmen vermeiden es zudem, als indirekter Zulieferer für das russische Militär identifiziert zu werden. Das führte unter anderem zur Entscheidung des chinesischen Unternehmens DJI, das zuvor 90 Prozent des Bedarfs an zivilen Drohnen auf dem russischen Markt gedeckt hatte, keine Drohnen mehr in Russland zu verkaufen. Generell gibt es keine öffentlich zugänglichen Hinweise darauf, dass China Russland nach dem 24. Februar mit Militärgütern für die Kriegsführung in der Ukraine beliefert hat.

Die gleiche Zurückhaltung zeigen chinesische Banken. Politisch am brisantesten dürfte der Rückzug der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) und der New Development Bank (NDB) sein. Die in Peking registrierte AIIB, an der China mit 26,5 Prozent Mehrheitsanteilseigner ist, hatte bereits Anfang März bekannt gegeben, das Russland- und Belarus-Geschäft einzustellen. Sie wolle ihre "finanzielle Integrität" wahren und zunächst die Auswirkungen des Krieges auf ihre Tätigkeiten und die Wirtschaften ihrer Mitglieder neu bewerten. Die NIB, die noch stärker als die AIIB in Russland involviert ist, hat neue Geschäfte mit Russland ebenfalls vorerst auf Eis gelegt. Sogar die auf chinesischer Seite maßgeblich für das Russlandgeschäft zuständigen Banken Industrial and Commercial Bank of China (ICBC) und Bank of China hatten bereits mit Kriegsbeginn bekannt gegeben, die Finanzierung von Rohstoffgeschäften mit Russland temporär einzugrenzen.

Nur in wenigen Bereichen profitiert China vom Bruch der westlich-russischen Wirtschaftsbeziehungen – entsprechende Möglichkeiten werden dann auch strategisch mit Bedacht auf die eigenen und weniger Moskaus Interessen genutzt. So laufen seit Mai Verhandlungen über die Auffüllung der strategischen Ölreserven Chinas mit verbilligtem russischem Öl. Auch gibt es Indizien, dass China bereits jetzt den Import zumindest einiger Güter gesteigert hat, die für die russische Infrastrukturentwicklung wichtig sind und vorher etwa aus Japan kamen. Perspektivisch werden Russland und China Wege finden, die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen auch unter einem westlichen Sanktionsregime weiterzuführen und auszubauen. Voraussetzung hierfür wird sein, dass Russland bereit ist, mehr Yuan zur Abwicklung des bilateralen Handels zu akzeptieren, der vorher vor allem in Dollar oder Euro abgewickelt wurde. Um Handelsgeschäfte mit Ländern zu ermöglichen, die Russland nicht sanktioniert haben, hat Russlands Sberbank mittlerweile mit der Vergabe von Krediten in Yuan begonnen.

China unterhielt bis Kriegsbeginn auch mit der Ukraine Wirtschaftsbeziehungen. So hatte sich das ukrainisch-chinesische Handelsvolumen zwischen 2014 und 2022 positiv entwickelt. Obwohl die Ukraine weniger als 0,5 Prozent der chinesischen Handelsbilanz (Russland hingegen 2,75 Prozent bei einem Wachstum der Handelsbilanz im selben Zeitraum von 50 Prozent) ausmacht, hatte sich China in den vergangenen Jahren bewusst den Zugang zu einigen strategisch wichtigen Gütern aus der Ukraine gesichert, insbesondere zu Weizen und anderen Agrarprodukten sowie Eisenerz und militärischer Ausrüstung, etwa Gasturbinen für Zerstörer, Landungsboote, Marine-Radarsysteme, moderne Düsentriebwerke, Dieselmotoren für Panzer und Transportflugzeuge. Ferner war China bis Kriegsbeginn durch Investitionen sowie die Beteiligung an Industrie- und Infrastrukturprojekten in die ukrainische Wirtschaft eingebunden. Nicht zuletzt sollte die Ukraine Teil der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) werden.

Chinas diplomatische Unterstützung für Russland führt jedoch mittlerweile dazu, dass sich wichtige mittelosteuropäischer Länder, insbesondere Polen, von der BRI distanzieren. Nicht nur gefährdet der strategische Partner Russland derzeit einen wichtigen Teil der osteuropäischen und zentralasiatischen BRI-Infrastruktur, indem der Krieg Unsicherheit bei Chinas Partnern auslöst. Auch sind durch den Krieg wichtige Liefer- und Logistikketten unterbrochen, in die auch die chinesische Wirtschaft eingebunden ist. Aufgrund des Krieges erwartet die Logistikbranche, dass der Warentransport auf der Schiene zwischen China und Europa 2022 um 35 Prozent einbrechen wird. Zwar verlaufen 90 Prozent dieses Handels über Russland und Belarus und umgehen die Ukraine. Aufgrund westlicher Sanktionen haben sich große Spediteure wie Maersk oder DHL jedoch aus Russland zurückgezogen.

Ihrerseits war die Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten ein wichtiger Bestandteil der Modernisierung des chinesischen Militärs. Diesbezüglich konfrontiert Russlands Krieg und die westlichen Sanktionen China mit einem Dilemma. So läge es neben dem weiteren Ausbau der eigenen militärisch-industriellen Kapazitäten nahe, den Wegfall des historischen Rüstungspartners Ukraine durch eine noch engere Kooperation mit dem strategischen Partner Moskau zu kompensieren. Einerseits ist jedoch fraglich, ob Russland die nachgefragten Güter überhaupt liefern könnte. Andererseits liefe China in diesem Fall Gefahr, selbst Ziel westlicher Sanktionen zu werden.

Militärische Lehren?

Russlands Invasion der Ukraine hat die Frage aufgeworfen, inwiefern China aus dem Krieg militärische Lehren für den eigenen Umgang mit Taiwan zieht. Schließlich spiegelt sich die Ablehnung der NATO durch Russlands Staatselite in der chinesischen Kritik der US-amerikanischen Pläne, auch im asiatisch-pazifischen Raum eine vorherrschende Rolle spielen zu wollen. Sowohl Moskau als auch Peking fordern ein Ende der von ihnen wahrgenommenen globalen politischen Hegemonie der USA. Die derzeitige Strategie der USA, gegenüber Russland und China ein dual containment zu verfolgen, stellt einen wichtigen Bezugspunkt der gegenwärtigen chinesisch-russländischen Beziehungen dar.

Zudem hatten die Äußerungen des taiwanesischen Außenministers Joseph Wu wenige Tage nach Kriegsbeginn Aufmerksamkeit erregt. Wu kommentierte Taiwans finanzielle Unterstützung ukrainischer Kriegsflüchtlinge sowie die Lieferung medizinischer Hilfsgüter mit den Worten: "Sie [die Ukrainer:innen, SH] haben das taiwanesische Volk inspiriert, indem Sie sich den Drohungen und dem Zwang einer autoritären Macht widersetzt haben. […] Viele Taiwanes:innen werden sagen, was ich jetzt auch sage: Ich bin Ukrainer!". Zudem wird die Ankündigung Bidens im Mai, die militärische Unterstützung Taiwans im Falle eines chinesischen Angriffs würde weitergehen als das, was die USA derzeit für die Ukraine tue, zweifellos die militärische Aufladung des Anti-Amerikanismus in Peking anheizen.

Bisher deutet allerdings wenig darauf hin, dass sich China bei seiner Taiwan-Strategie vom militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine inspirieren lässt. Zum einen verweisen chinesische Diplomat:innen darauf, dass es sich um grundlegend verschiedene Konflikte handele, sei doch Taiwan ein Teil Chinas. Zum anderen kann nicht davon gesprochen werden, dass Russlands Angriffskrieg für Xi einen unmittelbaren Handlungsdrang oder ein Gelegenheitsfenster in der Taiwan-Frage geschaffen hätte. Tatsächlich ist Pekings Einstellung gegenüber Taiwan in weitaus höherem Maße von den militärischen Aktionen der USA im Pazifik als von Russlands Kriegshandlungen in der Ukraine abhängig. Nicht auszuschließen ist gar, dass die militärische Konsolidierung westlicher Staaten die chinesische Kostenkalkulation zuungunsten einer militärischen Rückeroberung Taiwans verschoben hat.

Alte Konvergenz in verstärkter Divergenz

Russlands Krieg hat die Kosten-Nutzen-Kalkulation verändert, die beide Staaten an die bilateralen Beziehungen anlegen. Im Angesicht des Wegbrechens europäischer Exportmärkte und eines umfassenden und auf Dauer ausgerichteten westlichen Sanktionsregimes hat sich der strategische Wert Chinas für Russland immens erhöht. China bietet dem Kreml die Möglichkeit, zumindest einen Teil des finanziellen Verlustes bei Rohstoffexporten durch erhöhte Lieferungen gen Osten wettzumachen. Gleichzeitig erlauben es weder die innerrussische Infrastruktur noch die chinesische Nachfrage, den europäischen komplett durch asiatische Märkte zu ersetzen. Für China hingegen gestaltet sich die Lage anders: Zwar profitiert das Land vom geopolitischen Rabatt, den Russland bei seinen Öl- und Gasexporten gen China gewähren muss. Allerdings hat der Krieg zwei große neue Risiken geschaffen. Wirtschaftlich destabilisiert er das internationale Umfeld, in dem sich China bewegt. Das gefährdet die von Xi verkündeten Reformen der chinesischen Wirtschaft. Diese zielen auf die Beseitigung struktureller Probleme ab, wie etwa einer Überschuldung der Lokalregierungen, einem aufgeblähten Immobiliensektor und gravierender Ungleichheit. Dafür sind Wirtschaftswachstum, relativ offene Weltmärkte und ein stabiles internationales Umfeld unabdingbar. Außenpolitisch sieht sich Peking hingegen mit sich militärisch konsolidierenden westlichen Staaten konfrontiert, die ihre jeweiligen China-Strategien nun vor dem Kontext des russischen Krieges überarbeiten, der mindestens von China diplomatisch geduldet wird.

Die entscheidende Klammer der russisch-chinesischen Partnerschaft ist vom Krieg hingegen unberührt geblieben: die Ablehnung wahrgenommener US-amerikanischer bzw. westlicher Hegemoniebestrebungen, sei es im postsowjetischen oder asiatisch-pazifischen Raum. Gleichzeitig stehen hinter dieser gemeinsamen Haltung fundamental verschiedene Entwicklungspfade. Während Putins radikalisierte Politik Russland in eine tiefe Rezession und Primitivisierung der politischen Ökonomie führt, stellen sozioökonomische Entwicklungsziele und die Bekämpfung der Ungleichheit nach wie vor wichtige Quellen der Legitimität für die chinesische Führung dar. Was beide Autokratien verbindet, ist eine fortschreitende Zentralisierung und Personalisierung politischer Prozesse, welche die Entscheidungsfindungen beider Staaten volatiler, unberechenbarer und für westliche Beobachter:innen unvorhersehbarer macht.

Westliche Politik sollte die mit dem Krieg offensichtlicher werdenden und sich intensivierenden Divergenzen zwischen Russland und China stärker berücksichtigen. Russlands Militarismus muss zurückgewiesen werden, während der chinesischen Führung deutlich gemacht werden sollte, dass sie ihre entwicklungspolitischen Ziele nur erreichen kann, wenn sie sich zu friedlichen und kooperativen Konfliktlösungen in der internationalen Politik bekennt. Aufgrund der russischen und chinesischen Fixierung auf die Politik der USA liegt ein wesentlicher Schlüssel hierfür nicht nur in europäischen Hauptstädten, sondern vor allem in Washington.

Der Text ist eine veränderte und gekürzte Version des Artikels "Chinas Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine. Strategische Zurückhaltung mit Moskauer Schlagseite" in der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (Nr. 4, 2022).

Weitere Inhalte

Sebastian Hoppe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin und Gastwissenschaftler an der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.