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Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Russland-Analysen Nr. 432

Niklas Masuhr

/ 12 Minuten zu lesen

Russland hat sich wiederholt auf einen artilleriezentrischen Stellungskrieg fokussiert, während die ukrainische Führung bemüht ist, eine flexible Operationsführung und variable Kommunikationskanäle zu nutzen.

Ein ukrainischer Soldat lässt eine Drohne an der Front nahe der Stadt Awdiiwka steigen (17.02.2023) (© picture-alliance/AP, LIBKOS)

Zusammenfassung

Der Beitrag betrachtet den sich wandelnden Kriegsverlauf in der Ukraine seit Februar 2022 in seinen bisherigen Phasen und setzt dabei die jeweiligen militärischen Ergebnisse und Muster in ihren jeweiligen Kontext. Somit ist es möglich, breitere Trends von kontextabhängigen zu trennen. Beide Seiten präferieren unterschiedliche Formen der Kriegsführung. Russland hat sich wiederholt auf einen artilleriezentrischen Stellungskrieg fokussiert, während die ukrainische Führung bemüht ist, qualitative Vorteile taktisch auszuspielen. Bisher konnten so russische Unzulänglichkeiten effektiv ausgenutzt werden. Hierbei essenziell ist die digitale Kommunikations- und Befehlsinfrastruktur der ukrainischen Armee, die jedoch von externer Unterstützung abhängig ist. Der Beitrag schließt mit einer Betrachtung der Bewertungsparameter (und -problematiken) zukünftiger Operationen. Hier geht es insbesondere um die Wechselwirkung zwischen Zeit, Raum und Ressourcen.

Einleitung

Die russische Invasion der Ukraine geht Ende Februar 2023 in ihr zweites Jahr. In ihrem Verlauf sind mehrere unterschiedliche Phasen erkennbar, definiert durch strategische Prioritäten, operative und taktische Ausführungen sowie den jeweiligen militärischen Eigenschaften der Kriegsparteien. Diese Phasen sind jedoch nicht klar voneinander zu trennen. Parallel ziehen sich gewisse Trends und Muster durch den gesamten Kriegsverlauf.

Die Streitkräfte, die sich zu Beginn der Invasion gegenüberstanden, sind aufgrund von Verlusten und Mobilisierungs- und Nachschubwellen kaum wiederzuerkennen. Das erste Jahr lässt sich in mehrere, recht distinkte Phasen einteilen, gekennzeichnet durch russische verschobene Prioritäten und das Erringen der Initiative durch die Ukraine. Solche den militärischen Realitäten und beidseitigen Anpassungen entsprechende Phasen sind nichts Ungewöhnliches. Dennoch ist auffällig, wie diese Phasen zumindest politisch und medial isoliert betrachtet und besprochen wurden und werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Diskussion um Waffensysteme und Munition, die der Ukraine geliefert werden sollen. Das Denken in einer solch abgeschlossenen Phasenlogik ist grundsätzlich nicht falsch, birgt aber analytische Risiken:

  • Erstens sind bestimmte Daten schlicht nicht vorhanden: Wie gut beispielsweise neu ausgebildete und ausgerüstete Truppen auf beiden Seiten insbesondere offensiv funktionieren, ist unbekannt.

  • Zweitens ist fraglich (und in vielen Punkten diskussionswürdig), welche Lektionen an die jeweilige Phase gebunden und welche "global" gültig sind. Zu nennen wäre an dieser Stelle die Frage, inwieweit bisherige russische operative Unzulänglichkeiten das Resultat naiver Planung sind oder strukturellen Defiziten der Streitkräfte zugeordnet werden können.

  • Drittens bedeutet gerade die Konsolidierung der russischen Kräfte seit Oktober 2022, dass die "Phasenlogik" zwar weiterhin durch An- und Abschwellen der Intensität reflektiert werden wird, aber nicht mehr durch die eindimensionale Wahl militärischer Instrumente. Mit anderen Worten:
    Infanteriewaffen, Artilleriemunition und Kampfpanzer werden auf ukrainischer Seite in Zukunft gleichzeitig und nachhaltig benötigt; es wird kaum reichen, Unterstützungspakete im Westen zu schnüren, die jeweils auf das aktuelle russische Kampfinstrument der Wahl reagieren, seien es Panzer, Artillerie oder Schläge gegen die Infrastruktur.

Betrachtung der Phasen

Moskau verlagerte seine Ambitionen in der Folge nach Osten, wodurch die zweite Phase eingeläutet wurde. Vor der Invasion war eine der gängigen Annahmen, dass russische Truppen versuchen würden, den professionellen Kern der ukrainischen Armee, der an der Kontaktlinie zu den "Separatistengebieten" konzentriert war, östlich des Dnipro abzuschneiden. Dies schien auch zunächst das Ziel der russischen Ostoffensive im Frühjahr 2022 zu sein, aber auch dabei musste Moskau das Ambitionsniveau senken. Am Ende mussten sich die Russen auf einen wesentlichen Punkt konzentrieren, um gestützt auf den Verbrauch von bis zu 50.000 Artilleriegranaten pro Tag bei der Stadt Popasna durchzubrechen und die Ukraine zum Rückzug zu zwingen. In der Folge wurde in diesem Operationsgebiet der Fokus auf einen Durchbruch bei Bachmut, östlich von Slowjansk und Kramatorsk, gelegt. Im Januar 2023 verstärkten russische Truppen ihre Durchbruchsbemühungen dort, nachdem zuvor monatelang Häftlinge der Wagner-Gruppe mit großen Verlusten gegen die ukrainische Seite angerannt waren.

Für den Durchbruch bei Popasna richteten sich russische Truppen voll auf die Effizienz ihrer Artillerie aus. Die Ukraine nutzte den Moment der größten russischen Erschöpfung nach der Einnahme von Sjewerodonezk aus, um mithilfe der US-gelieferten HIMARS-Raketenwerfer die russische Munitionsarchitektur anzugreifen, die zur "Fütterung" der frontnahen Artillerie errichtet wurde. Auch hierdurch gelang es Kyjiw, nach dem Verlust von Sjewerodonezk, in einer dritten Phase in die Offensive überzugehen. Die russischen Truppen hatten sich überdehnt, sie hatten ihre Absicherung der Effizienz ihrer Artillerie für den Einsatz auf einem engen Frontabschnitt unterworfen und sahen sich wechselnden Führungsstrukturen ausgesetzt. In diese Schwächephase fielen ukrainische Gegenoffensiven gegen den russischen Brückenkopf auf der Westseite des Dnipro und östlich von Charkiw. Insbesondere während der Gegenoffensive in Richtung Kupjansk zahlte sich die graduelle Schwächung der russischen Truppen aus und die ukrainischen Truppen waren in der Lage, signifikante Gebiete zu befreien.

Anfang Oktober 2022 wurde General Sergej W. Surowikin zum Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine ernannt. Damit wurde auf russischer Seite eine der zuvor durchschlagenden Fehlerquellen in der Kriegsführung behoben. Durch die Vereinheitlichung der Führungsebene wurden russische Truppen erstmals kohärent geführt. Der doppelte Schritt, zum einen die Aufgabe des Westufers bei Cherson, zum anderen die Mobilmachung von 300.000 Mann für die Truppen, stabilisierte die Frontlinie und erlaubte die Rotation und Reorganisation erschöpfter russischer Einheiten. Zudem wurde in dieser vierten Phase der systematische Beschuss der kritischen zivilen Infrastruktur der Ukraine begonnen.

Zentrale vs. dezentrale Operationsführung

Während der ersten russischen Vorstöße in die Ukraine 2014 und 2015 musste sich Kyjiw angesichts des desolaten Zustands der ukrainischen Streitkräfte zum Teil noch auf Freiwilligenbataillone verlassen. In der 2016 begonnenen Streitkräftereform sollten NATO-Verfahren und -Standards eingeführt werden. Für den Erfolg dieser Umstellung entscheidend waren neben ukrainischer Kampferfahrung auch die US-amerikanischen, britischen und kanadischen Ausbildungsmissionen. Aufgrund dieser strukturellen Umstände waren ukrainische Truppen befähigt, auf unteren taktischen Ebenen Entscheidungen zu treffen und sich flexibel an Situationen anzupassen, mit denen sie konfrontiert wurden. Auch teilweise ohne formale Ausbildung waren ukrainische Kräfte somit in der Lage, die "Auftragstaktik", wie in der NATO praktiziert, anzuwenden.

Zu Beginn der Invasion konnten ukrainische Einheiten russischen Truppen lokal hohe Verluste zufügen, auch aufgrund der Verfügbarkeit erfahrener Kader in der regulären Armee, von Reserven und territorialer Kräfte. Hierbei konnten sie fluide und über organisatorische Grenzen hinaus kooperieren. Beispielsweise gelang es einer Mischung ukrainischer Spezialkräfte, regulärer und territorialer Truppen sowie lokalen Freiwilligen im März 2022, eine Bataillonskampfgruppe der russischen Marineinfanterie bei Wosnesensk, nördlich von Mykolajiw, zu zerstören. An anderen Orten bedeutete diese Dezentralisierung, dass russische Nachschubkonvois dauerhaft unter Beschuss gerieten und das wiederum stellte die russischen Truppen vor signifikante Probleme. Denn es ist ein effektiver Ansatz, dezentrale territoriale Selbstverteidigungskräfte und reguläre Infanterie in einem fluiden Invasionskontext sich zu einem gewissen Grad selbst zu überlassen, insbesondere wenn ihn russische strukturelle Defizite und Unzulänglichkeiten begünstigen.

Jedoch sind auf ukrainischer Seite graduell auch Zentralisierungstendenzen sichtbar – und das aus gutem Grund. In dem Moment, in dem der Mechanisierungsgrad steigt, steigt auch der Bedarf für eine zentral Organisation. Zum Beispiel ist es möglich, Flugabwehrsysteme wie Stinger, die von nur einer Person abgefeuert werden können, auf niedriger Ebene zu verteilen. Spricht man aber von Luftabwehrsystemen mittlerer Reichweite (wie sowjetische Buk oder Patriot der NATO) ist eine zentrale Steuerung vonnöten. Es stellen sich somit auf unterschiedlichen Ebenen Fragen zur:

  • Bedrohungslage – Wo werden Sensoren und Batterien benötigt?

  • Politisch-strategische Entscheidung – Welche Ziele sollen geschützt werden, militärische oder zivile?

  • Logistik – Wie können die Wartung und Reparatur sichergestellt werden?

Dies bedeutet jedoch nicht, dass ukrainische Kräfte nur "nach NATO-Lehrbuch" neue Technologien und Ausrüstung integrieren könnten. In der Tat sind sie bisher sehr geschickt darin, westliche Waffensysteme, die mit abweichenden Einsatzparametern erdacht und entwickelt wurden als (post-)sowjetische Systeme, gewinnbringend einzufügen. Auch ohne "Goldrandlösungen" wurden positive Ergebnisse erzielt. Einige Beispiele: Auch ohne über ballistische taktische US-Kurzstreckenraketen vom Typ ATACMS zu verfügen, die Kyjiw sich von den USA wünscht, um auch russische Stellungen und Depots auf weitere Entfernung bekämpfen zu können, wurden Schläge in die Tiefe durchgeführt. So führten ukrainische Hubschrauber einen Luftangriff auf eine russische Raffinerie bei Belgorod durch. Bei einem anderen Angriff, bei dem das genaue Vorgehen bisher ungeklärt ist, wurde die Saki-Luftwaffenbasis auf der Krim getroffen; wahrscheinlich durch eingesickerte Spezialkräfte, die aus der Umgebung der Basis Lenkwaffen starteten. Hilfreich war dabei, dass die ukrainische Führung zu Beginn des Krieges mutmaßlich die Zerstörung russischer Logistikeinheiten als zentrale Priorität ausgab, unabhängig vom Modus. Somit war und ist unerheblich, ob ein russischer Konvoi im Hinterhalt durch Infanterie zerstört wird oder eine Lenkwaffe ein Depot trifft. Die Abnutzung der russischen Logistik bedeutet die Schwächung des Gesamtsystems der Invasionstruppen. Ebenso geschickt war die ukrainische Strategie beim Timing des Einsatzes gewisser neu erworbener Waffensysteme. Die Angriffe auf russische Munitionsdepots im Sommer 2022 zeigt dies insbesondere auf. HIMARS wurden beispielsweise dann erstmals eingesetzt, als die russische Artilleriearchitektur voll ausgebaut war und die russischen Truppen sich erschöpft hatten, also maximal verwundbar waren. In der Folge wurden US-amerikanische Antiradarraketen in ukrainischen Jagdbombern sowjetischer Bauart integriert, als Russland begann diese Depots mit Luftabwehr zu schützen.

Improvisierte Lösungen sind allerdings nicht in jedem Fall gleichermaßen wertvoll. Mit Blick auf die Nutzung kommerzieller Drohnen hat sich in den ukrainischen Streitkräften eine Improvisationskultur entwickelt, bei der zivile Drohnen sehr effektiv modifiziert und eingesetzt werden. Aber auch hier gilt eine ähnliche Logik: Lokal agierende Infanterie kann sehr davon profitieren, wenn zivile und militärische Kompetenzen zusammengeführt werden, um ein höheres Ausrüstungsniveau zu erreichen. Aber die Instandhaltung einer schweren Brigade bestehend aus mehreren Typen von Kampf- und Schützenpanzern sowie spezialisierter Ausrüstung erfordert ein höheres Maß an Zentralisierung und Planung. Dies erfordert nicht notwendigerweise den logistischen Unterbau einer NATO-Brigade, aber durchaus einen höheren Grad der Zentralisierung. Ebenso ist die Zerstörung russischer Transporter schwerer zu bewerkstelligen, wenn russische Truppen aus kompakteren Defensivlinien und Aufmarschräumen operieren und die Nachschubwege somit weniger verwundbar gegenüber eingesickerten ukrainischen Truppen sind.

Breite und tiefe Kommunikationskanäle

Die Datenfusion der Ukraine nutzt die Vorteile des Verteidigers voll aus. Auf der strategischen und organisatorischen Ebene werden die technologischen Kompetenzen des Technologie- und Softwarestandorts Ukraine quasi militarisiert. Entsprechend können die Streitkräfte auf einen breiten und tiefen Pool gut ausgebildeten zivilen und militärischen Personals zurückgreifen. Zweitens bedeutet die Tatsache, dass die Ukraine sich gegen einen Invasoren verteidigt und die Bevölkerung die Verteidigung des Landes geschlossen unterstützt, dass Informationen aus der lokalen Bevölkerung über russische Truppen(-bewegungen) an die zuständigen militärischen Autoritäten weitergegeben werden – dank "Delta" in Echtzeit. Somit wird ein hoher Grad situativer Wahrnehmung erreicht, der nicht auf Kommandostände beschränkt ist, sondern dank der Digitalisierung direkt und automatisiert über Laptops an Truppen vor Ort kommuniziert wird.

Die ukrainischen Streitkräfte haben somit effektiv ein hohes Niveau an "netzwerkzentrischer Kriegsführung" erreicht, eines der Lieblingsschlagworte und -zielvorstellungen des Pentagon. Egal, ob im großen US-NATO-Stil oder im improvisierten ukrainischen Kontext, es geht darum, der eigenen Führung auf einer idealen Ebene "Informationsdominanz" zukommen zu lassen. Eine häufig gebrauchte Metapher im NATO-Kontext ist das Bild eines "Ubers für Luftschläge". Der Fortschritt in den NATO-Staaten bei diesen Konzepten ist ungleich, notorisch teuer und ineffizient; gerade deshalb ist die ukrainische netzwerkzentrische Kriegsführung so beachtlich. Hier ist einer der offensichtlichsten Gegensätze zum russischen Militär. Nach dem Georgienkrieg 2008 schickte man sich in Moskau an, vom sowjetischen Modell weg und hin zu einem NATO-ähnlicheren Konzept der Kriegsführung zu kommen, bei dem Informationen effizienter fließen und deren Struktur weniger "kopflastig" sein sollte. Bei den kompakteren Interventionen in Syrien und dem ersten Einmarsch in die Ukraine 2014 und 2015 konnten diese Reformen in militärische Erfolge umgemünzt werden. Das russische Militär wendete dabei in der Tat modernisierte Konzepte an. Diese Methoden konnten vor der deutlich ambitionierteren Invasion 2022 jedoch nicht vollumfänglich in den Streitkräften verankert werden, auch weil die Korruption im Verteidigungssektor weiterhin endemisch ist. Auf der Ausrüstungsseite bedeutet dies, dass beispielsweise technische Kommunikationslösungen im Rahmen des "Ratnik"-Infanterieausrüstungssystems deutlich hinter den Erwartungen geblieben sind, da die Truppe ohne einheitliche moderne Funkausrüstung in den Krieg geschickt wurde. Auch deshalb ist die russische Führung auf die Heuristiken des artilleriezentrischen Stellungskriegs zurückgefallen.

Trotz der beachtlichen Leistungen sollte dieses Element ukrainischer Kriegsführung nicht davon ablenken, dass die Ukraine in mehreren Bereichen abhängig ist. Zum einen sind es die NATO-Staaten und ihre nachrichtendienstliche und Aufklärungsunterstützung. Seit Beginn der Invasion fliegen die NATO und die schwedische Luftwaffe konstant Aufklärungsflüge mit den Luftraum (AWACS) und Boden abdeckenden Radars und anderen Sensoren. Außerhalb der Reichweite dieser fliegenden Augen und Ohren verfügen die Unterstützer der Ukraine über Satelliten unterschiedlicher Sensortypen, die auch den Osten der Ukraine abdecken. Diese Unterstützung ist nicht nur relevant für die Frühentdeckung russischer Offensivbemühungen, sondern auch für die Bekämpfung russischer Schlüsselpunkte, Depots und Kommandostände.

Zweitens sind eine Reihe ziviler Akteure zu nennen, welche die Ukraine unterstützen – sei dies auf freiwilliger Basis oder auf Druck oder Anreiz der US-Regierung. Zu nennen sind hierbei insbesondere SpaceX mit Starlink und Palantir. Starlink wird von ukrainischen Truppen häufig als "Sauerstoff" bezeichnet. Die große Datenmenge, welche "Delta" benötigt und die Tatsache, dass es sich hierbei teilweise um Datenpakete (wie Bilddateien und Videos) mit hohen Anforderungen an die Bandbreite handelt, bedeutet, dass eine Internetverbindung essenziell ist. Starlink stellt bisher das logistische Gerüst dar, auch aufgrund des kompakten Formfaktors der Antennen, welche auch Gruppen und Züge von der Datenfusion profitieren lassen. Diese Art der teilimprovisierten Kriegsführung wäre mit Kommunikationstechnologien der letzten Jahrzehnte nicht möglich gewesen und Starlink liefert die notwendige Bedingung. Problematisch aus ukrainischer Sicht ist, dass SpaceX an mehreren Punkten des Kriegs mit einer Einschränkung oder Einstellung des Dienstes gedroht hat.

Darüber hinaus basiert die Datenfusion letztendlich auch auf Software und intelligenten Algorithmen des US-Softwarekonzerns Palantir, der sich, im Gegensatz zu beispielsweise Google und (scheinbar) Elon Musk, explizit als Teil der Rüstungsindustrie und im Dienst von US-Interessen sieht. Das Palantir-Tool MetaConstellation durchsucht beispielsweise das Netz automatisiert nach kommerziellen Satellitenbildern und wertet diese in einem ersten Schritt aus, sowohl zur Verfolgung russischer Ziele (und ermöglicht damit ihre präzise Bekämpfung), als auch zur Wirkungsanalyse ukrainischer Schläge.

Alte und neue Verwundbarkeiten

Bei der Bewertung der Kämpfe um militärische Schlüsselpunkte reicht nicht ein Blick auf die Karte alleine. Mindestens drei Faktoren, die eng miteinander verknüpft sind, sind hier relevant: Raum, Zeit und Ressourcen.

  • Orte wie Wuhledar, Bachmut und Kreminna, um die Anfang 2023 die heftigsten Gefechte geführt wurden, sind logistische Schlüsselpunkte – oder zumindest Etappen, um solche zu erreichen. Ein Beispiel: Von Kreminna aus könnten ukrainische Truppen auf Starobilsk vorrücken und damit eine der wichtigen Eisenbahnlinien aus Russland kappen. Kyjiw hätte so einen wichtigen Vorteil in der Oblast Luhansk. Die Einnahme Wuhledars würde es russischen Truppen erlauben, die Ost- und Südfront zu vereinen.

  • Zudem geht es darum, wie schnell qualifizierte Truppen ausgebildet und (wieder-) bewaffnet werden können. Hierdurch ergeben sich räumlich und zeitlich abgesteckte Vorteilsfenster für die eine oder andere Seite, aus der Gelegenheiten und Potenziale für Offensivbemühungen abgeleitet werden. Dabei spielen auch Wetter und inländische wie ausländische politische Faktoren eine Rolle.

  • Schließlich ist fraglich, wie viele und möglicherweise welche Verluste erlitten werden. Russland hat hier klare Vorteile, da es Eingezogene und Wagner-geführte Häftlinge als Kanonenfutter verwenden kann, um ukrainische Verteidigungsstellungen aufzudecken oder gar aufzuweichen und abzunutzen. Im Februar 2023 verdichteten sich Hinweise, dass das russische Militär selbst ebenfalls die Wagnersche Strategie übernehmen will, Häftlinge mutmaßlich als menschliche Wellen einzusetzen, was den militärischen Wert solcher Taktiken für Russland aufzeigt. Solche Taktiken sind für die Ukraine beispielsweise größtenteils nicht möglich. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Tatsache, dass die russische Seite insbesondere Defizite in der professionellen Infanterie, die auch in kleinen Gruppen teilautonom agieren kann, hat. Verluste bei Luftlandetruppen und Marineinfanterie sind daher besonders schmerzhaft, wenn Abnutzungseffekte oder Bodengewinn sich nicht in günstigen Zeiträumen einstellen. In dieser Kategorie sind auch Munitionsreserven zu betrachten, bei denen allerdings zumindest mit Blick auf ungelenkte Artilleriemunition die Vorteile bei Russland zu liegen scheinen. So kann zwar nicht quantifiziert werden, wie lange die russische Armee beispielsweise 152mm Munition für die Artillerie zur Verfügung hat – westliche Nachrichtendienste widersprechen sich hier. Klar ist jedoch, dass Russland über eingelagerte Militärgüter der Sowjetzeit verfügt, während ukrainische Fertigungsstraßen zerstört wurden und westliche erst wieder aufgesetzt werden müssen. Eine ähnliche Abnutzungslogik liegt dem Duell zwischen billigen iranischenShahed -Lenkwaffen und teuren westlich gelieferten Luftabwehrraketen zugrunde. So ist ein befürchteter Effekt der russischen Schläge auf die Infrastruktur und Zivilbevölkerung der Ukraine, dass dabei Reserven von Luftabwehrmunition der ukrainischen Seite verbraucht werden, die dann anderenorts der russischen Luftwaffe mehr Freiraum ermöglichen.

Schließlich ist festzuhalten, dass beide Seiten entsprechend ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen unterschiedliche Formen der Kriegsführung präferieren, und dass die Vorteile bei der Seite liegen, die dem Kontrahenten ihre Kriegsführung aufzwingen kann. Russland kann seine taktischen Nachteile kaschieren, wenn es der Ukraine einen artilleriezentrischen Stellungskrieg aufzwingen kann. Kyjiw hingegen peilt an, einen Manöverkrieg nach NATO-Muster zu führen, um besetztes Staatsgebiet zu befreien und seine militärischen Vorteile auszuspielen. Diese sind seit der russischen Konsolidierung weniger prononciert, können aber immer noch klar ins Gewicht fallen – auch wenn man sich aus ukrainischer Sicht nicht darauf verlassen kann, dass sich russische Defizite der ersten Kriegsphasen wiederholen.

Weitere Inhalte

Niklas Masuhr arbeitet als Senior Researcher am Center for Security Studies der ETH Zürich. Er studierte Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und Strategic Studies an der Universität Reading (GB). Seine Forschungsschwerpunkte sind Streitkräfteentwicklung in Russland und innerhalb der NATO, militärische Lehren laufender Konflikte und russische Machtprojektion auf dem afrikanischen Kontinent.