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Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Russland-Analyse Nr. 438

Cindy Wittke

/ 6 Minuten zu lesen

Die deutsche Osteuropaforschung ist derzeit medial gefragt wie nie. Dennoch sollten die Trennlinien zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit klar gezogen werden.

Wie könnte Russland für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden? Und welche Rolle sollten Wissenschaftler:innen dabei spielen? (© picture-alliance, Panama Pictures | Christoph Hardt)

Die deutsche Osteuropaforschung war selten so präsent in der Öffentlichkeit wie unmittelbar vor und insbesondere nach dem Beginn des russischen Angriffs auf das gesamte Territorium der Ukraine am 24. Februar 2022. Der russische Angriffskrieg wurde zu einem "Virolog:innen-Moment" der geistes- und sozialwissenschaftlichen Osteuropaforschung. Wissenstransfer in die Medien wie auch Hintergrundgespräche mit Entscheidungsträger:innen erreichten im Alltag vieler Wissenschaftler:innen zuvor ungeahnte Dimensionen. Selten wurde wissenschaftliche Expertise zum sogenannten postsowjetischen Raum – vor allem zur Ukraine – in Deutschland so dezidiert nachgefragt.

Dabei nehmen viele Forschende mehrere Rollen gleichzeitig ein: als Wissenschaftler:innen in akademischen Debatten, als Expert:innen in der Öffentlichkeit und auch als (akademische) humanitäre Helfer:innen für geflüchtete Kolleg:innen. Zu vernachlässigen ist auch nicht, dass zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem östlichen Europa häufig eine private Ebene hinzukommt. Und mit ihr die Sorge um Familie und Freund:innen in der Ukraine, aber auch in Russland und darüber hinaus.

In dieser Gemengelage des Ausnahmezustandes kann der "Virolog:innen-Moment" auch zum slippery slope werden. Denn nicht selten macht die Medienöffentlichkeit Wissenschaftler:innen in der Kakofonie der Expertisen zu "Weltenerklärer:innen" oder "Richtungsweiser:innen". Die Trennlinien zwischen evidenz- und forschungsbasierter Expertise, informierter Meinung und academic activism verwischen im Lärm der Zeit.

Mit Spannungsfeldern rund um das Engagement von Expert:innen aus globaler Perspektive setzt sich David Kennedy von der Havard School of Law in seinen Büchern auf anregende Art und informative Weise auseinander. Er schöpft dabei aus seiner Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Völkerrechtler:innen, Menschenrechtsanwält:innen, Politiker:innen sowie Wirtschafts- und Entwicklungsexpert:innen. In "The Dark Sides of Virtue: Reassessing International Humanitarianism" (2004) beschreibt er das Spannungsfeld bei der Befriedigung internationalen humanitären Engagements, das vom Wissen begleitet wird, dass aber selbst die am besten gemeinten Projekte ebenso viele Probleme schaffen, wie sie lösen können. In "A World of Struggle: How Power, Law, and Expertise Shape Global Political Economy" (2016) legt er den Fokus auf Konflikte, die um "Expert:innenherrschaft" entstehen, wenn Politiker:innen, Bürger:innen und Expert:innen sich auf "technokratischen Terrains" aus unlösbaren Streitigkeiten und unsicherem Wissen begegnen. Kennedy fordert seine Leser:innen auf, sowohl die Freiheit als auch die Verantwortung anzunehmen, die sich in den geschilderten Spannungsfeldern rund um Expert:innen ergeben.

Unter deutschen Jurist:innen wiederum entbrannte im vergangenen Jahr anhand des kontrovers diskutierten Essays "Doppelmoral – Der Westen und die Ukraine" des Göttinger Völkerrechtlers Kai Ambos eine Diskussion um die Trennlinien zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit mit Betonung der Notwendigkeit, genau zu definieren, in welcher Rolle man sich zu welchen Fragen in der Öffentlichkeit äußert (Externer Link: https://voelkerrechtsblog.org/de/wissenschaft-in-krisenzeiten/). Diese Debatte verdeutlicht auch, dass die Fragen an Expert:innen immer komplexer werden, je länger der Krieg gegen die Ukraine andauert und je weiter sich die neue Normalität des Arbeitens im Ausnahmezustand konsolidiert. Umso wichtiger wird deswegen die kontinuierliche Reflexion über die Frage, was wissenschaftliche Expertise im Wissenstransfer ausmacht.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine nationalen und internationalen Auswirkungen führten dazu, dass die Forschung mit regionalem Fokus auf das östliche Europa wieder weithin öffentlich (nach)gefragt ist. Obwohl diese Regionalforschung in Deutschland an vielen universitären Standorten in den vergangenen drei Jahrzehnten gezielt zurückgebaut und geschrumpft wurde, konnte sich ihre breite Expertise öffentlich sichtbar in die Debatten einbringen. Zutage traten dabei auch Lücken wie zum Beispiel in der Ukrainistik oder auch in der sicherheitspolitischen Forschung. Im Zentrum der deutschen Osteuropawissenschaft steht nach wie vor Russland, unterstrich eine 2021 veröffentlichte Studie (Externer Link: https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2021/7/geschichte-slawistik-und-der-rest/). Sie hob auch hervor, dass zwei Drittel aller Professuren mit Osteuropa-Bezug in Deutschland auf die Sprach- und Literaturwissenschaft sowie die Geschichtswissenschaft entfielen. Im drittgrößten Fach, der Politikwissenschaft, sei die Zahl der Osteuropa-Professuren fast vier Mal geringer als in der Geschichte. Ähnlich verhielte es sich mit den rechtswissenschaftlichen Lehrstühlen, die mit regionalem Fokus auf das östliche Europa in Forschung und Lehre tätig sind: auch deren Anzahl ging beständig zurück. Im Nachwuchsbereich verzeichnete die Studie eine geringe Zahl von regionalwissenschaftlichen Promotionsprojekten. So musste die Studie aus dem Jahr 2021 feststellen, dass insbesondere in den Sozialwissenschaften ein sinkendes Interesse an der Regionalforschung herrschte, das sich in stark risikobehafteten Karrierewegen in der Wissenschaft widerspiegelte. Trotz eines zunehmenden Bewusstseins unter (bildungs- und forschungs-)politischen Entscheidungsträger:innen hinsichtlich der Bedeutung von geistes- und sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung zum östlichen Europa seit der illegalen Annexion der Krim und des bewaffneten Konflikts in und um östliche Regionen der Ukraine seit 2014 und beispielsweise der Einrichtung des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) kann (noch) nicht von einer Trendumkehr in der regionalwissenschaftlichen Forschung (in Krisenzeiten) die Rede sein.

Dennoch positionieren sich Vertreter:innen der Grundlagen- und anwendungsorientierten Forschung zum östlichen Europa deutlich – und man möchte fast sagen unerwartet einig – in öffentlichen Debatten, nicht zuletzt auch in offenen Briefen (Externer Link: https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/96-osteuropa-experten-weltweit-fordern-schwere-waffen-jetzt_id_119428660.html), und scheuen sich dabei nicht, die Bedeutung regionaler Expertise zu unterstreichen (Externer Link: https://ukraineverstehen.de/worschech-davies-die-verhandlungsfalle/).

Die deutsche Osteuropaforschung ist mithin eine Wissenschaft in (Dauer-)Krisen, die nun vor neuen Herausforderungen steht, Wissenschaft im Ausnahmezustand zu betreiben. Bereits kurz nach dem Beginn des Angriffskriegs wurden Kooperationen in Bildung und Forschung mit staatlich geförderten Institutionen in Russland gestoppt (Externer Link: https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/kurzmeldungen/de/2022/03/weitere-zusammenarbeit-mit-russland-belarus.html). Dies ist eine Zäsur, die vielerorts auch Kooperationen auf individueller Ebene einfror. Hinzu kamen eine Vielzahl organisatorischer und ethischer Fragen wie zum Beispiel hinsichtlich der Gefährdung von Kooperationspartner:innen für die Forschung über, in und mit der Region. Allen Forschenden stellt sich eindringlich die Frage, wie wir jetzt und in Zukunft Wissen über und mit Staaten und Gesellschaften im östlichen Europa produzieren, die nicht nur im physischen, sondern auch im virtuellen Sinn nicht oder nur schwer zugänglich geworden sind.

Die Metapher vom "Virolog:innen-Moment" beginnt jedoch zu hinken, blickt man über die aktuellen Hausforderungen des Wissenstransfers hinaus in die derzeit nur schwer absehbare Zukunft der empirischen geistes- und sozialwissenschaftlichen (Grundlagen-)Forschung. Im Zentrum der Regionalforschung steht das häufig als "Labor" umschriebene östliche Europa in seinen räumlichen, sozialen, politischen, kulturellen, rechtlichen und wirtschaftlichen Dimensionen. Wenn man so will, ist ein Teil des "Labors" aktuell nicht mehr, nur begrenzt oder unter Hinnahme unmittelbarer physischer Gefahr zugänglich. Forschung und damit die Wissensproduktion ist für viele Wissenschaftler:innen in gewohnter Form unabhängig davon nicht mehr möglich, ob es sich nun um die Geistes- oder Sozialwissenschaften handelt oder ob qualitative oder quantitative Methoden der Datenerhebung angewandt werden.

Forschung findet trotz Freiheit der Wissenschaft nicht in einem politikfreien Raum statt. Doch bevor dies zu einer Nabelschau wird, gilt es die Perspektive nochmals zu erweitern. Unser "Labor" ist nicht statisch. Wissenschaftler:innen aus der Ukraine, aus Russland und auch Belarus und ihre Netzwerke sind in Bewegung geraten und haben sich unter anderem auch nach Deutschland und Europa verlagert. Stipendienprogramme für ukrainische Wissenschaftler:innen wurden in Deutschland vielerorts über Nacht organisiert. Schwieriger gestaltete es sich für Wissenschaftler:innen aus Russland und Belarus, Förderung und Formate zu finden, die ihre Heimat unter anderen Vorzeichen verlassen haben, aber deren Situation im Ausland häufig prekär ist. Die Migration von Wissenschaftler:innen bietet gleichzeitig Potenziale und Risiken. Sie eröffnet neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit in der Forschung und für die Ukraine auch im Hinblick auf den Wiederaufbau von Forschung und Lehre in der Zukunft. Ihre Mobilität und Anwesenheit kann auch den immer wieder starken Tendenzen des Westplaining Einhalt gebieten und die intellektuelle Souveränität von Forschung aus der Region über die Region stärken.

Wie und ob sich eine Pluralität an Diaspora-Communities entwickeln wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Dennoch muss auch eingeräumt werden, dass nicht alle Wissenschaftler:innen langfristig von den deutschen, europäischen oder angloamerikanischen Wissenschafts- und Forschungssystemen aufgenommen werden können. Dies gilt insbesondere für die vielerorts an Ressourcenknappheit leidende Osteuropaforschung. Der "Virolog:innen-Moment" war also erst der Anfang. Die Osteuropaforschung musste 2022 in vielerlei Hinsicht mit einem Sprint in einen Ausdauerlauf starten, dessen Strecke noch nicht abzusehen ist. Das ist für alle Forschende eine Herausforderung, und zwar für den wissenschaftlichen und persönlichen Kompass zugleich. Doch eines sollte dabei feststehen: Wie die Forschung von Virolog:innen nicht allein auf die Coronavirus-Pandemie ausgerichtet sein kann, so kann auch die Osteuropaforschung in Deutschland wie auch international ihre Bedeutung nicht allein mit der Deutung von Krieg und Krise im östlichen Europa begründen. Vielmehr geht es um eine langfristige disziplinenübergreifende und grundlegende theoriegeleitete empirische Erforschung des östlichen Europas. Dieses ist dabei kein bloßer "Konflikt-Container", sondern ein relationaler Raum, der von einer Vielzahl von politischen, gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Brüchen, Umbrüchen und Transformationsprozessen geprägt war, ist und absehbar sein wird.

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Dr. Cindy Wittke ist Leiterin der Politikwissenschaftlichen Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg. Sie ist Teil des BMBF-geförderten Kompetenznetzwerks "Konflikt und Kooperation im östlichen Europa. Die Folgen der Neukonfiguration politischer, ökonomischer und sozialer Räume seit dem Ende des Kalten Krieges (KonKoop)" und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Russland-Analysen.