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Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Russland-Analyse Nr. 438

Alexander Libman

/ 7 Minuten zu lesen

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Osteuropaforschung in das Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückt. Forschende bewegen sich oft zwischen Wissenschaft und Aktivismus.

Die schwedische Möbelhauskette IKEA schließt wegen dem Krieg Russlands gegen die Ukraine alle russischen Niederlassungen. Doch Expert:innen diskutieren, welche Wirkung Sanktionen entfalten. (© picture-alliance, Geisler-Fotopress | Dwi Anoraganingrum)

Die Osteuropaforschung spielte jahrzehntelang eine marginale Rolle in der öffentlichen Debatte. Der Krieg in der Ukraine hat sie auf einen Schlag in Rampenlicht gerückt. Eine größere gesellschaftliche Resonanz ist jedoch Segen und Fluch zugleich. Die öffentliche Debatte funktioniert anders als der wissenschaftliche Diskurs. Sie ist weniger an Komplexitäten, Nuancen und empirischen Beweisen interessiert, sondern setzt auf Moral, Wertungen und Emotionen, die der Krieg hervorbringt. Einige Forscher:innen beteiligen sich aktiv an dieser hochemotionalen und wertenden Diskussion und spielen nach deren Regeln. Dies könnte wiederum gravierende Auswirkungen auf die Osteuropaforschung haben.

Das erste Problem ist, dass in der wissenschaftlichen Diskussion selbst wissenschaftliche und normative Aussagen ständig vermischt werden. Wissenschaftliche Thesen und Beobachtungen können von politischen Akteuren instrumentalisiert werden. Der Tatbestand, dass eine wissenschaftliche Beobachtung von Putins Propaganda missbraucht werden kann, macht diese Beobachtung jedoch nicht falsch. Falls man Wissenschaft als Teil des Propagandakrieges wahrnimmt (und das ist heute oft der Fall), wird von Wissenschaftler:innen im Idealfall erwartet, dass sie ihre Thesen ständig darauf überprüfen, inwieweit sie zu einem politischen Narrativ passen oder passen könnten. Im schlimmsten Fall wird den Forscher:innen sogar die Fähigkeit aberkannt, rein empirische Beobachtungen ohne politische Motive zu machen. Dabei wird übersehen: Zweifel an politischen Wirkungen der Sanktionen und Hinweise auf die Grenzen der Fähigkeit der Ukraine, den Krieg auf militärische Weise zu gewinnen, sind noch lange kein Zeichen der mangelnden Empathie mit der Ukraine. Wissenschaftliche Thesen dürfen lediglich mit wissenschaftlichen Methoden und Argumenten, nicht aber mit deren Einklang mit gewissen politischen Positionen unterstützt oder widerlegt werden.

Ein gutes Beispiel ist die Debatte über den Rückzug internationaler Konzerne aus Russland. Empirische Schätzungen zu diesem Thema sind schwierig. Je nach Methode kommen Forscher:innen zu verschiedenen Ergebnissen, die sich wiederum in ihrem Grad der Präzision unterscheiden. Wenn jedoch die Aussagen, dass viele internationale Unternehmen Russland nicht verlassen haben, als Versuch "zynischer Opportunisten" gedeutet wird, "fragwürdige oder sogar fabrizierte Daten" zu verwenden und "anti-ukrainisch" zu handeln (wie zum Beispiel in dem vielbeachteten Aufsatz "The Russian Business Retreat – How the Ratings Measured Up One Year Later" geschehen, der Anfang dieses Jahres von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Jeffrey Sonnenfeld verfasst wurde Externer Link: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4343547), dann ist die Grenze der Wissenschaftlichkeit überschritten.

Ein weiteres Problem entsteht, wenn Forschungsgegenstände und -themen nicht aus der Logik der wissenschaftlichen (das heißt der Möglichkeit, zu bestehenden theoretischen Debatten beizutragen), gesellschaftlichen oder politischen Relevanz abgeleitet werden, sondern lediglich einen Signalcharakter haben und die normative Positionierung der Forschenden wiedergeben. Der Krieg in der Ukraine löste eine Debatte über die Dekolonisierung der Osteuropastudien aus, deren Ziel die Neuausrichtung der Forschung weg vom ehemaligen imperialen Zentrum sein soll. Es bestehen keine Zweifel, dass der Mangel an Forschung zur Ukraine, zum Südkaukasus oder Zentralasien ein gravierendes Problem darstellt, dem Abhilfe geschaffen werden muss. Wenn sich jedoch der Schwerpunkt der Osteuropaforschung lediglich aufgrund der normativen Positionierung verschiebt, entsteht eine doppelte Gefahr. Erstens könnte dies negative Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Regionalwissenschaften in den Mainstream-Disziplinen haben. Die Politikwissenschaft oder die Volkswirtschaftslehre gehen davon aus, dass Forscher:innen ihre empirischen Fälle so auswählen, dass die Untersuchungen einen Beitrag zum Testen allgemeiner Theorien leisten können. Falls die Regionalwissenschaftler:innen Fälle nun auswählen, um ihre gesellschaftliche Positionierung zu signalisieren, dann entspricht dies eben nicht mehr den etablierten Kriterien der Mainstream-Disziplinen. Dies hat zur Folge, dass ihre Forschung von diesen Mainstream-Disziplinen als irrelevant eingestuft wird. Zweitens könnte die Forschung selbst (und nicht nur die Wahl der Forschungsgegenstände) von normativen Überlegungen verzerrt werden, indem sich die Methodik von der rigorosen und wertfreien Wissenschaftlichkeit entfernt und sich mit der Konstruktion von politisch motivierten Narrativen und Aktivismus vermischt (ein Diskussionsbeitrag zum Thema "Dekolonisierung der Osteuropaforschung" kann hier eingesehen werden: Externer Link: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ukraine-krieg-chancen-und-risiken-dekolonisierter-osteuropaforschung-18228206.html).

Osteuropaforscher:innen, die sich aktiv an der gesellschaftlichen Diskussion beteiligen, stehen außerdem vor einer weiteren Gefahr: Sie weiten mitunter den Bereich der eigenen Expertise derartig aus, dass dies nicht mehr gerechtfertigt erscheint. Regionalwissenschaften können nur dann zur wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatte beitragen, wenn sie regionalspezifisches und fachspezifisches Wissen (in Politik, Wirtschaft, oder Geschichte) mit wissenschaftlichen Theorien und Methoden kombinieren. Regionalspezifisches Wissen als solches reicht insbesondere dann nicht aus, wenn es um Themen geht, die jenseits des eigenen Forschungsschwerpunkts liegen. Historische Forschung über das Russland des 18. Jahrhunderts befähigt nicht dazu, wissenschaftlich fundierte Aussagen über die gegenwärtige russische Politik zu tätigen. Unter Umständen ist ein:e Sozialwissenschaftler:in, der/die zwar nicht zu Russland forscht, aber über das notwendige theoretische und methodologische Handwerkszeug der Politikwissenschaft verfügt, kompetenter bei der Analyse russischer Politik, als ein:e Osteuropaspezialist:in ohne ein derartiges theoretische Fundament. Die Erfahrung der Sowjetologie zeigt, dass die Mainstream-Wissenschaften mit einem guten theoretischen Instrumentarium zum Teil präzisere Prognosen liefern als Regionalwissenschaften: Die Prognosen der österreichischen Schule der Nationalökonomie über den unausweichlichen Kollaps der Planwirtschaft erwiesen sich zum Beispiel präziser als Analysen der Osteuropaforschung. In der gesellschaftlichen Debatte des letzten Jahres gab es durchaus Fälle, wo Osteuropaforscher:innen sich resolut zu Themen geäußert haben, in denen sie keine methodische oder theoretische Kompetenz aufweisen können und zu denen sie auch empirisch nicht forschen. Zu denken wäre hier etwa an Historiker:innen, die zwar das Russland der Zarenzeiten oder die UdSSR erforschen, jedoch Aussagen über die Organisation des modernen russischen politischen Regimes oder Wirksamkeit der Sanktionen machen, oder Politikwissenschaftler:innen, die sich als Militärexpert:innen präsentieren. Im Ergebnis unterscheiden sich diese Wissenschaftlicher:innen dann nicht mehr von Journalist:innen. Sie bedienen wohl die gesellschaftliche Nachfrage nach "öffentlichen Intellektuellen", machen jedoch Aussagen über sehr spezifische Themen ohne Kennnisse der Faktenlage oder der aktuellen wissenschaftlichen Forschung dazu. Dies könnte letzten Endes auch das Ansehen der Wissenschaft in der Gesellschaft schwächen, falls sich diese Aussagen als falsch erweisen.

Es ergeben sich noch weitere Probleme. Wissenschaftler:innen können sich an der gesellschaftlichen Diskussion nicht nur als Forschende mit ihrer Fachexpertise, sondern auch als gewöhnliche Bürger:innen beteiligen, denen es freisteht, rein normative, wertende Aussagen zu tätigen. Solche normativen Aussagen sollten dann aber weder von den Wissenschaftler:innen noch von den Medien, die diese Wissenschaftler:innen zitieren, als "wissenschaftliche Erkenntnisse" präsentiert werden. Wertungen entstehen hier nicht aus dem wissenschaftlichen Forschungsprozess, sondern aus persönlichen Überzeugungen. Wertungen können jedoch dafür verwendet werden, aus den Forschungsergebnissen Handlungsempfehlungen abzuleiten. Aber eine Wertung, die ein:e Osteuropaforscher:in präsentiert, ist nicht mehr (oder weniger) wissenschaftlich als die einer anderen Person. Es ist und bleibt eine Wertung.

Eine klare Grenze zwischen wertenden und wissenschaftlichen Aussagen in der öffentlichen Diskussion zu ziehen ist freilich ungemein schwer. Allein der Sachverhalt, dass jemand als Wissenschaftler:in in den Medien vorgestellt wird, verleiht den Leser:innen oder den Zuhörer:innen den Eindruck, dass diese Person "wissenschaftliche Forschungserkenntnisse" präsentiert. Aber es gibt auch Fälle, wo Wissenschaftler:innen selbst versuchen, ihre wertenden Aussagen mit Bezugnahme auf ihren Status als Forschende zu untermauern – und das ist dann besonders problematisch. Ein anschauliches Beispiel stellt die Diskussion um öffentliche Briefe zum Ukrainekrieg in den deutschen Medien dar. Dass es in der Gesellschaft zur Rolle Deutschlands verschiedene normative Vorstellungen gibt, ist für eine Demokratie selbstverständlich. Problematisch wird es jedoch dann, wenn behauptet wird, dass einige dieser öffentlichen Briefe mehr Gehör als andere verdienen, weil sie von Osteuropaforscher:innen erstunterzeichnet wurden und die anderen Briefe von anderen Forscher:innen, Intellektuellen oder der Allgemeinheit kommen.

Hier sollten die Osteuropaforscher:innen ihre normative Position von ihrer Expert:innenrolle trennen. Falls die eine oder die andere Aussage in der öffentlichen Diskussion (etwa in den öffentlichen Briefen) auf empirisch falscher Grundlage gemacht ist (z. B., falsche Aussagen zur ukrainischen Identität), können (und müssen) Osteuropaforscher:innen dieser Aussage in der öffentlichen Debatte widersprechen und sich dabei auf ihre Fachexpertise beziehen. Falls aber die Aussage sich darauf bezieht, welche normativen Schlussfolgerungen aus eigentlich korrekten empirischen Aussagen folgen, sollten die Osteuropaforscher:innen darauf verzichten, ihren Expert:innenstatus zu betonen. Die Verbreitung dieser normativen Wertungen unter Osteuropaforscher:innen ist irrelevant: es geht nach wie vor um Wertungen.

Die Wissenschaft kann eine sehr wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Debatte einnehmen, indem sie die Komplexität der Phänomene betont, zum Zweifeln an herkömmlichen Vorstellungen und Thesen anregt oder generell eine kritische und offene Diskussion fördert. Die zentrale Prämisse der wissenschaftlichen Forschung (und der Grund, warum es die Wissenschaft überhaupt gibt) ist eben die Komplexität der Welt und deren Zusammenhänge: Hier unterscheidet sich die Wissenschaft fundamental von anderen gesellschaftlichen Diskursen, die viel mehr zu einer "Schwarz-Weiß-Sicht" tendieren. Die Wissenschaft kann freilich versuchen, sich ihren hohen Status in der Gesellschaft zunutze zu machen, um wertende Aussagen zu unterstützen, zu mobilisieren oder herkömmliche Vorstellungen zu affirmieren. Aber dafür wird die Wissenschaft eigentlich nicht gebraucht. Denn es gibt andere Akteure zuhauf, die mit Wertungen und normativen Forderungen aufwarten. Im schlimmsten Fall verspielt die Wissenschaft ihre eigene Reputation in der Gesellschaft.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Alexander Libman ist Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russland an der Freien Universität Berlin.