In den 1990er-Jahren fand in Russland ein Übergang von der
Russlands Volkswirtschaft Vor Stagnation oder Aufschwung?
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Auf den ersten Blick erscheint die Lage der russischen Wirtschaft trotz westlicher Sanktionen stabil. Soziale Indikatoren zeigen jedoch einige Defizite auf. Auch der Anstieg des Wirtschaftswachstums verläuft langsamer als gewünscht.
Makroökonomische Stabilität, soziale Probleme
Gemessen an wichtigen makroökonomischen Kriterien –
Die amtlich registrierte Arbeitslosigkeit war niedrig. Im Außenhandel wurde ein Überschuss erzielt. Der Staatshaushalt schloss 2017 mit einem geringen Defizit ab und erzielte 2018 einen Überschuss, die Staatsschulden im Ausland waren extrem niedrig. Auch für 2019 werden ähnliche Werte erwartet (Tabelle 1).
Während die makroökonomischen Daten Stabilität anzeigen, vermitteln soziale Indikatoren eine andere Seite der Realität: Der hohe Beschäftigungsstand wird durch niedrige Löhne erkauft, der Ausgleich des Staatshaushalts durch niedrige soziale Leistungen. Die 2018 beschlossene
Im Jahresdurchschnitt 2018 hatten 19 Millionen Personen (13 Prozent der Gesamtbevölkerung) weniger Geld zur Verfügung, als dem sehr niedrig festgelegten Existenzminimum entspricht. Sowohl die wirtschaftliche Entwicklung wie auch die Lebenslage der Menschen werden außerdem durch veraltete oder nicht vorhandene Infrastruktur beeinträchtigt – besonders augenfällig ist das Fehlen befestigter Straßen in weiten Teilen des Landes.
Status und Strukturen
Russland rangiert 2017 mit seinem Bruttoinlandsprodukt, wenn „Kaufkraftparitäten“ (Preise wie in den USA) zugrunde gelegt werden, hinter Deutschland an sechster Stelle in der Welt (Tabelle 3). Bei der Förderung von Rohstoffen und der landwirtschaftlichen Erzeugung rangiert Russland weit oben, während das Land bei Erzeugnissen der zivilen Industrie zurückbleibt (Tabelle 4). Bei den Rüstungsausgaben steht Russland 2017 dagegen nach den USA und China, gleichauf mit Saudi-Arabien, an dritter Stelle der Weltrangliste.
In den Betrieben, die der Staat ganz oder mehrheitlich besitzt, wird nach Berechnung des Internationalen Währungsfonds rund ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts erzeugt. Alleiniger Eigentümer ist der Staat bei den Betrieben der Rüstungs- und Atomindustrie und Weltraumtechnik. Überdurchschnittlich hoch ist er in den Wirtschaftszweigen Verkehrswesen, Energieerzeugung, Förderung von Bodenschätzen sowie Banken und Versicherungen engagiert.
In Russland hatte die "Schattenwirtschaft" nach Berechnungen von Experten im Jahr 2015 einen Anteil von 34 Prozent an der Entstehung des Bruttoinlandsprodukts. Dabei handelte es sich um nicht offiziell registrierte Tätigkeiten vor allem in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor sowie die in allen Branchen verbreiteten Lohnzahlungen "im Briefumschlag", womit die Beschäftigten Lohnsteuern und Sozialabgaben sparen. Nur die Hälfte dieses Schätzwerts berücksichtigt der Russischen Statistische Dienst in seiner Berechnung des Bruttoinlandsprodukts.
Das zu Inlandspreisen (und nicht zu Kaufkraftparitäten) berechnete Bruttoinlandsprodukt Russlands weist 2017 und 2018 folgende Struktur auf: Rund die Hälfte wird von den privaten Haushalten konsumiert. Rund 18 Prozent werden vom Staat für Gehälter und den laufenden Verbrauch in Verwaltungen, dem Militär und den Sicherheitsdiensten verwendet. Einen geringfügig höheren Umfang haben die Bruttoinvestitionen in Sachanlagen (Gebäude, Maschinen, Fahrzeuge, Verkehrswege) der Unternehmen und des Staats einschließlich des Wohnungsbaus. Da der Export von Waren und Dienstleistungen deren Einfuhr übersteigt, kann im Inland entsprechend weniger verwendet werden. Diese Proportionen entsprechen weitgehend denen in Deutschland (Tabelle 5).
Außenhandel
Russlands Exporte werden vom Rohstoffexport dominiert, bei dem Erdöl mit einem Anteil von einem Viertel am gesamten Warenexport die größte Rolle spielt (Tabelle 6). Da der Wert des Erdölexports stark von den Schwankungen des Ölpreises bestimmt wird, schwanken entsprechend auch der Rubelkurs und damit die Kosten für Importgüter. Der mit rund 70 Prozent hohe Anteil von Energieträgern und Metallen am Gesamtexport resultiert einerseits aus dem Reichtum des Landes an diesen Rohstoffen, andererseits aber auch an der geringen Konkurrenzfähigkeit der Erzeugnisse der verarbeitenden Wirtschaftszweige Russlands auf dem Weltmarkt. Die von der Weltbank berechnete "Ölrente" (die Differenz zwischen dem Wert der Ölförderung zum Weltmarktpreis und den Förderkosten) lag in Russland beim Höchststand des Ölpreises 2011 bei 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während sie in typischen "Petrostaaten" wie Kuwait, Saudi-Arabien, Irak oder Aserbaidschan 2011 zwischen 30 und 60 Prozent betrug.
Größter Außenhandelspartner Russlands ist die EU, auf die rund 40 Prozent der Warenexporte sowie Warenimporte Russlands entfallen. Aus China bezieht Russland rund 20 Prozent seiner Einfuhrgüter und liefert dorthin rund 10 Prozent seiner Exportwaren.
In der amtlichen Statistik nicht eigens ausgewiesen ist der Waffenexport Russlands, den Präsident Wladimir Putin für 2017 mit 15 Milliarden US-$ bezifferte, was mit Trendangaben des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) übereinstimmt. Mit ihm steht Russland an zweiter Stelle hinter den USA.
Russland ist Mitglied der
Investitionen und Wirtschaftswachstum
Mit Investitionen in Sachanlagen von wenig mehr als 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wie in Russland können zwar Produktionsanlagen und Gebäude ersetzt und modernisiert werden, aber der gesamtwirtschaftliche Kapitalbestand wächst nur geringfügig. Für Wachstumsraten um fünf bis sechs Prozent pro Jahr, wie sie Russlands Führung wünscht, müsste die Investitionsquote auf 25-30 Prozent ansteigen.
Regelmäßige Erhebungen der Einschätzungen von Geschäftsleuten berichten von einer Verbesserung des Geschäfts- und Investitionsklimas in Russland: Im "Doing Business Report 2018" der Weltbank ist Russland unter 189 Staaten auf den 35. Platz aufgestiegen, im "Global Competitiveness Report 2017-2018" des Weltwirtschaftsforums unter 138 Staaten auf den 38. Platz. Diese Einstufungen geben allerdings nur wieder, wie die Regularien für kleinere Unternehmen mit Eigentümern aus Russland bewertet werden – für (internationale) Großunternehmen gelten andere Regeln, die von der Präsidialadministration Russlands bestimmt werden.
Bei den nach Russland fließenden
Demographie und Wirtschaftswachstum
Während Russlands Bevölkerung nach der "mittleren" Prognose des Statistikamts Russlands zwischen 2018 und 2036 um eine Millionen Personen abnehmen wird, wird sich die Erwerbsbevölkerung (nach amtlicher Definition in Russland: Männer von 16 bis 59 Jahren, Frauen von 16 bis 54 Jahren) im gleichen Zeitraum um 3,2 Millionen verringert haben. Das liegt am Ausscheiden der starken Geburtenjahrgänge der Sowjetzeit aus dem Arbeitsleben, während zahlenmäßig schwächeren Jahrgänge aus den 1990er-Jahren nachrücken. Die Immigration nach Russland (vorwiegend aus Zentralasien und der Ukraine) wird diesen Einfluss nicht ausgleichen können. Negativ wirkt sich auch der "brain drain" ins Ausland aus, der zwar nur einen Umfang von rund 100.000 Personen pro Jahr hat, unter denen sich aber großenteils hochqualifizierte Kräfte befinden. Die Bevölkerungsentwicklung fällt daher in Russland, anders als in Ländern wie China, Indien und den USA, als Wachstumstreiber aus.
Wachstumsperspektiven
Präsident Putin hatte am 1. März 2018 in seiner Botschaft an die Föderalversammlung die Erwartung ausgesprochen, dass Russland bis 2024 unter die fünf größten Wirtschaftsmächte der Welt aufrücken und damit Deutschland überholen wird. Bis Mitte des nächsten Jahrzehnts soll das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner außerdem um die Hälfte angestiegen sein. Während Russland beim zu Kaufkraftparitäten berechneten Bruttoinlandsprodukt Deutschland tatsächlich überrunden könnte, ist die fristgemäße Erreichung des von Putin außerdem genannten Wachstumsziels kaum möglich. Das hierbei implizierte Wachstumstempo des Bruttoinlandsprodukts von sechs Prozent pro Jahr zwischen 2019 und 2025 wäre ebenso so groß wie das, welches im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2008 erreicht worden war, als der Wirtschaftsaufschwung nach der Transformationsrezession auf Sonderbedingungen (freie Kapazitäten, Ölboom) basiert hatte. Nachdem dieses Aufschwungspotential erschöpft ist, verbleibt als Wachstumsimpuls für die Privatwirtschaft vor allem die Verbesserung der Funktionsweise der staatlichen Institutionen, darunter vor allem des Rechtssystems, was aber nur schrittweise gelingen wird.
Dr. Roland Götz hat sich am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst) in Köln und in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin mit der Sowjetwirtschaft und den Volkswirtschaften der GUS beschäftigt.