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Das Justizsystem Russlands

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Weltweit gilt die russische Justiz als wenig unabhängig, auch die Russen haben wenig Vertrauen in ihre Gerichte. Worauf gründen diese Einstellungen? Sind die Richter tatsächlich abhängig? Und wer kann die Defizite ausgleichen?

Russlands Verfassungsgericht in Sankt Petersburg.

Russlands Verfassungsgericht in Sankt Petersburg. (© dpa)

Die russische Verfassung von 1993 erklärt Russland zu einem Rechtsstaat und spricht sich für das Prinzip der Gewaltenteilung sowie für eine unabhängige Justiz aus. Damit will die Verfassung nach 70 Jahren Sowjetherrschaft, in der die Justiz allein der Partei verpflichtet war, deutlich den Neuanfang des russischen Gerichtswesens zum Ausdruck bringen. Nachdem die Russische Föderation im Jahr 1996 auch dem Europarat beigetreten ist und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) anerkannt hat, ist das Land außerdem an Art. 6 EMRK gebunden, der das faire Verfahren zum Bürgerrecht erhebt.

In der russischen Rechtswirklichkeit blieben diese Rechte und Prinzipien jedoch bisher weitgehend unverwirklicht. Nach einer Einstufung der Nicht-Regierungsorganisation Freedom House, die den Grad der Unabhängigkeit der Justiz in verschiedenen Ländern misst, rangiert Russland auf den hinteren Plätzen. Auch die Weltbank gibt der russischen Justiz ein schlechtes Zeugnis. In den weltweit mit viel Aufmerksamkeit verfolgten Prozessen gegen den ehemaligen Öl-Magnaten Michail Chodorkowskij oder die Punkband Pussy Riot wurden die Defizite des russischen Justizapparats überdeutlich sichtbar.

Das Vertrauen der Bürger Russlands in ihre Richter und Gerichte ist seit Jahren entsprechend gering. Nach einer in Russland durchgeführten Umfrage des Levada-Zentrums aus dem Jahr 2017 halten nur 26 Prozent der Befragten russische Gerichte für voll vertrauenswürdig.

Justiz störend in Putins "Vertikale der Macht"

In seinen ersten Amtszeiten begegnete Präsident Putin den offenkundigen Problemen der Rechtsdurchsetzung mit der Forderung nach der "Diktatur des Gesetzes". Diese meinte jedoch weniger eine starke, unabhängige Justiz als den bedingungslosen Gesetzesgehorsam der Verwaltung. Putins Politik der "Vertikale der Macht" steht für die Kontrolle der Verwaltung von oben nach unten und nicht für eine Kontrolle durch die Gerichte. Ohne die Bedeutung einer unabhängigen Justiz ausdrücklich abzustreiten, machte Putin deutlich, dass die Stärkung und Stabilisierung Russlands nach innen und außen Priorität vor allen anderen Problemen habe. Die schlechte Verfassung der Justiz rechtfertigte er nach außen, wenn notwendig, mit allgemeinen Transformationsschwierigkeiten.

Als Grund für die nicht funktionsfähige Justiz verwies die politische Führung auch auf die Korruption innerhalb der Richterschaft. Damit sprach die Putin-Administration eine in Russland historisch bedingte Skepsis gegenüber Richtern und Gerichten an (Rechtsnihilismus): Das Recht wurde dort über die Jahrhunderte vor allem als Instrument zur Erhaltung der Machtinstrumente genutzt. Tatsächlich sehen die russischen Bürger in einer Umfrage aus dem Jahr 2007 in der Gewissenlosigkeit und der Bestechlichkeit der Richter das größte Problem für die nicht funktionierende Justiz in Russland.

Keine Reform der Justiz in Sicht

Nachdem Dmitry Medwedjew im Jahr 2008 Präsident wurde, änderte sich die politische Rhetorik. Anders als sein Vorgänger im Amt kritisierte er den Rechtsnihilismus in Russland scharf und forderte wiederholt die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz. Doch auch in seiner Amtszeit wurden die dringend notwendigen Reformmaßnahmen nicht in Angriff genommen.

Seit Putins Rückkehr als Präsident ist die Forderung nach Justizreformen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz aus dem Kreml nicht mehr zu hören. Lediglich der Menschenrechtsrat beim Präsidenten oder einige wenige Personen des öffentlichen Lebens wie die ehemalige Verfassungsrichterin Tamara Morschtschakowa erinnern regelmäßig an die Notwendigkeit von Justizreformen. Präsident, Parlament und Regierung sehen gegenwärtig offensichtlich keinen Nutzen in der Stärkung einer unabhängigen Justiz.

"Herrschaft durch das Recht" statt "Herrschaft des Rechts"

Stattdessen nutzt die politische Elite das Recht auch heute wieder offen als Instrument der Repression durch politische Prozesse gegen Oppositionelle und Kunstschaffende. Außerdem werden Strafverfahren genutzt, um bestimmte politische Entscheidungen zu legitimieren. So unterstrichen die Schauprozesse gegen die ukrainische Pilotin Nadija Sawtschenko, die Leiterin der Moskauer Bibliothek für ukrainische Literatur Natalja Scharina und den ukrainischen Regisseur Oleg Sentsow die Darstellung der politischen Elite, nach der ukrainische Faschisten die legitime ukrainische Regierung gestürzt hätten und von dem Putsch eine extremistische Gefahr für die Russen in der Ukraine und Russland selbst ausgehe. Statt von der "Herrschaft des Rechts" sprechen Experten daher von der "Herrschaft durch das Recht". Im Russischen ist der Begriff der "Basmannyj-Justiz" gebräuchlich, der an das Moskauer Basmannyj Bezirksgericht erinnert, wo zahlreiche bekannte politische Verfahren der letzten Jahre stattgefunden haben.

Der Einfluss der Politik auf die Richter ist zwar heute nicht mehr so stark wie in der Sowjetunion, als die Partei versuchte, das gesamte Leben der Bürger zu kontrollieren: Die Parteiführung diktierte dem Richter die Urteile am Telefon – man sprach von einer "Telefonjustiz". Dagegen gibt es heute Bereiche der Rechtsprechung, die frei von staatlicher Intervention sind. Indes lassen die zahlreichen politischen Verfahren keinen Zweifel, dass es auch heute eine Art Telefonjustiz gibt und die Politik einschreiten kann, wenn sie es für erforderlich hält.

Insofern hört die Unabhängigkeit der Justiz von der Politik also jedenfalls dort auf, wo die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Mächtigen auf dem Spiel stehen. Freiheit gibt es andersherum nur, wo sie die Mächtigen nicht gefährdet. Die Justiz ist im Ergebnis auch hier nicht unabhängig, man lässt sie jedoch gewähren.

Unabhängigkeit der Richter

Während die Unabhängigkeit der Richter grundsätzlich in der Verfassung festgelegt wird, fehlt es an einfachen Regelungen, die dieses Prinzip in der Praxis verwirklichen. Andersherum stärken eine Reihe von Regelungen die Abhängigkeit von der Politik und die Systemtreue des Richters. So ist der einzelne Richter stark vom Präsidenten seines Gerichts abhängig. Beispielsweise werden die einzelnen Fälle innerhalb eines Gerichts weiter vom Gerichtspräsidenten nach freiem Ermessen an den jeweiligen Richter verteilt. Der Gerichtspräsident ist gleichzeitig für Disziplinarmaßnahmen zuständig. Damit kann er die Rechtsprechung durch die Übergabe eines Falls an einen bestimmten Richter beeinflussen. Dies verletzt das Prinzip des gesetzlichen Richters und gefährdet die Unabhängigkeit des Richters. Die unbestimmten Regelungen des Disziplinarrechts sind ein weiteres Einfallstor.

Die Verfassung setzt voraus, dass Richter über eine juristische Hochschulausbildung und eine juristische Berufspraxis von mindestens fünf Jahren verfügen müssen. Rekrutiert werden die Richter in der Praxis vor allem aus Gerichtsmitarbeitern und Mitgliedern der Sicherheitsorgane wie der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Sie kennen das System und haben sich in ihm bewährt. Rechtswissenschaftlern oder Rechtsanwälten ist die Justiz zunehmend verschlossen.

Auch wenn die Gehälter der Richter gestiegen sind, bleibt ihre Abhängigkeit von Bonuszahlungen und Zuweisungen von Wohnungen, die ebenfalls vom Gerichtspräsidenten vorgenommen werden. Währenddessen sind die obersten Richter persönlich eng mit der Politik verbunden.

Staatsanwaltschaft

In der Sowjetunion war die Prokuratura ("Staatsanwaltschaft") eine mächtige Behörde. Zu ihren Aufgaben gehörte nicht nur die Verteidigung der Interessen des Staates im Strafprozess, sie war vielmehr allgemeines Kontrollorgan für die Rechtmäßigkeit der Tätigkeit der Verwaltung und der Gerichte. Sie war folglich deutlich mächtiger als die Richter.

Diese starke Stellung galt es nach der Wende zu überwinden: Die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft wurden beschnitten, die Rechte des Angeklagten im Strafprozess deutlich gestärkt. Tatsächlich aber ist die russische Prokuratura eine mächtige Einrichtung mit weitgehenden Kompetenzen geblieben. So wird allgemein beklagt, dass die Richter zu häufig den Anträgen der Staatsanwaltschaft kommentarlos folgen. Freisprüche nach einer Anklage durch die Staatsanwaltschaft bleiben weiter die Ausnahme. Die Zahl der Freisprüche stieg lediglich durch die Einführung von Geschworenengerichten.

Aus ihren traditionellen Kompetenzen ist der Staatsanwaltschaft das Recht verblieben, Zivilprozesse zu führen, wenn eine Person selbst nicht in der Lage sein sollte, ihre Rechte wahrzunehmen. Außerdem kann die Staatsanwaltschaft auch heute noch – wenn auch stark eingeschränkt – gegen ein rechtskräftiges Zivilurteil Protest einlegen und eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen. Dies wurde in der Vergangenheit vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Verstoß gegen das Prinzip der Rechtssicherheit als Element des fairen Verfahrens kritisiert.

Eine wichtige Rolle im politischen Prozess spielt auch das 2007 geschaffene Ermittlungskomitee der Russischen Föderation unter Alexander Bastrykin, das aus der Staatsanwaltschaft herausgelöst wurde. Diese formale Schwächung der Prokuratura hat jedoch nicht zu einer Entflechtung der Macht geführt. Durch die "Ermittlung" der angeblichen Straftaten politischer Gegner hat sich das neue Ermittlungskomitee in den letzten Jahren zu einer zusätzlichen Stütze der Macht entwickelt.

Rechtsanwaltschaft

Die Rechtsanwaltschaft war in der Sowjetunion dem Justizministerium unterstellt und der Politik unterworfen. Eine Reform des Berufsstandes wurde nach der Wende lange verschleppt. Vor einigen Jahren dann wurde das Rechtsanwaltswesen grundlegend reformiert und die Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft eingeführt.

Gleichwohl zeigt der Fall des russischen Rechtsanwalts Sergej Magnitskij, dass der Anwaltsberuf in Russland heute durchaus gefährlich sein kann. Magnitskij hatte einen internationalen Investmentfonds in Russland vertreten und in dieser Eigenschaft den russischen Behörden im Rahmen wirtschaftlicher Tätigkeiten von Staatsunternehmen massiven Steuerbetrug vorgeworfen. Daraufhin wurde er selbst mit Vorwürfen überzogen und verhaftet. Nach einer extrem langen Untersuchungshaft von elf Monaten starb er im Herbst 2009 im Gefängnis, weil ihm eine ärztliche Behandlung verweigert worden war. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.

Das Gerichtssystem

Das russische Gerichtssystem kennt einige Besonderheiten, wie die aus der Sowjetunion übernommene eigenständige Militärgerichtsbarkeit. Sie ist für alle Rechtsfragen zuständig, die Soldaten betreffen. Erst vor kurzem wurde die Vorschrift aufgehoben, wonach alle Richter dort Soldaten sein müssen.

Eine sowjetische Tradition ist auch die eigene Wirtschaftsgerichtsbarkeit, wörtlich übersetzt "Arbitragegerichtsbarkeit". In der Sowjetunion wurden Streitigkeiten zwischen zwei staatlichen Wirtschaftsunternehmen nicht vor Zivilgerichten verhandelt, sondern vor eigenständigen Schiedsgerichten. Während die Wirtschaftsakteure heute privatrechtliche Formen haben, blieben die Wirtschaftsgerichte unter den neuen Vorzeichen bestehen. Sie arbeiteten bald vergleichsweise transparent und effektiv und genossen das Vertrauen der Wirtschaftsteilnehmer, wenn auch die Korruption hier, wie in den anderen Zweigen des Gerichtssystems, stark ist.

Dies mag dazu geführt haben, dass in einer Eilreform im Jahr 2014 das verhältnismäßig hoch angesehene Oberste Wirtschaftsgericht in dem Obersten Gerichtshof aufging, was seiner Auflösung gleichkam.

Letztlich zeigt die Reduzierung der Zuständigkeiten der Geschworenenkammern, dass die politische Führung an einer unabhängigen und aus rechtsstaatlichen Aspekten angesehenen Justiz kein Interesse hat. Die Geschworenengerichte waren nach der Wende zur Demokratisierung und zur Stärkung des Vertrauens in die Justiz durch die Beteiligung von Bürgern an der Rechtsprechung geschaffen worden. Mittlerweile hat man diese Entwicklung teilweise wieder zurückgenommen. Die Rechtsprechung ist damit wieder stärker in staatlicher Hand.

Verfassungsgericht

Eine Neuheit im russischen Justizsystem war zu Beginn der 1990er-Jahre das Verfassungsgericht. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit Russlands erwies sich das Gericht als starker Motor für die Rechtsstaatlichkeit. In sehr bemerkenswerten Urteilen rechnete es mit der Sowjetherrschaft ab und festigte die neu errungenen Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates.

Im Jahr 1993 geriet das Verfassungsgericht in die Krise. Im Kampf zwischen Präsident Jelzin und dem Parlament bezog das Verfassungsgericht gegen den Präsidenten Stellung. Aus diesem Kampf ging es stark geschwächt hervor und büßte an Vertrauen als unabhängige Instanz ein.

In der Regierungszeit Putins erwies sich das Gericht dann als zuverlässiger Rückhalt des Präsidenten. Mit einer Reihe von Urteilen, u. a. zum Föderalismus sowie zum Parteiensystem, stärkte es die Vertikale der Macht und den Einfluss des Präsidenten. Verfassungsgerichtspräsident Sorkin rechtfertigt diesen Ansatz, indem er auf äußere und innere Bedrohungsszenarien und die anhaltende Gefahr der Instabilität des Landes verweist. Freiheit und Demokratie könnten langfristig nur durch eine vorrangige Politik der Stabilisierung des Staates gewährleistet werden.

Im Ergebnis ist das Verfassungsgericht heute eine Institution, die zwar im Zweifel nicht gegen die Mächtigen entscheidet, im politischen Geschehen aber auch wegen seines einflussreichen Gerichtspräsidenten durchaus wahrgenommen wird und relevante Entscheidungen fällt.

Russland und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) schafft heute den notwendigen Ausgleich für die erheblichen Defizite des russischen Justizsystems. Der Ansturm auf das Gericht aus Russland ist daher gewaltig. Im Januar 2011 waren 41.000 russische Fälle beim Gerichtshof anhängig. Durch eine Reform des Gerichts wurde diese Zahl abgebaut, im Oktober 2017 sind es aber immer noch 8.050 anhängige Verfahren. Im Jahr 2016 wurde die Russische Föderation in über 200 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt.

Ungewöhnlich hoch sind die russischen Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und gegen das Recht auf Leben. Diese betreffen vor allem Beschwerden über die Kriegsführung in Tschetschenien, aber auch die Situation in den russischen Gefängnissen. Ebenfalls häufig werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und auf eine wirksame Beschwerde gerügt.

Lange Zeit zahlt Russland die ihm durch den EGMR auferlegten Schadensersatzsummen an die Betroffenen. Nach einem entsprechenden Urteil des russischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2015 wurde allerdings ein Gesetz eingeführt, nach dem das russische Verfassungsgericht Urteile des EGMR auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen muss. Kommt es zu dem Ergebnis, dass die Verfassung keinen Grundrechtsverstoß annimmt, so dürfen die Urteile des EGMR nicht umgesetzt werden. Da sich das russische Verfassungsgericht in den letzten Jahren gegenüber der Macht als loyal erwiesen hat, ist davon auszugehen, dass es die Regierung in Zukunft von der Bindung an unliebsame Urteile aus Straßburg befreien wird. Dies betrifft freilich nur das innerstaatliche Recht. Nach dem Völkerrecht bleibt Russland weiter gebunden. Und trotz mancher Rückschritte bleibt Russlands Zugehörigkeit zum Europarat und die Bindung an die EMRK eine der großen Hoffnungen für das russische Justizsystem.