Die Machtverteilung im "Tandem Putin-Medwedjew" war nicht sofort klar. Auf seiner letzten Pressekonferenz als Präsident kündigte Putin im Februar 2008 an, man werde sich "die Macht praktisch aufteilen". Medwedjew wurde jedoch auf die Rolle des Juniorpartners im "Tandem" verwiesen. Putins politisches Personal wurde nicht abgelöst, sondern nur umverteilt. Ohne eigenes Team blieb Medwedjew ein "General ohne Armee". Karikaturisten zeigten ihn auf dem Kindersitz eines Tandemfahrrads, auf dem er die Pedale nicht erreichte. Erst im Jahr 2010 gewann Medwedjew an eigener politischer Statur, an Selbstvertrauen und an allgemeiner Zustimmung hinzu. Gleichwohl lag das "Rating" für Putin immer noch um einige Prozentsätze höher als das für Medwedjew.
Übereinstimmungen und Konflikte des Tandems 2008 - 2012
Die Inhaber der zwei politischen Spitzenämter vertraten durchaus unterschiedliche innen- und außenpolitische Positionen. Medwedjew trat von Anfang an als scharfer Kritiker der Korruption wie des Rechtsnihilismus hervor. Er nannte die typischen Merkmale der "gelenkten Demokratie" beim Namen und räumte ein, dass Parteien von oben geschaffen würden. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise verstärkte er seine Kritik. Im Herbst 2009 beschrieb er die russische "Demokratie" als "schwach", die Wirtschaft als "ineffektiv und die Gesellschaft als halbsowjetisch". Er sprach von einem "rückständigen Land mit einer primitiven Wirtschaft, die von natürlichen Ressourcen abhängt". In einer "archaischen Gesellschaft", in der die "großen Führer" für jedermann denken und entscheiden, verhinderten "paternalistische Einstellungen" neue Ideen und Initiativen (gazeta.ru. 10.9.2009). Dies war ein Paukenschlag gegen Putins "Vertikale". Der Schelte folgten Appelle zur Modernisierung von Wirtschaft und Politik.
Die anfänglich zu beobachtende Übereinstimmung der politischen Spitzenakteure in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik hatte ihren Höhepunkt in der gemeinsamen militanten Haltung gegen Georgien. Schon bald nach dem militärischen Konflikt legte Medwedjew jedoch eine immer stärkere Hinwendung zum Westen an den Tag. Ein "Neustart" wurde zumal in den Beziehungen zu Europa, den USA und zur NATO ausgelotet und in Gang gebracht. Auf internationalem Parkett zeigte sich Medwedjew weitaus verbindlicher als Putin, der für sein notorisch unnachgiebiges Auftreten bekannt war.
Unterschiede in grundsätzlichen politischen Einstellungen ebenso wie im Stil der beiden blieben an der Tagesordnung. Als Ende 2010 das Urteil im zweiten Prozess gegen Michail Chodorkowskij unmittelbar bevorstand, leistete sich Putin mit den Worten: "Ein Dieb gehört ins Gefängnis!" eine drastische Vorverurteilung in dem Fall. Demgegenüber machte Medwedjew öffentlich geltend, dass es keinem Amtsträger in Russland anstehe, sich in die Justiz einzumischen und ein nicht rechtskräftiges Urteil zu bewerten.
Ähnliches geschah Anfang 2011 nach dem Terroranschlag von Domodedovo. Nachdem die Untersuchungsbehörden von einer erfolgreichen Spur berichtet hatten, preschte Putin mit öffentlichen Erfolgsmeldungen über die schon erzielte Aufklärung des Falls vor. Medwedjew warnte hingegen vor endgültigen Stellungnahmen vor Abschluss der Ermittlungen. Während sich Putin mit seinen Äußerungen billigem Populismus hingab, zeigte Medwedjew Respekt vor rechtsstaatlichen Prinzipien. Er trat auch als der bessere Demokrat im Umgang mit der liberalen Opposition auf, indem er deren Führer als die legitimen Vertreter bestimmter gesellschaftlicher Schichten bezeichnete. Im Unterschied dazu hatte Putin meist Verleumdungen und Verunglimpfungen für Führungsfiguren des demokratischen Lagers parat.
Zu einem offenen Konflikt zwischen Medwedjew und Putin kam es im Frühjahr 2011 in der Libyenfrage. Während Medwedjew für die Enthaltung Russlands bei der Resolution des UN-Sicherheitsrates zu einer No-fly-Zone über Libyen eingetreten war, hatte Putin das Vorgehen des Westens gegen Libyen als "mittelalterlichen Kreuzzug" gegeißelt. Medwedjew übte umgehend Kritik an dieser Wortwahl. Tatsächlich war Putin von der Ermordung seines Freundes Gaddafi zutiefst getroffen. Er war über das Handeln des "perfiden Westens" in der Sache ebenso empört wie über Medwedjews Alleingang.
Mit ihrem unterschiedlichen Auftreten bekundeten die Partner im "Tandem" letztlich ihr je eigenes Verständnis von nationaler Führerschaft. Sie positionierten sich zugleich als potentielle Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 2012. Beobachter zeigten sich darin einig, dass Medwedjew alle grundlegenden Schwächen der "gelenkten Demokratie" zutreffend benannt und kritisiert habe. Allerdings folgten seinen richtigen Worten keine nennenswerten Taten zur Behebung der Missstände. Dieser offenkundige Widerspruch löste sich nur auf, wenn man das Kräfteverhältnis innerhalb des informellen Machtkartells in Betracht zog. Solange hier die Befürworter einer Modernisierung ohne Mehrheit waren, blieb Medwedjew auf die Rolle eines "Schaufensterpräsidenten" und eines "Generals ohne Armee" beschränkt.
Medwedjew als Mächtigster im Politbüro 2.0
Es kam noch schlimmer. Denn die am 24. September 2012 bekundete Absicht eines erneuten Ämtertauschs zwischen den Duumviren, der Medwedjew zufolge "auf einer tief durchdachten und vor langer Zeit erfolgten Vereinbarung gründete", zwang zu der Annahme, dass seine ganze Präsidentschaft eine bloße Statthalterschaft war. Medwedjew nahm weitere Selbsterniedrigungen auf sich. So gab er Putins "etwas höheren Zustimmungswert" in der Gesellschaft als Grund für den Verzicht auf eine eigene Kandidatur an. Weiter ließ er sich die Führerschaft der Partei "Einiges Russland" aufdrängen, zu der er stets Abstand gehalten hatte. Moskaus Auguren sahen in Medwedjew folglich nur noch "eine politische Leiche".
Der abgeschriebene Duumvir überraschte jedoch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Proteste zum Jahresende 2011 in seinem letzten Bericht zur Lage der Nation mit einer Reihe beachtlicher politischer Reformvorschläge. Dazu zählten die Wiedereinführung der direkten Wahl der Gouverneure, eine deutliche Herabsetzung der für die Parteienregistrierung und Präsidentschaftskandidatur benötigten Unterschriften und Vorschläge für die Einführung eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die Neuerungen standen dem früheren Hoffnungsträger für Modernisierung gut an.
Mit der Ernennung Medwedjews zum Premierminister in Putins dritter Präsidentschaft ging die Ära des "Tandems" nur vordergründig und kurzzeitig in eine neue Runde. Von dem im Postenschacher angelegten neuen Duumvirat war jedoch recht bald nichts mehr zu merken. Medwedjew hatte geradezu Mühe, sich im eigenen Kabinett zu behaupten. Er trat wieder ins Glied der geheimen Kremloligarchie zurück, behielt hier aber einen festen hohen Rang.
Über das informelle Machtkartell wurde erstmals im August 2012 ein öffentlicher Bericht vorgelegt. Das von der Moskauer Consulting Gruppe Mintschenko verfasste Papier schilderte die momentane Machtkonstellation an der Spitze des "tiefen Staats". Es bediente sich dabei der Analogie mit dem allmächtigen sowjetischen Politbüro und erschien folglich unter dem Titel "Politbüro 2.0". Der Bericht fußte auf der anonymen Befragung von sechzig hochrangigen Vertretern aus Politik und Wirtschaft. Er mündete in die Erstellung einer Rangliste der Mächtigsten im Lande. Analog zum sowjetischen Modell wurde je nach Einschätzung des politischen Gewichts der Akteure zwischen "Vollmitgliedern" und "Kandidaten" unterschieden.
Im Jahr 2012 konnten nur wenige Personen den Status eines "Vollmitglieds" für sich in Anspruch nehmen. In der Rangliste stand Medwedjew an erster Stelle. Ihm folgte Sergej Iwanow, der Vorsitzende der Präsidialadministration. Auf Position Drei war Russlands "Energiezar", Igor Setschin, platziert. Rang Vier wurde Gennadij Timtschenko, Aufsichtsratsvorsitzender der Gasfirma Nowatek und Mitinhaber der Gas- und Ölhandelsfirma Gunvor, zugeordnet. Er wurde als Gegengewicht zu Igor Setschin im Energiekomplex eingeschätzt. Den fünften Platz belegte Sergej Tschemesow, die dominierende Figur im militärisch-industriellen Komplex. Rang Sechs erhielt der Moskauer Oberbürgermeister Sergej Sobjanin zugeteilt. Zuletzt wurde als Neuling im "Politbüro" der Stellvertretende Leiter des Präsidialamts, Wjatscheslaw Wolodin, genannt. Unter den als "Kandidaten" zum Politbüro eingeschätzten Akteuren ragte Patriarch Kirill hervor. Ihm wurde der Aufgabenbereich "ideologische Projektarbeit" zugeschrieben. Einen Stammplatz im Kreis der Mächtigen bezog der Oligarch Roman Abramowitsch. Viktor Solotow, der bald an die Spitze einer neuen "Nationalgarde" treten würde, verkörperte wiederum einen klassischen "Silowik", d.h. einen Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols.
Dem ersten Bericht über das Zweite Politbüro folgten jährliche Updates über die Verschiebungen im höchsten Machtzirkel. Aufs Ganze gesehen änderte sich an der Grundstruktur der Repräsentanz mächtiger Akteure aus der Geschäftswelt, der Hochbürokratie und der Geheimdienste wenig. Vielmehr frappiert die strukturelle wie personelle Kontinuität unter Putins Mitregenten.
Seit dem Sommer 2016 waren Umbesetzungen auf wichtigen staatlichen Posten zu beobachten. Der Trend ging dahin, dass sich Putin von langjährigen Weggefährten wie Sergej Iwanow verabschiedete und bei der Neubesetzung von Schlüsselstellen, auch auf Gouverneursposten, sogenannte "Prinzlinge" aus Elitefamilien heranzog. Beobachter folgerten daraus, dass sich das technokratische gegenüber dem oligarchischen Element im System Putin stärken könnte, möglicherweise ein Symptom für Veränderungen des Regimes im Gefolge der Präsidentschaftswahlen 2018.
Unter den Neuberufungen in die Spitze der Präsidialadministration ragt der "Systemliberale" Sergej Kirienko heraus. Er hatte sich bereits unter Jelzin einen Namen in der großen Politik gemacht. Mitte 2016 übernahm er in der Administration den Bereich "Innenpolitik". Ihm kamen sowohl bei der Konzipierung der Botschaft des Präsidenten an das Parlament am 1. März 2018 als auch bei der Vorbereitung der für Putin so erfolgreichen Präsidentschaftswahlen vom 18. März 2018 hohe Verdienste zu. Daraus ist zu folgern, dass höchste Beamte bei der Ausrichtung des politischen Kurses wie bei der öffentlichen Präsentation des Präsidenten ein gewichtiges Wort mitzureden haben.