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"Aus Hass ist Solidarität geworden"

Lisa Müller

/ 4 Minuten zu lesen

Die aus der Ukraine fliehenden Menschen haben Tenor und Themensetzung im französischen Präsidentschaftswahlkampf verändert. Außer dem Rechtsradikalen Zemmour setzen alle Kandidatinnen und Kandidaten auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen. Was bedeutet das für ihre Wahlchancen?

Protestmarsch gegen den Ukraine-Krieg am 12. März 2022 in Paris. (© picture-alliance, EPA)

Wie hältst du’s mit den Einwanderern? Mit dieser und ähnlichen Fragen lassen sich im französischen Präsidentschaftswahlkampf die Gemüter bewegen. Einwanderung, Islam und nationale Identität sind – zumindest in der Mitte und auf der rechten Seite des politischen Spektrums – zu Dauerthemen (vgl. Externer Link: atlantico 05.11.2021; Externer Link: L’Express 22.02.2022) geworden.

Inwiefern solche Debatten tatsächliche Sorgen der Bürger widerspiegeln, ist schwer zu sagen. Einerseits zeigt eine Externer Link: Umfrage von Anfang März, dass andere Themen (Kaufkraft, Krieg in der Ukraine, Klimawandel) die Franzosen derzeit stärker beschäftigen als Einwanderungsfragen. Andererseits stimmten im Sommer 2021 über 60 Prozent der Teilnehmenden einer Externer Link: Befragung dem Statement zu, es gebe zu viele Ausländer in Frankreich. Dass ein Teil der französischen Bevölkerung Immigranten, insbesondere aus muslimisch geprägten Ländern, ablehnend gegenübersteht, sei Ausdruck tiefgehender Ängste, die sich in den 1980er-Jahren entwickelt hätten, erklärt der Historiker Sébastian Ledoux in einem Interview mit Externer Link: Ouest France (30.01.2022): "Man fühlt sich nicht mehr zu Hause, man hat den Eindruck, dass sich die Gesellschaft verändert, dass man entwurzelt wird. … Die Welt hat sich zunehmend globalisiert und diese Globalisierung bringt teilweise einen sozialen Abstieg mit sich und das Gefühl, sein eigenes Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben."

Treibende Kraft der verschärften Debatte während der vergangenen Monate ist sicherlich der rechtsradikale Publizist Eric Zemmour. Externer Link: Zemmour verspricht, sollte er gewählt werden, die Zuwanderung nach Frankreich vollständig zu unterbinden. Er ist Anhänger der rechten Verschwörungstheorie des ‘Großen Austausches‘, der zufolge ein geheimer Plan existiert, nach dem Migrantinnen und Migranten die Bevölkerung Europas Schritt für Schritt ersetzen sollen.
"Er ist wie besessen von der Idee einer Einwanderungswelle, die Frankreich überschwemmen und unterwerfen wird", schreibt dazu Externer Link: Médiapart (18.09.2021). Schon früh im Wahlkampf gelang es dem Provokateur, sein Schwerpunktthema auf die allgemeine Tagesordnung zu bringen - nicht zuletzt dank seiner zahlreichen Externer Link: Auftritte in den Medien. Damit setze er, so Nicolas Beyrouth in seiner Kolumne in Externer Link: l’Opinion (27.10.2021), die anderen Kandidaten gewaltig unter Druck: "[Zemmour] verbreitet seine Botschaften und seine zahlreichen Provokationen, er sorgt dafür, dass darüber gesprochen wird, und er zwingt die meisten anderen Kandidaten dazu, etwas zu entgegnen. Er gibt das Tempo vor, er bestimmt die Agenda."

Den hitzigen Diskussionen fehle es allerdings an Tiefgang, beklagen Externer Link: Kommentatoren. Die meisten Kandidaten würden lediglich bereits existierende Ängste verstärken, anstatt Lösungen für tatsächliche Missstände zu unterbreiten. So macht Externer Link: Le Monde (21.01.2022) diverse Problemfelder aus, denen mehr Beachtung geschenkt werden sollte: "Das Scheitern der europäischen Dublin-Verordnung, die dafür sorgt, dass Asylsuchende von einem EU-Land zum nächsten irren, und die Unfähigkeit der 27 EU-Staaten, ihre Asylpolitik und die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber zu koordinieren."

Auch beim Thema Integration mangele es an konstruktiven Vorschlägen, kritisiert Hakim El Karoui in seiner Kolumne in Externer Link: L’Opinion (03.01.2022): "Dass es allein die Aufgabe der Einwanderer ist, sich zu integrieren, funktioniert nicht mehr, wenn es um ihre Kinder geht, die als Franzosen in Frankreich geboren wurden."

Zu harten Tönen gegen Migranten ließ sich im Wahlkampf neben der Externer Link: rechtspopulistischen Marine Le Pen auch die Konservative Valérie Pécresse hinreißen. Bei einer Externer Link: Wahlkampfveranstaltung im Februar griff die Kandidatin von Les Républicains den Begriff des ‘Großen Austausches‘ auf - distanzierte sich allerdings gleichzeitig von der Theorie. Für Externer Link: Libération (14.02.2022) ist dieser Auftritt ein Zeichen für die politische Zerrissenheit von Valérie Pécresse: "Das Ganze zeugt von der moralischen Panik einer Konservativen, die nicht mehr weiß, wo sie hingehört." Gleichzeitig wird den Kandidaten des linken Parteienspektrums in den Kommentarspalten (vgl. Externer Link: blogs.alternatives-economiques 01.12.2021; Externer Link: Le Monde 22.01.2022;) vorgeworfen, das Feld den extremen Rechten zu überlassen. So schreibt Jacques Lancier auf seinem Blog in Externer Link: Mediapart (21.02.2022): "Den führenden Persönlichkeiten der linken Parteien ist das Thema Einwanderung peinlich und offensichtlich ziehen sie es vor, diese Fragen nicht anzusprechen."

Die Flucht von Tausenden von Menschen aus der Ukraine sorgte Anfang März schließlich für eine regelrechte Kehrtwende im Wahlkampf. Bis auf Eric Zemmour befürworten alle Kandidatinnen und Kandidaten öffentlich die Aufnahme von Externer Link: Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine. Wie andere Medien auch (vgl. Externer Link: franceinter 02.03.2022; Externer Link: Les Echos 01.03.2022) ist Externer Link: Libération (11.03.2022) positiv überrascht darüber, dass im allgemeinen Diskurs die Solidarität überwiegt: "Es mussten also mehr als 2,5 Millionen Menschen ihr Land im Krieg verlassen, damit die Aussagen der rechten und rechtsextremen Kandidaten aus dem Präsidentschaftswahlkampf verschwanden, die das Gefühl vermittelten, Frankreich sei ein Land, das durch unkontrollierte Migrationsströme ruiniert wird. … In den Köpfen, selbst in den engstirnigsten, sind aus Migranten Flüchtlinge und aus Hass Solidarität geworden." Eric Zemmour scheint angesichts der aktuellen Stimmung die falsche Taktik gewählt zu haben. Sein Vorschlag, die Externer Link: Flüchtlinge sollten lieber in Polen bleiben, treibt seine seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine bereits sinkenden Externer Link: Umfragewerte weiter nach unten. Mit seiner Haltung hat sich Zemmour als Präsident disqualifiziert, findet auch Externer Link: L’Opinion-Kolumnist Nicolas Beyrouth (28.02.2022): "Wer Präsident ist oder es werden will, braucht natürlich einen starken Charakter und eine starke Hand. … Wer jedoch Autorität mit Brutalität verwechselt, fügt der Gleichgültigkeit Unanständigkeit hinzu." Es ist also durchaus denkbar, dass ausgerechnet das Thema den rechten Provokateur ins Aus schießen wird, mit dem er zuvor so viel Aufsehen erregte.

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ist euro|topics-Korrespondentin für Frankreich sowie die französischsprachigen Teile Luxemburgs, Belgiens und der Schweiz. Sie studierte Kommunikationswissenschaften und deutsch-französischen Journalismus. Schon kurz nach Abschluss ihres Studiums zog es sie nach Straßburg zurück, wo sie derzeit als freie Journalistin für Arte arbeitet.