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Eine Schicksalswahl für Europa

Lisa Müller

/ 4 Minuten zu lesen

Die erste Runde der Präsidentschaftswahl in Frankreich haben der derzeitige Staatschef Emmanuel Macron und die Rechtspopulistin Marine Le Pen für sich entschieden. Bei der Stichwahl am 24. April geht es um sehr viel mehr als um die Zukunft Frankreichs.

Wahlunterlagen französischer Präsidentschaftskandidaten wie Emmanuel Macron und Marine Le Pen liegen übereinander. (© picture-alliance/dpa)

Es ist die Neuauflage des Duells von 2017: In der Stichwahl um die Präsidentschaft werden der amtierende liberale Präsident Emmanuel Macron (27,8 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang) und Marine Le Pen (23,2 Prozent), die Kandidatin des rechtsradikalen Rassemblement National, gegeneinander antreten. Überrascht haben dürfte das Ergebnis kaum jemanden, hatte es sich doch schon seit Wochen in den Umfragen angedeutet. Trotzdem herrscht nach dem ersten Wahlgang bei vielen in Frankreich Ernüchterung (vgl. Externer Link: Les Echos 10.4.2022; Externer Link: Le Figaro 10.4.2022), die bis zuletzt gehofft hatten, dass sich die Geschichte nicht wiederholen würde.

Ein Blick in die Kommentarspalten (vgl. Externer Link: Mediapart 10.4.2022; Externer Link: Liberation 10.4.2022) bestätigt: Das Land ist unzufrieden mit der Besetzung der zweiten Wahlrunde. So unzufrieden, dass manche Medien gar düstere Zukunftsszenarien entwerfen: "Es lässt sich nur schwer erkennen, wie die Bilanz dieser Wahl etwas anderes als Entsetzen auslösen und wie die nächsten fünf Jahre etwas anderes als Blut und Tränen erwarten lassen können", klagt Externer Link: Médiapart (10.04.2022). Es scheine, als müssten sich die Französinnen und Franzosen zwischen Pest und Cholera entscheiden, so die Online-Zeitung: "Es geht um nichts Geringeres als darum, sich jetzt schon zu wappnen gegen einen Präsidenten Macron, der weiterhin die Demokratie mit einem vom bürgerlichen Lager erzwungenen Konsens verwechselt, oder gegen eine fünfjährige Amtszeit von Marine Le Pen, die die Demokratie selbst bedroht." Maxime Tadonnet, Historiker und Essayist für Externer Link: Le Figaro (10.04.2022), stellt darüber hinaus die politische Legitimität der zur Wahl stehenden Personen in Frage: "Sollte sich die Heimat von Montaigne, Pascal und Descartes damit begnügen, alle fünf Jahre eine Art Guru für den Élysée-Palast zu bestimmen? Eine Wahl aus Mangel an Alternativen oder aus absurden Gründen, bis hin zur Karikatur: Entweder wird Marine Le Pen dank eines offen ausgelebten Anti-Macronismus gewählt oder Emmanuel Macron dank eines Anti-Le-Penismus und der Angst vor 'Extremismus'. … Die politische Frustration wird unweigerlich in Gewalt und Chaos umschlagen."

Dass sich in diesem Jahr erneut Emmanuel Macron und Marine Le Pen gegenüberstehen, hat nach Ansicht vieler vor allem zwei Gründe: Externer Link: Einerseits ist es der Chefin des Rassemblement National gelungen, sich im Gegensatz zu dem nicht selten als arrogant und elitär wahrgenommenen amtierenden Präsidenten als nahbare Kandidatin zu präsentieren. Und auch ihre seit Jahren verfolgte Strategie der Normalisierung scheint aufgegangen zu sein – nicht zuletzt dank des noch weiter rechts stehenden Publizisten Eric Zemmour. "Indem er die Nische der identitären Rechten besetzte, ermöglichte er es Marine Le Pen, verstärkt auf soziale Themen zu setzen, was ihr zusätzliche Stimmen aus dem Arbeitermilieu einbrachte", analysiert Externer Link: La Tribune (11.04.2022). Andererseits habe es Le Pen sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums an ernsthafter Konkurrenz gefehlt, wie Externer Link: Médiapart (10.04.2022) erklärt. Die Schuld dafür trage wiederum Präsident Macron: "Fünf Jahre lang hat der Präsident die Kandidatin der extremen Rechten als seine Hauptgegnerin dargestellt. Die traditionelle Rechte und die sozialdemokratische Linke hat er systematisch ausgetrocknet." Die Folge ist nun eine tektonische Verschiebung in der politischen Landschaft Frankreichs, zugunsten der radikalen Ränder. Nicolas Beytout beschreibt das auch in seiner Kolumne in Externer Link: L’Opinion (10.04.2022): "Dieser erste Wahlgang hat ein halbes Jahrhundert französischer Politik ausgelöscht: Die beiden großen Parteien (Les Républicains und Parti Socialiste), die das Land die ganze Zeit über regiert hatten, sind tödlich verwundet. An ihrer Stelle verstärken eine radikalere, protestorientierte Rechte und Linke ihren Einfluss und bilden zusammen mit Emmanuel Macrons Zentrum den demokratischen Willen ab."

Obwohl die Konstellation der Stichwahl die gleiche ist wie vor fünf Jahren, wird die jetzige Lage in einigen Externer Link: Kommentarspalten als weitaus beunruhigender eingeschätzt. Externer Link: Libération (10.04.2022) glaubt, dass die Chancen für Le Pen dieses Mal eindeutig besser stehen, da sie mit den Stimmen der Zemmour-Anhänger rechnen könne: "Le Pen kann nun nachweislich auf Stimmen zurückgreifen, die ihr helfen können, diesen zweiten Wahlgang, der von Macrons Strategen so gut geplant wurde, zu gewinnen." Bereits am Wahlabend habe man bemerken können, wie groß die Akzeptanz gegenüber der rechten Kandidatin sei: "Man hat verzweifelt nach Zeichen des Schocks gesucht, nach spontanen Demonstrationen, nach Beteuerungen, dass der Faschismus sich nicht durchsetzen wird. Vergeblich."

Alexis Brézet, Redaktionsleiter von Externer Link: Le Figaro (10.04.2022), glaubt hingegen nicht an einen Sieg Le Pens – selbst wenn diese aus ihren Fehlern bei der letzten Stichwahl gelernt hat: "Es ist gut möglich, dass sie am Ende besser abschneiden wird als 2017, aber angesichts des erheblichen Vorsprungs, den Emmanuel Macron gegenüber seiner Rivalin hat, deutet alles darauf hin, dass der amtierende Präsident am 24. April den Sieg holen wird." Allerdings dürfe sich dieser in den nächsten zwei Wochen nicht auf seinem Erfolg ausruhen: "Emmanuel Macron muss endlich Wahlkampf führen, sich in die Schlacht stürzen, und zwar nicht halbherzig oder rückwärts, wie es bislang zu oft den Anschein hatte."

Für Externer Link: Slate (11.04.2022) kommt der Stichwahl in zwei Wochen auch deshalb eine wichtige Bedeutung zu, weil sie darüber entscheiden wird, welche Rolle Frankreich in Zukunft in der Welt einnimmt: "Der springende Punkt ist: Wollen wir in Europa bleiben und weiterhin eine Führungsrolle anstreben? … Oder wollen wir Frankreich auf den verhängnisvollen Weg führen, den Boris Johnson aufgezeigt hat – ein Frexit, der vorgibt keiner zu sein? Wollen wir unseren Bündnissen den Rücken kehren, während Diktator Putin den Krieg in das Herz Europas zurückbringt und versucht, die rechtsextremen Bewegungen auf dem Alten Kontinent um sich zu scharen? Mit der Abstimmung am 24. April werden wir dem Rest der Welt sagen, wer wir sein wollen." Nicht nur Frankreich, auch Europa fiebert der schicksalhaften Abstimmung entgegen.

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ist euro|topics-Korrespondentin für Frankreich sowie die französischsprachigen Teile Luxemburgs, Belgiens und der Schweiz. Sie studierte Kommunikationswissenschaften und deutsch-französischen Journalismus. Schon kurz nach Abschluss ihres Studiums zog es sie nach Straßburg zurück, wo sie derzeit als freie Journalistin für Arte arbeitet.