Wohnen stellt für alle Menschen ein grundsätzliches Lebensbedürfnis dar. Durch das Bundesteilhabegesetz sollen Menschen mit Behinderung auch beim Wohnen Selbstbestimmung erhalten. In der Umsetzung zeigen sich aber derzeit Schwierigkeiten und Grenzen.
Das Recht auf selbstbestimmtes Wohnen ist im Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Interner Link: (UN-BRK/UN-Behindertenrechtskonvention) verankert, das 2009 in Deutschland ratifiziert wurde. Artikel 19 Abs. 1 thematisiert ein Recht auf selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit Behinderung, damit diese „gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“. Als besondere Wohnformen werden heute die ehemals stationären Einrichtungen bezeichnet.
Einige Stimmen in der Fachdiskussion gehen weiter und fordern, Sondereinrichtungen komplett abzuschaffen. Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zum Beispiel sieht für Sondereinrichtungen keinerlei Reformmöglichkeiten, denn „auch wenn Einrichtungen Menschen mit Behinderungen ein gewisses Maß an Wahlfreiheit und Kontrolle bieten können, sind diese auf bestimmte Lebensbereiche beschränkt und ändern nichts am segregierenden Charakter von Einrichtungen.
Damit die UN-BRK auch umgesetzt werden kann, mussten die Unterzeichnerstaaten jeweils nationale Gesetze erlassen. In Deutschland geschah dies durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) im Jahre 2016, das sich im Sozialgesetzbuch (SGB) IX wiederfindet. Dieses sieht weiterhin Wohnen in Sondereinrichtungen – „besondere Wohnformen“ – neben anderen Möglichkeiten vor.
Vor dem BTHG bestimmten die Eingliederungshilfeträger (Öffentliche Verwaltungen als Leistungsträger) und die Einrichtungen für Menschen mit Behinderung (Leistungserbringer) wenn auch nicht nach dem Gesetzeswortlaut, so doch in der Praxis meist untereinander, wo und mit welchen Leistungen ausgestattet Menschen mit Behinderung leben. Dazu wurde vom jeweiligen Leistungsträger ein Gesamtpaket mit einer Einrichtung vereinbart, das sich am Hilfebedarf der darin lebenden Menschen ausrichtet. Die Regelungen des BTHG spalten das Gesamtpaket in die Bestandteile Leistungen zur sozialen Teilhabe (Fachleistungen zum Erlenen oder zum Erhalt praktischer Kompetenzen zur Lebensführung) nach § 113 SGB IX sowie Kosten der Unterkunft und Hilfe zum Lebensunterhalt auf, wie in Abbildung 1 zu sehen. Die Menschen mit Behinderung sollen damit ein hohes Maß an Selbstbestimmung erreichen und ihr Wunsch- und Wahlrecht nach § 8 SGB IX effektiv ausüben können.
Im Rahmen des sogenannten Gesamtplanverfahrens erfolgt vom Eingliederungshilfeträger die Bedarfsermittlung für jeden Menschen mit Behinderung auf Basis der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Auf dieser Grundlage werden die Fachleistungen geplant. Die Menschen mit Behinderung entwerfen dafür (Teilhabe-) Ziele für ihre persönliche Entwicklung in den nächsten Jahren. Das können ganz praktische Ziele sein wie Kochen lernen oder allein den Bus benutzen. Um diese Ziele zu erreichen, trifft der Eingliederungshilfeträger mit einem geeigneten Leistungserbringer eine Vereinbarung über die dafür notwendigen Fachleistungen. Parallel überweist das Sozialamt als zweiter Leistungsträger den Menschen mit Behinderung die Kosten für eine Unterkunft und die Hilfe zum Lebensunterhalt (zusammen: existenzsicherende Leistungen), alle Leistungsberechtigten müssen deshalb über ein eigenes Bankkonto verfügen. Sie suchen und bezahlen als Mieter:innen ihre Wohnmöglichkeiten selbst, egal, in welcher Wohnform sie leben.
Die erläuterte Systematik ist zwischenzeitlich in den einzelnen Bundesländern weitgehend in Landesrahmenverträgen und weitere Detailregelungen konkretisiert worden. Allerdings läuft die Umsetzung schleppend an, nicht zuletzt, weil bei vielen Leistungsträgern das notwendige Fachpersonal dazu fehlt.
Unterscheidung von Wohnformen
Vor dem Erlass des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) konnten Menschen mit Behinderung, die Eingliederungshilfe erhielten, in stationären, teilstationären und ambulanten Wohnformen leben. Diese Unterscheidungen hat der Gesetzgeber aufgehoben. Die Fachwelt betitelt die verbleibenden Wohnformen unterschiedlich. Die folgenden begrifflichen und statistischen Angaben stammen von der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS). Die wichtigsten Wohnformen sind demnach:
Sogenannte besondere Wohnformen (ehemals stationäre Einrichtungen). Von 2019 bis 2022 ist die Zahl der dort lebenden Personen um 3 % auf 194.010 gesunken; im Jahre 2017 lebten noch 212.000 Personen in besagten Einrichtungen.
Wohnen in eigener Häuslichkeit, häufig noch als ambulant betreutes Wohnen bezeichnet: In diese Kategorie gehört das Wohnen in einer eigenen gemieteten oder gekauften Wohnung sowie in Wohngemeinschaften. Die Betroffenen erhalten regelmäßig eine nach ihren Wünschen und Bedürfnissen ausgerichtete Betreuung mit unterschiedlichem Intensitätsgrad.
Wohnen in Pflegefamilien mit unterstützenden Leistungen
Menschen mit Behinderung sollen sich möglichst selbstbestimmt ihr Wohnsetting aussuchen können. Die Finanzierung läuft unabhängig ihrer Wahl nach dem oben erläuterten Muster ab. 54 % (Ambulantisierungsquote) wohnen derzeit nicht oder nicht mehr in besonderen Wohnformen. Die nachfolgende Abbildung zeigt Unterschiede in den Behinderungsarten auf. In besonderen Wohnformen leben noch vermehrt Menschen mit einer geistigen Behinderung.
Schwierigkeiten und Grenzen bei der Umsetzung
Der Gesetzgeber grenzt mit dem § 104 SGB IX das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderung ein. „Den Wünschen der Leistungsberechtigten muss […] nur entsprochen werden, wenn sie angemessen sind“. Nach Abs. 2 § 104 SGB IX darf die gewünschte Leistung, also beispielsweise die bevorzugte Wohnung im Sinne der eigenen Häuslichkeit, die Kosten einer vergleichbaren Leistung (beispielsweise einer besonderen Wohnform) nicht unverhältnismäßig übertreffen. In der Praxis bleibt abzuwarten, ob die Leistungsträger diese Regelungen streng als Ausschlusskriterium und Finanzierungsvorbehalt gegenüber gewünschten Leistungen auslegen oder sich flexibel und gesprächsbereit zeigen.
Die steigende Ambulantisierungsquote deutet auf einen Trend zur Selbstbestimmung und Einbindung in gesellschaftliche Strukturen der Menschen mit Behinderung hin. Gleichzeitig aber trifft diese Entwicklung auf einen zunehmend überlasteten Wohnungsmarkt. Tauchert diagnostizierte schon 2019 die schwierige Umsetzung des Wunsch- und Wahlrechts, denn „zunächst einmal scheitert es ganz grundsätzlich an nicht vorhandenem angemessenen, gegebenenfalls barrierefreiem Wohnraum oder passenden Wohnangeboten in Heimatnähe“. Blickt man auf den aktuellen Wohnungsmarkt, dürfte sich die Situation in den letzten Jahren noch verschärft haben, „700.000 Wohnungen fehlen in Deutschland“, so berichtet die Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Januar 2023 mit Verweis auf eine Studie des Verbändebündnis Soziales Wohnen. Es kommt hinzu, dass Wohnungen für Menschen mit Behinderung oftmals besondere Eigenschaften aufweisen müssen. Sie benötigen etwa barrierefreie Wohnungen und/oder Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehrs in unmittelbarer Nähe.
Unbeachtet der Wohnform, in der die Menschen leben wollen, kommt als weiteres Problem hinzu, dass es keinen Überblick über passende Angebote für Menschen mit Behinderung gibt. Notwendig wäre die Schaffung einer flächendeckenden und klientenorientierten Informations- und Beratungsinfrastruktur, die unabhängige Unterstützung anbietet, am besten webbasiert und in leichter Sprache. In einigen Bundesländern wurde dieser Bedarf erkannt, so soll beispielsweise in Niedersachsen ein sogenanntes Bürgerportal eingerichtet werden, „über das sich die Öffentlichkeit über die in Niedersachsen bestehenden Leistungsangebote der Eingliederungshilfe informieren und freie Plätze in diesen Angeboten suchen kann.“
Insgesamt versprechen die Regelungen zum Wohnen des BTHG eine bedeutende Ausweitung der Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung; für eine erste Bilanz ist es aber angesichts der schleppenden Umsetzung noch sehr früh.
Sebastian Noll, Dr. rer. pol., hat eine Professur für Sozialmanagement/Sozialwirtschaft an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Mittweida inne und forscht zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes.
Sarah Wiesemann, M.A., hat an der Hochschule Mittweida Soziale Arbeit im Bachelor und Master studiert, war wissenschaftliche Mitarbeiterin, forscht zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes und arbeitet als Schulsozialarbeiterin.
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