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Die Vorgeschichte der „sozialen Medien“ | Soziale Medien – wie sie wurden, was sie sind | bpb.de

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Die Vorgeschichte der „sozialen Medien“ Über die Träume digitaler Vergemeinschaftung und freier Kommunikation

Dr. Martin Schmitt

/ 11 Minuten zu lesen

Die Entstehungsgeschichte sozialer Medien reicht von den frühesten Digitalcomputern bis zur Etablierung des World Wide Webs und zeichnet die Entwicklung digitaler Gemeinschaften und Kommunikationsformen nach.

Illustration: www.leitwerk.com

Ist das schon Geschichte?

Der Erfinder des ersten Computers der Welt, Professor Konrad Zuse, mit seinem Nachbau, des sogenannten "Z 1", im Berliner Museum für Verkehr und Technik (1989). Seit 1987 rekonstruierte der inzwischen 79-jährige aus dem Gedächtnis heraus das Original, das im Zweiten Weltkrieg samt der Pläne verloren gegangen war. (© picture-alliance/dpa, DB)

Jüngst stellten Kommunikationshistoriker:innen fest: „Zur Geschichte der digitalen Medien und sozialen Medien in Deutschland und der genuin hier angesiedelten Versuche an Plattformgründungen (z. B. StudiVZ) gibt es bislang recht wenig Forschung“. Zuallererst macht diese Feststellung stutzig. Kaum ein Tag vergeht, an dem Menschen in Deutschland nicht mit den sogenannten „sozialen Medien“ in Berührung kommen, weil sie Twitter, Facebook, Instagram, WhatsApp, Telegram oder TikTok aufrufen, in Reddit posten, YouTube-Videos anschauen oder sich in der kollaborativen Enzyklopädie Wikipedia informieren. Und die historische Forschung ignoriert das? Viele der meist US-amerikanischen Unternehmen existieren erst seit einem Jahrzehnt. Historiker:innen beschäftigen sich in der Regel erst nach etwa 30 Jahre in der Rückschau mit Themen: Dann haben die damaligen Akteure ihre Kämpfe ausgefochten und stehen die Archivakten für eine ausgewogene Beurteilung zur Verfügung. Sind „soziale Medien“ dann überhaupt ein Thema für die Geschichtswissenschaft? Ja, denn die längere Geschichte der Digitalisierung, in der die „sozialen Medien“ einzuordnen sind, zählt bereits über 80 Jahre. Konrad Zuse und andere Ingenieure entwickelten seit 1941 die ersten Digitalcomputer, Unternehmer*innen, Wissenschaftler*innen und Staatenlenker*innen setzten diese seit den 1950er Jahren für ihre Zwecke ein, die Zivilgesellschaft adaptierte sie in den darauffolgenden Dekaden – all das prägte die sozio-digitale Landschaft der späteren „sozialen Medien“. Als unmittelbar „nach dem Boom“ etwa um 1970 zahlreiche Industriegesellschaften einen strukturellen Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik durchlebten, war eine Antwort darauf die vermehrte Digitalisierung und Vernetzung. Daraus entwickelte sich die 1990er Jahre als markante Dekade von World Wide Web, Google und Chatdiensten. Die Entwicklung der „sozialen Medien“ ist also unter anderem in eine ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung der Aufmerksamkeitsökonomie und in die längeren Veränderungen von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen der Ausdifferenzierung und partiellen Individualisierung seit den 1960er Jahren einzuordnen. Dadurch lässt sich besser verstehen, welche Prämissen ihnen zugrunde lagen, welche Möglichkeitsräume und Probleme sich daraus ergaben und warum sie die heutige Öffentlichkeit in einer bestimmten Art und Weise dominieren – ohne sie jedoch zu determinieren.

Begriffsbestimmung

Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei „sozialen Medien“ um ein wandelbares Phänomen – wie so häufig in der Geschichte, und doch digitaltechnisch beschleunigt nochmal ganz besonders. Definierbar ist „nur das, was keine Geschichte hat“, argumentierte Friedrich Nietzsche in unvergleichlich provokanter Art. Durch die Definition werden die Dinge festgestellt, statisch, ahistorisch. All das sind die „sozialen Medien“ nicht. Eine historische Perspektive soll also dazu beitragen zu verstehen, was jeweils zu einer bestimmten Zeit unter dem Begriff „soziale Medien“ verstanden wurde und welche Vorläufer sich ausmachen lassen, selbst wenn sie nicht als „soziale Medien“ bezeichnet wurden. Nichtsdestoweniger wird Leser:innen aufgefallen sein, dass die „sozialen Medien“ in diesem Text in Anführungszeichen stehen, manchmal begleitet von dem Adjektiv „sogenannt“. Dies soll kurz erklärt werden. Erstens verweist dies auf die genannte Historizität des Phänomens. Von „sozialen“ Medien zu sprechen, behauptet implizit eine Zäsur, eine Unterscheidung zu den vorhergegangenen Medien: Die „neuen“ Medien seien besonders „sozial“. Neuigkeitsbehauptungen sind häufig in der Digitalgeschichte, verwischen aber den sozialen Gehalt vorheriger Medienformate. Seien es die aufklärerischen Gesellschaften der frühen Enzyklopädist:innen, die Lesebriefe in Zeitungen, die soziale Funktion der Telefonie: Jede Technik, jedes Medium ist sozial. Technik und Gesellschaft lassen sich nicht auseinanderdividieren.

Zweitens betont der Begriff die Soziabilität des Phänomens, also dass darüber gelingende soziale Beziehungen besonders gut geführt und gepflegt werden könnten und diese Medienformen gemeinschaftsfördernd wirken würden. Allerdings verdeckt es nur allzu gut die ökonomisch-politischen Interessen von Unternehmen und Individuen, die hinter diesen sozio-digitalen Entwicklungen von kapitalistischer Verwertungs- und politischer Überwachungslogik ebenso auszumachen sind. Emanzipatives Potenzial, Partizipation und kommunikativen Austausch „many to many“, eine gewisse Dynamik, Entgrenzung und Beschleunigung sollen keineswegs negiert, sondern differenziert werden. Beide Seiten rahmen die Arbeitsdefinition dessen, was in diesem Beitrag unter „soziale Medien“ verstanden wird.

Die Ursprünge der Computervernetzung zwischen Militär, Wissenschaft und Gegenkultur im Internet (1968 - 1980)

Die Geschichte der „sozialen Medien“ ist also auch eine Geschichte menschlicher Vergesellschaftung, also dem Aufbau sozialer Beziehungen, in denen Handlungen zum gegenseitigen Interessensausgleich beitragen, positiv wie negativ. Diese Vergesellschaftung erfolgte über miteinander vernetzte, digitale Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Geschichte der „sozialen Medien“ im Digitalen reicht dementsprechend weiter zurück als nur bis zur Gründung von Facebook, Instagram oder Twitter. Vielmehr lässt sie sich zurückverfolgen bis in die Anfänge vernetzter Computerkommunikation – und damit bis in die turbulenten 1960er-Jahre. Studentisch geprägte Gegen-, akademisch orientierte Wissenschafts- und auf Sicherheit ausgerichtete Militärkultur trafen hier in mehreren westlichen Staaten aufeinander. In ihrer Melange bildeten sie eine Grundlage für das Internet. Das Internet ist die Infrastruktur, auf der das Web und mit ihm die „sozialen Medien“ aufsetzten. Stets waren es die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach Austausch, welche die historische Entwicklung antrieben. In Wechselwirkung mit den technischen Möglichkeiten formten sie die digitalkommunikative Ökosystem der Gegenwart, in denen Menschen sich global austauschen, ihre Gefühle, Weltsichten und Hoffnungen teilen, in denen sie lieben, hassen, sich interessieren, informieren oder schlichtweg unterhalten.

Die partizipative Kultur der „sozialen Medien“ lässt sich in einer längeren Linie bis in die Gemeinschaften des Amateurfunk und des Radios zurückverfolgen. Bereits hier bildeten sich Gemeinschaften der Kommunikation, oft männlich geprägt. Sie verständigten sich, technisch vermittelt über Distanzen, aber doch meist in regionaler Umgebung, miteinander. Dies setzte sich im Umfeld der frühen Computerinstallationen an Universitäten und Institutionen fort. Insbesondere die kommunalistisch geprägte Gegenkultur, also diejenigen, die sich in selbstverwaltete lokale Gemeinschaften der „Kommunen“ bspw. in den USA zurückzogen und ein „mindful life“ dem direkten politischen Protest vorzogen, hinterließ als Studierende und Doktorand:innen ihre Spuren. Sie arbeiteten an Universitäten bspw. an der Entwicklung von Kommunikationsprotokollen mit. Sie wollten Dinge anders machen als zuvor und besaßen bei der Weiterentwicklung der Computerkommunikationstechnik gewisse Freiräume. Egalitäre Prinzipien und freie Kommunikation jenseits von Status, Macht, Race, Geschlecht oder gesellschaftlich-ökonomischen Erwartungen bestimmten ihr Handeln – und finden sich in gewisser Weise auch in Teilen der technischen Infrastruktur und deren Anwendungen wieder, bspw. in der kollaborativen Standardsetzung der Protokolle oder den Möglichkeiten anonymer Kommunikation. Auch ihre Nutzung der Netzwerktechnik hatte prägende Wirkung, zum Beispiel wenn sie diese dafür verwendeten, um sich per Gruppennachrichten zu vergemeinschaften. Hieraus entstanden später die E-Mail, Forensysteme wie auch Formen der Direktnachrichten und Chatgruppen. Die bisherige Geschichtsschreibung über digitale Computervernetzung konzentrierte sich eher auf die technischen Komponenten und ökonomische Aspekte. In Firmennetzwerken teilten Arbeitsgruppen miteinander Daten „on-line“ mittels Zugriff per Terminal auf Zentralrechner. Allerdings ist dies keine ausreichende Erklärung dafür, wie sich ein soziales Internet durchgesetzt konnte. Die Antwort darauf lässt sich nicht in den Bürogebäuden der US-Ostküste finden, denn wirtschaftliche Interessen von Großunternehmen dominierten Anfangs nicht. Und auch in den Besprechungsräumen militärischer Zulieferbetriebe liegt nur ein Teil der Antwort, denn das Internet wurde zwar auch, aber eben nicht nur aus militärischen Gründen (weiter)entwickelt; vielmehr lässt sich dessen Genese auch bis hin zu improvisierten Workshops und der Arbeit von Millionen von Hobbyist:innen, Freiwilligen, Aktivist:innen und Kleinunternehmer:innen nachverfolgen. Um die Zentralrechner bildeten sich soziale Gemeinschaften, unter anderem durch Fernzugriff – gleichzeitig bildeten die Netzwerkstrukturen bestehende soziale Gemeinschaften, zum Beispiel Abteilungen in einem Unternehmen, ab. Später öffneten Graswurzelnetzwerke von Computer-Enthusiast:innen die Rechner für gesellschaftliche Kommunikationsflüsse und Vergesellschaftung. Diese bauten 15 Jahre bevor das Internet sich mit dem World Wide Web gesamtgesellschaftlich durchsetzte auf kleiner Ebene Online-Systeme in Städten der nördlichen Hemisphäre auf. Ihre Experimente und Erfahrungen mit Anonymität, Identität, Privatheit, Sexualität und Vertrauen schuf viele derjenigen Praktiken, die im Silicon Valley später reproduziert und kommerzialisiert wurden: als „Social Media“. Die zuvor beschriebenen Ansätze, Daten und Informationen gemeinschaftlich zu teilen und die Gemeinschaftsbildung um diese digitalen Ensembles, fanden trotz technischer Hürden statt, nicht nur wegen technischer Ermöglichung.

Großbritannien, Thatcher und das World Wide Web (1980 - 1992)

Tim Berners-Lee an einem Computer am CERN (Forschungseinrichtung für Teilchenphysik) in Genf (1994). Dort verfasste er ein Papier, das die Idee eines umfassendes Informationsnetzes vorstellte. Heute gilt es als Geburtsurkunde des Worl Wide Web. (© picture-alliance/dpa, DB CERN Genf)

Auf dem Internet als technischer Infrastruktur baute das World Wide Web auf. Ende der 1980er-Jahre lässt mit dessen Entwicklung ein Paradigmenwechsel erkennen. Zuvor wurden Informationen tendenziell in einzelnen, voneinander unabhängigen und miteinander inkompatiblen Datenbanken gespeichert. Der Datenaustausch erfolgte über geschlossene Trägermedien und Standards – beides erschwerte eine zwischenmenschliche Kommunikation und deren Monetarisierung. Entwickler:innen wie Tim Berners-Lee verhalfen der Idee vernetzter Information, bereitgestellt von einzelnen Individuen und global kommuniziert, zum Durchbruch. Und mit der Information vernetzten und vergemeinschafteten sich auch die Menschen. In seinem 1989 eingereichten Paper „Information Management: A Proposal“ beschrieb er erstmals seine Idee vom „Web“ als einem universell angelegten Informationsordnungssystem, mit dem sich Daten, von Einzelnen bereitgestellt und in deren Hoheit befindlich, über ein Netzwerk unabhängig von der jeweiligen Hardwarekonfiguration miteinander verknüpfen, offen austauschen und einfach manipulieren ließen.

Dabei ging es Berners-Lees Aussage nach von Anfang an auch darum, den Nutzer nicht nur als passiven Konsumenten von Information, sondern als teilhabendes und kreatives Individuum einzubinden. Nutzer:innen sollten Verbindungen, geistig wie physisch, selber herstellen, Inhalte verbreiten, Ideen ausdrücken und Bestehendes weiterbearbeiten können – anders als bei manch vorgegebener oder gelenkter „interaktiver“ Anwendung. Das fing damit an, dass jeder seinen eigenen Webserver aufsetzen konnte, ging mit der allgemeinverständlich angelegten Auszeichnungssprache HMTL weiter und endete beim Browser als Editor. Daran wird deutlich: Dynamische, kollaborativ-gemeinschaftliche Inhaltsgestaltung, Charakteristikum der „sozialen Medien“, stand schon ganz am Anfang des World Wide Web.

Darüber hinaus lassen sich nicht nur in Tim Berners-Lees Ideen und Gesellschaftsvorstellungen deutliche Anleihen des Kommunitarismus feststellen, der insbesondere seine Annahmen über die Bedeutung sozialen Kleingruppen prägte, wie sie sich bilden, intern funktionieren und wie ihre Mitglieder mit Wissen umgehen. Der Kommunitarismus entstand Ende der 1970er Jahre in Ablehnung der „Theory of Justice“ des US-Philosophen John Rawls und der zunehmenden Dominanz des Neoliberalismus mit seiner Betonung des Individualismus. Als Brite erlebte Berners-Lee die proklamierte Aufkündigung der Gesellschaft zugunsten des Individuums unter der Premierministerin Margret Thatcher. Ihr viel zitierter Ausspruch „there is no such thing as society“ („so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“) steht beispielhaft für die Gesellschaftsvorstellung des Neoliberalismus, selbst wenn ihre gesellschaftspolitischen Umsetzungen pragmatischer waren als ihre Rhetorik. Thatcher regierte Großbritannien von 1979 bis 1990, also genau in der Zeit, in der Tim Berners-Lee erste grundlegende Entwürfe des Web ausarbeitete. Berners-Lee sah das Web keineswegs als Werkzeug zur Ermächtigung ungebundener Individuen jenseits einer zerbrochenen Gesellschaft. Immer wieder reflektierte er die gesellschaftlichen Implikationen seiner technischen Entwicklung und forderte eine Ethik im Umgang miteinander, wie auch im Umgang mit Wissen.

Die Metapher der atomisierten Gesellschaft, in der sich der zukunftspessimistische Zeitgeist der 1980er Jahre mit den Sorgen um das überforderte Individuum als losgelöstem Radikal in der Informationsflut der Welt bündelte, dachte er weiter. Jedes Individuum habe eine gesellschaftliche Valenz im doppelten Wortsinne, also Wert und Stärke für die Gemeinschaft, aber ebenso wie die chemische Valenz die Fähigkeit eines Atoms beschreibt, sich mit einer bestimmten Anzahl anderer Atome chemisch zu verbinden, sei die Anzahl menschlicher Informationskanäle sozial begrenzt. Ein Mensch kann nur eine begrenzte Anzahl an Freundschaften pflegen. Auch in den „sozialen Medien“. Berners-Lee distanzierte sich von einer allgemeinen Beschleunigung und Optimierung durch die Steigerung von Informationseinheiten und miteinander verbundenen Individuen – auch wenn ihn ein grundlegender Fortschrittsglaube auszeichnete. In seinem Menschenbild wird der Mensch als dezidiert kommunikatives Wesen gedacht. Er sei „von Natur aus dazu vorgesehen, mit anderen als Teil eines größeren Ganzen zu interagieren“. Durch das Web steige die Kommunikation als Informationsaustausch rapide an und der Mensch müsse hierbei in seinen Werten und seinen sozialen Fähigkeiten mitgedacht werden. Toleranz sei angesichts der umfassenden Begegnungsmöglichkeiten im Web unumgänglich. Rein auf sich bezogen würde der Mensch nicht glücklich, und es sei ihm nur begrenzt möglich, zu lernen. Daher bilde er Gruppen, die in denen er ein gemeinsames Verständnis aufbauen, Kommunikationsbarrieren überwinden und Informationen einfacher teilen zu können – und diese Kleingruppenbildung solle das Web unterstützen, auf Basis von Vertrauen innerhalb der Gruppe. Gruppenbildung vollziehe sich idealerweise spontan, flexibel und nicht vorgegeben – mit nur wenigen, minimalistischen Grundsätzen gerechten Umgangs. Eine dieser Regelungen war für Berners-Lee der Datenschutz, da sonst für Nutzer:innen nicht ersichtlich sei, welche Daten im Web über ihn gesammelt würden – was Angst erzeuge, Selbstentfaltung in der Kleingruppe beeinträchtige und Vertrauen unterminiere. Berners-Lee war davon überzeugt, dass weder völlige Zurückgezogenheit noch vollständige Selbstaufgabe für die Gesellschaft gut für Menschen seien. Wenn er seine lokale Gemeinschaft vernachlässige und sich zu sehr an allgemeine Andere binde, würde dies neue Barrieren aufbauen. Berners-Lee war aber kein gealterter Hippie. Er lehnte das Ideal einer Kommune, für viele das Gegenmodell zu hierarchischen Organisationen schlechthin, auf Grund ihrer Strukturlosigkeit genauso ab wie übersteigerte Regulierung. Dadurch wird klar, dass er kein Verfechter einer Kalifornischen Ideologie (cyber-)libertärer Prägung war, sondern in seinem soziotechnischen Gesellschaftsentwurf ein gerechtes Zusammenleben nach der Ernüchterung der 1980er und dem Ende der großen Utopien konzeptualisierte.

Damit hebt sich Tim Berners-Lee von einem jetzt wieder aufflammenden Zeitgeist absoluter Staatsferne und der wirtschaftlicher Überhöhung des individuellen Start-Up-Gründers ab Sein Fazit: „Langsam lernen wir den Wert von dezentralen, diversen Systeme und von gegenseitigem Respekt und Toleranz”. So seine hehre Vorstellung. Internetkonzerne, Nutzer:innen und die Presse hatten andere Pläne.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Christian Schwarzenegger u. a. (Hrsg.): Digitale Kommunikation und Kommunikationsgeschichte: Perspektiven, Potentiale, Problemfelder (Berlin: Externer Link: Digital Communication Research, 10, 2022).

  2. Es handelte sich bei den Computerentwicklern ausschließlich um Männer – zusammengebaut, umgesetzt und programmiert haben digitale Computer aber Frauen im Hintergrund, beispielsweise in der Zuse KG.

  3. Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, Nach dem Boom: Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Aufl., (Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2012).

  4. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten: zum Strukturwandel der Moderne, 5. Auflage, wissenschaftliche Sonderausgabe. (Berlin: Die Gesellschaft der Singularitäten, 2021); Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit: ein Entwurf. Ungekürzte Ausg., Lizenzausg Aufl. (München: Hanser, 2007).

  5. Friedrich Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld", „schlechtes Gewissen" und Verwandtes. Kapitel 13“, in Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, 3. Aufl., hrsg. von Giorgio Colli und Montinari Mazzino, 317 (München: De Gruyter, 1967).

  6. Eden Medina, „Forensic Identification in the Aftermath of Human Rights Crimes in Chile: A Decentered Computer History“, Technology and Culture 59/4 (2018): 100–133.

  7. Martina Heßler, Kulturgeschichte der Technik. (Frankfurt a.M.: campus, 2012), 7–14.

  8. Siehe auch den Interner Link: Text zu Geschäftsmodellen in diesem Dossier.

  9. Martin Schmitt, Internet im Kalten Krieg: eine Vorgeschichte des globalen Kommunikationsnetzes. (Bielefeld: transcript Verlag, 2016), 38–59.

  10. Matthias Röhr, Der lange Weg zum Internet. Computer als Kommunikationsmedien zwischen Gegenkultur und Industriepolitik in den 1970er/1980er Jahren. (Bielefeld: transcript Verlag, 2021), 262–263.

  11. Joy Lisi Rankin, A People’s History of Computing in the United States. (Cambridge: Harvard University Press, 2018).

  12. Kevin Driscoll, The Modem World: A Prehistory of Social Media. (New Haven: Yale University Press, 2022).

  13. Tim Berners-Lee und Mark Fischetti, Weaving the Web: The Original Design and Ultimate Destiny of the World Wide Web by Its Inventor. (San Francisco: Harper, 1999), 223.

  14. Tim Berners-Lee und Mark Fischetti, Weaving the Web: The Original Design and Ultimate Destiny of the World Wide Web by Its Inventor. (San Francisco: Harper, 1999).

  15. John Rawls, A Theory of Justice: Original Edition. (Cambridge: Harvard University Press, 1971).

  16. Margret Thatcher und Douglas Keay, „Interview for Woman's Own" (“no such thing as society”). Margret Thatcher Foundation, 1987, Externer Link: http://www.margaretthatcher.org/speeches/displaydocument.asp?docid=106689 [14.10.2023].

  17. Fernando Esposito, „Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom“, in Vorgeschichte der Gegenwart: Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, hrsg. von Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael und Thomas Schlemmer, 393–423 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016).

  18. Fernando Esposito, „Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom“, in Vorgeschichte der Gegenwart: Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, hrsg. von Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael und Thomas Schlemmer, 393–423 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016), 206–207. Übers. d. Verf.

  19. Fernando Esposito, „Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom“, in Vorgeschichte der Gegenwart: Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, hrsg. von Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael und Thomas Schlemmer, 393–423 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016), 199–200.

  20. Der Begriff „Kalifornische Ideologie“ bezeichnet die lose Allianz von Programmierern, Künstlern und Kapitalgebern in einem Zusammentreffen von freiheitlichen Idealen der Hippies und den unternehmerischen Qualitäten der Yuppies, die sich insbesondere in der Überhöhung des Startup-Gründers ausdrückt (Barbrook und Cameron 1996). Siehe auch den Text Interner Link: „Utopien und Dystopien des Internets und der sozialen Medien“ in diesem Dossier.

  21. Tim Berners-Lee und Mark Fischetti, Weaving the Web: The Original Design and Ultimate Destiny of the World Wide Web by Its Inventor. (San Francisco: Harper, 1999), 205.

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Weitere Inhalte

Martin Schmitt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Historischen Institut der Universität Paderborn. Seine Forschungsinteressen reichen von der europäischen Zeitgeschichte über Fragen der Digitalisierung und Computervernetzung bis hin zur Umweltgeschichte. Nach Stationen in Tübingen, Madrid, Cambridge, Potsdam und Darmstadt hat er nun eine unbefristete Stelle für Digital History, die sich mit der kritischen Reflexion der Digitalgeschichte und dem Einsatz von datengetriebenen Ansätzen in der historischen Forschung beschäftigt. Zuletzt erschien von ihm "Die Digitalisierung der Kreditwirtschaft. Computereinsatz in den Sparkassen der Bundesrepublik und der DDR 1957-1991". Für seine Arbeiten zur Digitalgeschichte Ost- und Westdeutschlands wurde er mehrfach ausgezeichnet.