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Alles geht? Die jüngste Geschichte der „sozialen Medien“ | Soziale Medien – wie sie wurden, was sie sind | bpb.de

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Alles geht? Die jüngste Geschichte der „sozialen Medien“ Zwischen Wirtschaft und Gemeinschaft

Dr. Martin Schmitt

/ 12 Minuten zu lesen

Twitter ist jetzt X und befindet sich auf dem absteigenden Ast. Auf diesem Ast sitzt Facebook bereits seit längerem. Der Kurzvideodienst Vine, Vorgänger von TikTok, ist Geschichte. Und auch bei Google klingeln die Alarmglocken angesichts der „neuen“ Konkurrenz durch Microsoft und ChatGPT.

Illustration: www.leitwerk.com

Alles geht? (1993 - 2001)

Kaum beginnen Historiker:innen sich kritisch mit der Geschichte der „sozialen Medien“ und ihren enormen Gewinnen auseinanderzusetzen, verändert sich das Feld und ehemals blühende Plattformen verwaisen, es verschwinden die Quellen, die Online-Gemeinschaften lösen sich auf und ziehen zur nächsten Plattform. Also besser keine jüngste Geschichte der „sozialen Medien“ schreiben? Gegenüber konservativeren Auffassungen ist es meiner Meinung nach die Aufgabe der Zeitgeschichte, quellengestützt bei der letzten Tagesschau anzusetzen, um die Gegenwart zu verstehen – und die ist inzwischen „on demand“ und voll von Meldung aus Kurznachrichtendiensten. Dabei ist die gesellschaftliche Relevanz, so verschwommen sie sein mag, unbestreitbar. Umso dringlicher wird also die Historisierung der „sozialen Medien“, das heißt, sie in ihren historischen Kontext einzuordnen und ihren Mythos zu entzaubern. Dabei wartet das Vorhaben mit einer doppelten Herausforderung auf: Erstens, dass es sich bei den Unternehmen der Branche und zweitens auch bei den dort gebildeten Gemeinschaften um recht flüchtige, wandelhaften Gestalten handelt. Scheitern und Wandel ist Teil der „sozialen Medien“ – und sei es nur in der schnellen Abfolge der Moden des „nächsten großen Dings“. Dementsprechend versucht dieser Beitrag mit einem systematischeren Ansatz als dem der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, die Entwicklung des sozio-digitalen Phänomens „soziale Medien“ in dessen Zeitkontext einzuordnen.

In einem chronologischen Parforceritt schlüssele ich in diesem Beitrag die entscheidenden Wegmarken auf, die die „sozialen Medien“ zu dem machten, was sie heute sind. Anfang der 1990er Jahre war der Boden für eine Verbreitung digitaler Vernetzungstechnologien in fast allen Lebensbereichen und deren Durchdringung bereitet. Hinzu kamen Entwicklungen mobiler Computer- und Kommunikationstechnik, darunter der Laptop in den 1990er und das Smartphone in den 2000er Jahren. „Everything goes“, so die Selbstwahrnehmung der Zeit. Bis etwa 2001 lässt sich die konsequente Kapitalisierung, wie auch die gesellschaftliche Verbreitung der Nutzung von interaktiven, kommunikativen Anwendungen im Web nachverfolgen. Mit dem Platzen der Dotcom-Blase kamen Träume an ihr Ende, nur um mit dem Börsengang von Google 2004 wieder aus der Asche zu steigen. Der Glaube an den sozio-digitale Hype war ungebrochen. Die Jagd nach Gewinnmargen, Reichweite und Einfluss ging weiter, nachdem sich vorgeblich die „Spreu“ vom „Weizen“ getrennt hatte. Dabei setzten sich nicht unbedingt dir Firmen mit den besten sozialen Intentionen durch. Erst verzögert begann auch die gesellschaftliche Aushandlung über diese neue Technologie: Machen die „sozialen Medien“ süchtig, dumm, einsam und oberflächlich? Erlauben sie neue Formen der Emanzipation, beispielsweise für Minderheiten? Oder hat sich die Gesellschaft in ‚Filterblasen‘ gespalten, die zu Entdemokratisierungsprozessen und Parallelgesellschaften führten, wie zuletzt während der Covid19-Krise häufiger diskutiert? Ähnlich wie bei anderen gesellschaftlichen Megathemen, beispielsweise der Gleichstellung, oder wie bei anderen neuen Technologien, beispielsweise der Atomkraft, gab es intensive Aushandlungsprozesse über die Folgewirkungen der „sozialen Medien“. Lassen sich darüber etablierte Machthierarchien durchbrechen oder sind dadurch neue entstanden? Solche Fragen wurden intensiv über das Medium geführt, sowohl über das Medium als Gegenstand als auch via Postings und Debatten auf „Social Media“.

Immer wieder waren es aber nicht die technischen, sondern die gesellschaftlichen Dimensionen, die die Weiterentwicklung der „sozialen Medien“ und der sich um sie herum ausbildenden „Neuen Ökonomie“ bestimmten. Angesichts dieser Kommodifikationstendenzen stellt sich die Frage, wie viel „Gesellschaft“ oder „Individuum“ steckt also in den „sozialen Medien“, und vor allem welche Vorstellungen davon? Wie konnten sie sich seit etwa 2001 derartig schnell verbreiteten und das gesellschaftlich-mediale Gefüge der Gegenwart dermaßen verändern? Und warum horten die „sozialen Medien“ in solch einem Ausmaß die persönlichsten Daten der Menschen und spielen ihnen Unmengen an Werbung aus? Kurz: Es geht weniger um die (historischen) ‚Auswirkungen‘ der „sozialen Medien“, als um deren Entstehung und Entwicklung im Wechselspiel mit der Gesellschaft.

Diese Entwicklungen reichen weit bis in Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. In Hinblick auf eine Kapitalisierung digitaler Computernetzwerke tritt die Zeit nach der Entwicklung des Webs aber besonders hervor. Das begann beim Webrowser selbst, bei dem sich der Großkonzern Microsoft gegen das aufstrebende Unternehmen Netscape durchsetzte; das setzte sich bei der Indexierung des Web fort, anfangs durch Yahoo in Listenform, schließlich ab 1998 durch Google auf Basis sozio-digitaler Verlinkungen algorithmisiert. Aus den Idealen des Web und seiner Nutzer:innen wurden im wahrsten Sinne des Wortes kommerzielle Produkte. Dabei standen anfangs Abo-, Sponsoring- und Kommissionsfinanzierung als Geschäftsmodelle für die jungen Webfirmen gleichberechtigt neben dem Modell Werbung. Der Amateurfunk war mit seiner lokalen Gemeinschaftsbildung über ein technisches Distanzmedium in gewisser Weise stilprägend für die Kultur des Webs gewesen; aber auch die Geschäftsmodell des Web beruhte auf Ansätzen, wie man es aus dem Rundfunk oder dem Privatfernsehen kennt, nämlich ein werbefinanziertes Angebot aufzubauen. Vergemeinschaftung und die sozio-digitale, interaktive Kommunikation waren von Beginn an Teil des Webs, beispielsweise in Form von „Web Logs“, öffentliche Tagebücher im Netz, später als Weblogs geschrieben und als Blogs abgekürzt. Mit der Kommerzialisierung des Webs wurden diese allerdings durch simple technische Lösungen noch einmal massenkompatibler.

Das sozio digitale Upgrade des Kapitalismus (2001 - 2011)

Darauf bauten wiederum webbasierte soziale Netzwerke auf und bildeten Plattformen, die es den Nutzer:innen ermöglichen, ein Profil im Web zu erstellen und mit anderen zu interagieren. Es waren also die Wünsche der Nutzer:innen nach sozialer Interaktion, nicht allein die bessere technische Lösung in Form von Smartphone oder Plattform, die die Entwicklung der „sozialen Medien“ vorantrieben. Inzwischen verbringen insbesondere jüngere Nutzer:innen, aber auch zunehmend die älteren Generationen einen größeren Teil ihres Soziallebens auf den Plattformen der „sozialen Medien“. Sie sind Grundbestandteil des sozio-digitalen Lebens weiter Teile der Bevölkerung auf dem Planeten geworden.

Deren Geschichte beginnt nicht mit Marc Zuckerberg und Facebook, sondern vielmehr mit Friendster (2002) und MySpace (2003). Beide Angebote waren Vorreiter darin, ihren Nutzer:innen die Möglichkeit zu geben, Profile zu erstellen, selbst erstellte Inhalte wie Fotos oder Videos zu teilen, Nachrichten zu schreiben oder die Webfunktionen zu nutzen, um sich mit anderen zu vernetzen, zu daten, sich zu informieren und vieles mehr; stets umgeben von Werbeeinblendungen und unter Abgreifen von Nutzer:innen-Daten. Beide Firmen erlebten Anfang der 2000er Jahre einen kometenhaften Aufstieg und schienen im Web unantastbar – bis Facebook kam.

Wie inzwischen auch durch Filme und Bücher popularisiert, setzt eine Geschichte Facebooks oft bei Mark Zuckerberg an, der an der Harvard University Facebook in seinem Schlafzimmer gegründet habe. Als interessierter Programmierer habe er zwei Programme geschrieben, eines, um Studierenden die Abstimmung ihrer gemeinsamen Kurswahl zu erleichtern; das andere namens Face Match, um die Attraktivität von Erstsemesterinnen zu bewerten. Zudem arbeitete er bei Friendster und kopierte das dort etablierte Prinzip, anfangs für das Universitätsmilieu. Einfache Kopiermöglichkeit ist ein Charakteristikum des Digitalen und steht insbesondere bei Firmen wie Facebook für deren Anfang und deren weitere Wirtschaftsgeschichte zugleich. Facebook entsprang der US-Campuswelt mit all ihren sozialen Spielregeln. Die Firma konzentrierte sich anfangs vor allem auf Studierende der Ivy League und Schüler:innen als Nutzer:innen – und damit um eine besonders digital-affine Gruppe mit obsessivem Interesse und Zeit für ihr Privatleben. Facebook kannibalisierte gleichsam die akademischen Strukturen durch die Rückbindung an eine universitäre E-Mail-Adresse und damit das Identifikationsverfahren. Erst 2006 öffnete die Firma das Netzwerk für alle Nutzer:innen. Facebook expandierte vor allem international. Im Mai 2012 ging die Firma dann als eine der drei größten Firmen in der Geschichte an die Börse, kaufte Instagram und WhatsApp, um im Bereich der mobilen Kommunikation aufzutrumpfen.

Jack Dorsey (Mitte), Mitbegründer und damaliger CEO von Twitter und dem mobilen Bezahldienst Square, beim Börsengang von Square an der New Yorker Börse am 19. November 2015. (© picture-alliance/dpa, Andrew Gombert)

Der Aufstieg der „sozialen Medien“, hier exemplarisch an Facebooks wirtschaftlichem Aufstieg erzählt, verlief aber keineswegs reibungslos. Gerade die Konflikte und Probleme zeigen die tieferliegenden, historischen Entwicklungen auf. Facebook führte 2006 den News Feed ein, eine Funktion, in der Aktivitäten von Nutzer:innen in chronologisch-algorithmischer Reihenfolge gelistet wurden, von der Änderung des Profilfotos und des Beziehungsstatus hin zum Teilen internationaler Nachrichten. Auch hier übernahm die Firma mal wieder ein zuvor bereits etabliertes Prinzip des Webs: Der RSS-Feed, etwa Ende der 1990er Jahre von der Webfirma „Userland“ entwickelt, bot die Möglichkeiten, Veränderungen an Webseiten chronologisch anzeigen zu lassen. Der NewsFeed wurde zu einem der ersten Fehltritte von Facebook und gleichzeitig exemplarisch für den Umgang der Gesellschaft mit den sozio-digitalen Plattformen und für den Umgang der Firma mit Kritik. Die Nutzer:innen empfanden die Funktion anfangs als befremdlich und stalkeresk. Facebook zog sie nach Kritik erst wieder zurück und entschuldigte sich, führte sie aber mit oberflächlichen Veränderungen erneut ein und wartete schlicht ab, bis sich Nutzer:innen daran gewöhnt hatten. Langfristig schaffte es das Unternehmen so, attraktiv und alternativlos zu werden; schließlich waren alle sozialen Kontakte dort auf der Plattform versammelt. Facebook verstand es gekonnt, die Instinkte der Nutzer:innen anzusprechen, wie die Angst, etwas zu verpassen, die Neugierde oder das Bedürfnis nach positiver sozialer Bestätigung. Als den größten Konkurrenten von Facebook in Hinblick auf Reichweite lässt sich Twitter anführen, auch wenn dessen Nutzerbasis nur ein Drittel derjenigen Facebooks betrug. Der Microblogging-Dienst wurde 2006 von einem Studenten der Missouri University of Science and Technology, Jack Dorsey, gegründet. Es war also nicht nur die Ivy League, aus deren Reihen die ‚genialen Entwickler‘ des Web entsprangen. Twitter entwickelte sich zu einem Surrogat der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, zu einer sozio-digitalen Form des Broadcasting in der Kommunikation mit größeren Gruppen und dem diskreten, komponierten Einblick ins Private – und damit zu einem typischen Dienst des Digitalen Zeitalters. 2011 zeigte sich die Macht der sozialen Medien – oder der westliche Glaube daran, als der „Arabische Frühling“ ausbrach und Twitter angeblich zu einer wichtigen Informationsquelle wurde – auch wenn man heute weiß, dass andere, „ältere“ Technologien und Sozialbeziehungen viel entscheidender für den Ausbruch der Revolten waren.

Gefühle und Macht: Die Durchdringung der Gesellschaft (2011 - heute)

Die Geschichte der „sozialen Medien“ kennt aber nicht nur heroische Männer und Geltungssucht, nicht nur Taten von Börsengewinn und Monopolbildung. Sie ist genauso eine Geschichte von Frauen, Gefühlen und Scheitern, von Gründer:innen und der Liebe der Nutzer:innen. Entgegen manch populärem Narrativ gab es unter den ‚legendären‘ Gründern von Zuckerberg bis Bezos natürlich auch Frauen – in der ersten Reihe und ebenso unter denjenigen, die manche hochtrabende Vision erst wahr werden ließen. 2012 gründete Whitney Wolfe Herd nach ihrem Studium an der Texanischen Southern Methodist University gemeinsam mit drei weiteren Gründern die Online-Datingplattform Tinder. Tinder steht prototypisch für eine beschleunigte Form der Anbahnung sozialer Beziehungen über das Web und App, für ein sozio-digitales Amalgam, für die Gefühls-Transformation in einem geschützten Raum des Ausprobierens und der eigenen Identitätsfindung. Die Entwicklung von Tinder ist einzuordnen in eine lange Linie des „Online“-Datings, und die machte natürlich auch nicht vor den „sozialen Medien“ Halt. Die Soziologin Eva Illouz hat in historischer Perspektive beeindruckend aufgezeigt, wie menschliche Emotionen im Zuge der Etablierung der „sozialen Medien“ konsequent in die Geschäftsmodelle vieler Firmen eingewoben wurden – eine Erklärung vielleicht, warum es den Menschen so schwerfiel, auf sie zu verzichten. Weiterhin beschreibt Illouz am Beispiel Tinder, wie auf der Plattform soziale Beziehungen zu einem zu konsumierenden Gut, einer techno-emotionalen Ware gemacht wurden. Daraus zog Firmen in Form von Daten und Werbefläche Profit, die Prosumenten waren neben einem kommodifizeriten sozialen Austausch und der Abhängigkeit von der Plattform aber tendenziell mit marktförmigen Subjektivierungen konfrontiert, hinter denen das emanzipative Potential zurückstand. Festzuhalten ist nichtsdestotrotz die enorme ‚Marktmacht‘ von Firmen wie Tinder oder Bumble, die im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts zu ganz normalen Plätzen der romantischen wie begierdehaften Vergemeinschaftung wurden. Gesellschaftliche Subjektivierung und digital-ökonomische Entwicklungen standen in Wechselwirkung.

„One more Thing“

Viel Kapital, wenig sozial – was war passiert mit den Idealen des Web? Die Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitalen Technologien bei lascher Regulierungspraxis und der Verführung der Massen durch scheinbar kostenfreie Angebote führte nur partiell zu einer Dezentralisierung oder Demokratisierung ökonomischer oder politischer Macht, sondern vielmehr zu einer Konzentration in Form von Oligopolen um Google, Amazon, Facebook und Apple. Offensichtlich wird: Das Versprechen der „sozialen Medien“, die Gatekeeper der Macht wie Verlage oder Regierungen auszuschalten und ihre Nutzer:innen zu emanzipieren, erfüllte sich nur in einem bedingten Maße. Die „sozialen Medien“ starteten mit einem Utopieüberschuss. Es herrschte der Traum vor von der Kommunikation kleiner Gruppen, die in der neuen Technik die Möglichkeiten für freie, emanzipative Kommunikation fanden. Ein wichtiger Bestandteil dieser ersten Schritte waren radikale Deregulierungsvorstellungen, die Jahre später dazu beitrugen, die „sozialen Medien“ zu digitalen Märkten als Oligopole zu formen. Wenige Konzerne schufen sich über die Jahre eigene Märkte. Das Ausmaß dieser neuen Märkte kennt scheinbar keine Grenzen und erstreckt sich heute bis in die privatesten Sphären unseres Zusammenlebens. Diese sozio-digitalen Medien brachten ganz neue Wünsche, und Bedürfnisse aber auch emanzipative Ausdrucksformen emotionaler Kommunikation hervor. Darum begeisterten sich die Nutzer:innen früh für soziale Formen digitaler Medialität, bspw. in lokalen Gemeinschaften oder dem Amateurfunk, und konnten später umso schlechter von ihnen lassen. Nutzergruppen erfüllten in den „sozialen Medien“ ihre Bedürfnisse, woran sich Unternehmen und die technischen Lösungen orientieren mussten.

Am 15. Januar 2007 präsentiert Steve Jobs, Geschäftsführer von Apple, Softwareupdates für das kürzlich erschienene iPhone und den iPod auf der jährlich stattfindenden MacWorld Expo in San Francisco (USA). (© picture-alliance/dpa, Keystone USA w49)

Der Entwickler und Marketingstratege Steve Jobs, Sohn des syrischen Politikstudenten Abdulfattah Jandali und damit ein kleines Beispiel für die noch weiter zu untersuchende Rolle der Migration im Digitalen Zeitalter, beendete zahlreiche seiner Präsentationen neuer Produkte mit einem viel erwarteten Cliffhanger: „One more thing“ („Eine Sache noch...“). Das iPhone war so ein geschickt präsentiertes Ding, das Hoffnung weckte. Diese Hoffnung durchzieht auch die Geschichte der „sozialen Medien“ auf das nächste große Ding, technisch, sozial, sozio-digital. Es lässt sich schließen, dass auf dieser Hoffnung und Marketinglogik aufbauende Periodisierungen des Webs in Versionen, Web 1.0 (1989-2005), Web 2.0 (2005-2010) und Web 3.0 (Zukunftsvision), dazu das Web3 (Zukunftsvision), kaum für eine ernsthafte Historisierung trägt. Der Begriff Web 1.0 wurde für das Web Tim Berners-Lees erkoren, weil es dezentralisiert, aber statisch gewesen sei. Beim Web 2.0 habe die partizipative Beteiligung der Nutzer am Web, deren kollaborative Interaktion und transparente Prozesse bei der Generierung weiteren Zusatznutzens im Vordergrund gestanden – und mit ihr die sie ermöglichenden Technologien. Beim Web 3.0 schließlich ging es um das semantische Web, also die Vernetzung von Wissensinhalten in computerlesbarer Form. Web3 sei davon zu unterscheiden, da es ein Web auf Basis der Verschlüssungstechnik BlockChain beschreibe, das neben den Möglichkeiten des „lesenden“ und „schreibenden“ Zugriffs der Vorgängerversion eine dezentralen Authentifizierung erlaube. Web3 trägt also bereits die Kritik an Zentralisierung des Web 2.0 in sich und verspräche, dieses Problem durch Datensicherheit, Datenschutz und Skalierbarkeit in der Blockchain zu lösen. Nach Beginn des Hypes um künstliche Intelligenz kam schließlich noch die Bezeichnung des Web 4.0 auf, des smarten Webs, das das vorherige Verständnis von Web 4.0 im Sinne der Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge gleichsam überschrieb. Die Technikhistorikerinnen Martina Heßler und Nora Thorade haben gerade an jenem Begriff der Industrie 4.0 deutlich gemacht, wie solche Bezeichnungen der Vorstellung einer linearen Geschichtsentwicklung anheimfallen, grundsätzlich teleologisch, also auf ein Ziel namens Fortschritt Digitalisierung gerichtet erscheinen. Und so schließen sie, es sei „aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive [...] mehr als erstaunlich, dass der Begriff Industrie 4.0 geradezu kühn sämtliche geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse zur Geschichte der Industrialisierung, zum Revolutionsbegriff sowie zu Fortschrittsvorstellungen ignoriert“. Viel Arbeit ist also noch zu tun, auch in der Geschichte des Webs und der „sozialen Medien“, wozu dieser Artikel einen Aufschlag bietet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu und zur Definition des Begriffs „Soziale Medien“ den ersten Text in diesem Dossier, Interner Link: „Die Vorgeschichte der „sozialen Medien“: Über Träume digitaler Vergemeinschaftung und freier Kommunikation“.

  2. Siehe auch Interner Link: Text zu den Technikmythen in diesem Dossier. Weiterführend: Luke Fernandez und Susan J. Matt, Bored, Lonely, Angry, Stupid: Changing Feelings About Technology, from the Telegraph to Twitter. (Cambridge: Harvard University Press, 2019).

  3. Anders als es Campbell-Kelly et al. argumentieren: Martin Campbell-Kelly u. a., Computer: A History of the Information Machine, 4. Aufl. (New York: Routledge, 2023), 319–335. Nichtsdestotrotz bauen einige der folgenden Passage auf ihrer Arbeit auf, nur die Interpretation ist eine andere.

  4. Während Yahoo die wichtigsten Ergebnisse zu einem Thema handverlesen auflistete, untersuchte Google die Zahl der Verweise auf eine Seite, um deren Relevanz zu bestimmen – neben weiteren Kriterien wie der Begriffshäufigkeit eines Suchbegriffes auf der Seite uvm.

  5. Weiterhin wäre dieses recht US-zentrische Modell erneut auf europäische oder asiatische Vorläufer zu prüfen, um eine allzu lineare Geschichte von den US-Universitäten in die ganze Welt zu durchbrechen und sinnvoll auszudifferenzieren.

  6. Johannes Paßmann u. a., „Formular und digitaler Paratext. Geschichte des Facebook-Accountnamens“, in Das Formular, hrsg. von Peter Plener, Niels Werber und Burkhardt Wolf, 307–324 (Berlin/Heidelberg: Springer, 2021).

  7. Michael Homberg, „Computerliebe. Die Anfänge der elektronischen Partnervermittlung in den USA und in Westeuropa“, Zeithistorische Forschungen 17/1 (2020): 36–62.

  8. Eva Illouz (Hrsg.), Emotions as Commodities: Capitalism, Consumption and Authenticity. (London: Routledge, 2018).

  9. Martina Heßler und Nora Thorade, „Die Vierteilung der Vergangenheit. Eine Kritik des Begriffs Industrie 4.0“, Technikgeschichte 86/2 (2019): 153–170, 154.

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Martin Schmitt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Historischen Institut der Universität Paderborn. Seine Forschungsinteressen reichen von der europäischen Zeitgeschichte über Fragen der Digitalisierung und Computervernetzung bis hin zur Umweltgeschichte. Nach Stationen in Tübingen, Madrid, Cambridge, Potsdam und Darmstadt hat er nun eine unbefristete Stelle für Digital History, die sich mit der kritischen Reflexion der Digitalgeschichte und dem Einsatz von datengetriebenen Ansätzen in der historischen Forschung beschäftigt. Zuletzt erschien von ihm "Die Digitalisierung der Kreditwirtschaft. Computereinsatz in den Sparkassen der Bundesrepublik und der DDR 1957-1991". Für seine Arbeiten zur Digitalgeschichte Ost- und Westdeutschlands wurde er mehrfach ausgezeichnet.