Eine der vielen Leerstellen in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes ist die Bedeutung des Antisemitismus. Damit ist zum einen die Ideologie der Neonazis angesprochen, für die der Antisemitismus und entsprechende Bezüge auf den Nationalsozialismus zentrale Momente darstellen. Die Leerstelle Antisemitismus zeigt sich zudem im staatlichen und gesellschaftlichen Umgang, namentlich in mangelhafter Ermittlungsarbeit und in der Medienberichterstattung, in denen dem Antisemitismus kaum Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Insbesondere geht es aber, wenn von einer Leerstelle die Rede ist, um die Einordnung der Taten im Kontext der postnationalsozialistischen Geschichte und Gegenwart. Rechter, antisemitischer und rassistischer Terror weist eine Kontinuität seit 1945 auf, und die Ausblendung der ideologischen Tathintergründe ist ihrerseits ein Aspekt dieser Kontinuität.
Im Folgenden möchte ich in diesem Sinne die Bedeutung des Antisemitismus als gesellschaftlicher Ermöglichungsbedingung des NSU verdeutlichen
Der Beitrag erläutert zunächst die Rolle der antisemitischen Ideologie im Weltbild des NSU anhand von konkreten Taten und ihren Bezügen auf den Nationalsozialismus. In einem zweiten Schritt geht es um Kontinuitäten zwischen Antisemitismus, Nationalsozialismus und Rechtsterrorismus sowie deren Leugnung. Dafür wird der NSU-Komplex in einen Zusammenhang mit anderen rechtsterroristischen Taten gestellt. Zuletzt wird gezeigt, wie Betroffene neonazistischer Gewalt seit jeher um Aufklärung und Gerechtigkeit kämpfen. Nicht selten führen Betroffene von rassistischer und antisemitischer Gewalt diesen Kampf gemeinsam, indem sie die Verbindung von Rassismus und Antisemitismus in der Ideologie der Neonazis deutlich machen.
Die antisemitischen Taten des NSU und ihre Bedeutung für das neonazistische Weltbild
Das sogenannte NSU-Kerntrio radikalisierte sich in den 1990er Jahren, den sogenannten Baseballschlägerjahren,
Bereits in der Selbstbezeichnung des NSU findet sich ein expliziter Bezug auf den Nationalsozialismus – und damit implizit auf den Antisemitismus, der im Zentrum der NS-Ideologie steht. Diese Ideologie spielt für das sogenannte Kerntrio und dessen Umfeld eine zentrale Rolle, trägt in den 1990er Jahren zu seiner Radikalisierung bei und wird auch in antisemitischen Taten zum Ausdruck gebracht. Das lässt sich an einer Reihe bekannter Taten des NSU und seines Umfelds verdeutlichen.
So wurde 1995 in Jena an einer Fernwärmeleitung eine Puppe entdeckt, die mit einem gelben Stern markiert war. Diese Tat wird dem Umfeld des NSU-Kerntrios zugerechnet. Eine ähnliche Puppe mit der Aufschrift „Jude“ wurde 1996 auf einer Autobahnbrücke über der A4 an einem Strick aufgehängt und mit zwei Bombenattrappen versehen.
1998 wurde in Beate Zschäpes Garage ein selbstentworfenes, an Monopoly angelehntes Spiel namens „Pogromly“ gefunden, bei dem das Ziel war, Städte „judenrein“ zu machen und möglichst viele Juden ins Vernichtungslager zu bringen. Der NSU verkaufte nach seinem Umzug nach Chemnitz, wo er in den Untergrund ging, solche Spiele innerhalb der Neonaziszene, um sich zu finanzieren.
Die Journalistin Heike Kleffner bezeichnet die „offensive[n] Bezugnahmen auf den nationalsozialistischen Völkermord“ durch die „Neonazis der ‚Generation Terror‘ der 1990er Jahre“ als „programmatisch“. Auch der „mörderische Rassismus des NSU“ nehme direkten Bezug auf die „Wahnvorstellung einer ‚arischen Volksgemeinschaft‘ und ‚weißen Vorherrschaft‘“.
Doch der Antisemitismus des NSU erschöpfte sich nicht in symbolischen Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus. Im Mai 2000, ein halbes Jahr vor dem ersten Mord des NSU an Enver Şimşek am 11. September, soll Beate Zschäpe von einem Sicherheitsmann erkannt worden sein, wie sie gemeinsam mit zwei Männern die Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg ausspähte.
Während im „mündlichen Urteil des OLG München […] das Ausspähen der Synagoge in der Rykestraße mit keiner Silbe erwähnt“ wird, so die Journalistin Heike Kleffner,
Nach der Selbstenttarnung im November 2011 fand man auf Festplatten von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe „Feindlisten“, die die zentrale Rolle des Antisemitismus für ihr Weltbild und Handeln bestätigen: Neben „linken“ politischen Gegnern, türkischen Vereinen, Moscheen, Kirchen, Parteien und Gemeindezentren fand man auch eine Liste mit 233 jüdischen Einrichtungen. Entgegen der Aussage Zschäpes im Prozess, sie habe die Synagoge Rykestraße nicht gekannt, findet sich deren Adresse nach Auskunft des BKA ebenfalls auf der Liste und muss den Neonazis somit bekannt gewesen sein.
Morddrohungen gegen öffentlich sichtbare jüdische Vertreter:innen wie (im oben erwähnten Fall) gegen Ignatz Bubis oder in anderer Form gegen Michel Friedman gab es regelmäßig aus dem Umfeld des NSU.
Die Taten und Feindeslisten machen deutlich, dass der NSU auch jüdische Ziele im Auge hatte. Warum der NSU (soweit bekannt) keine Juden:Jüdinnen ermordete, ist Gegenstand von Spekulationen. Ein Grund ist möglicherweise, dass viele jüdische Einrichtungen unter Polizeischutz stehen, so auch die Synagoge Rykestraße, und jüdisches Leben selten in der Öffentlichkeit stattfindet. Im Unterschied dazu waren neun der zehn bekannten Mordopfer des NSU als Kleinunternehmer Teil der alltäglichen Öffentlichkeit und insofern ohne besonderen Schutz. Viele von ihnen waren Nachkommen der sogenannten Gastarbeiter:innengeneration und hatten es geschafft, als sichtbarer Teil der Gesellschaft ihre Geschäfte aufzubauen. Diese Erfolgsgeschichten und die zunehmende Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit der Migrationsgesellschaft widersprachen dem Weltbild der Neonazis und wurden deshalb von ihnen angegriffen.
Leugnung von Kontinuitäten
International und national demonstrierten andere Rechtsterroristen die Bedeutung des Antisemitismus und die Bezugnahme auf den Nationalsozialismus öffentlich in Wort und Tat. Anders Breivik (2011), Brenton Tarrant (Christchurch 2019), Stephan Balliet (Halle 2019) oder Tobias Rathjen (Hanau 2020) sind in ihrem Weltbild und Tatmotiv durch die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung und die Ideologie der „white supremacy“ miteinander verbunden. Sie beziehen sich in ihren Bekennerschreiben auf die Taten und das Weltbild anderer Rechtsterrorist:innen. Antisemitische Symbole, Pamphlete und Liedtexte spielen eine zentrale Rolle in neonazistischen Lebenswelten, dienen als ideologischer Kitt der Szene und sind Vehikel der (terroristischen) Radikalisierung,
Auch die Verbindung zwischen Antisemitismus und Rassismus im Weltbild der Täter:innen und in den Taten wird in der Deutung immer wieder getrennt. Im NSU-Prozess etwa wurden die antisemitischen Taten, das Pogromly-Spiel genauso wie die Ausspähung der Synagoge, nur auf Drängen der Nebenkläger:innen thematisiert,
Bei dem rechtsterroristischen Anschlag von Halle dagegen waren es die Überlebenden selbst, die darauf insistierten, dass der Anschlag von Halle antisemitisch, rassistisch und misogyn war, wie das Bekennerschreiben des Täters und der Tatablauf selbst nahelegen: Vor der Synagoge erschoss der Täter die Passantin Jana L. Als er beim Versuch, die Synagoge zu stürmen, erfolglos blieb, suchte er gezielt den „Kiez-Döner“ auf, erschoss dort Kevin S. und versuchte aus rassistischen Motiven İsmet und Rafik Tekin anzugreifen, um dann Aftax Ibrahim mit dem Auto anzufahren. Im Prozess
Die Auflösung des Zusammenhangs von Antisemitismus und Rassismus in der juristischen und zum Teil in der politischen Deutung der Taten steht in einer Kontinuität mit dem Umgang mit dem Nationalsozialismus: Der Antisemitismus im Selbstbild der demokratischen Bundesrepublik sollte ein Teil der Vergangenheit sein, nicht der Gegenwart. Die Kontinuität eines rechtsterroristischen Antisemitismus verweist darauf, dass Antisemitismus im neonazistischen Spektrum ebenso wie gesamtgesellschaftlich Teil der Gegenwart ist.
Eine Diskursstrategie, die diesen Zusammenhang verschleiert, wird in Debatten um Antisemitismus bei ‚Anderen‘, vor allem Geflüchteten aus arabischen Ländern sichtbar.
In der Folge des sogenannten Sommers der Migration 2015 zeigte sich dies zum Beispiel, als darüber diskutiert wurde, ob insbesondere Geflüchtete aus arabischen Ländern Antisemitismus nach Deutschland importieren könnten.
Im Rechtsterrorismus zeigt sich die Kontinuität und Aktualisierung nationalsozialistischer Ideologie in Form von extremer antisemitischer und rassistischer Gewalt konkret. Demgegenüber wurde die „Existenz rechtsterroristischer Strukturen […] in den 1990er und 2000er Jahren in den öffentlichen Berichten der Inlandsgeheimdienste regelmäßig verneint“.
Die juristische Aufarbeitung des NSU steht in vielerlei Hinsicht in einer Kontinuität der postnationalsozialistischen Strafverfolgungspraxis gegenüber rechten Täter:innen.
Wie schwerfällig die Anerkennung eines rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Tatmotivs nach wie vor erfolgt, zeigen die Recherchen der Amadeu-Antonio-Stiftung zu Todesopfern rechter Gewalt: Diese zählt seit 1990 mindestens 220 Todesopfer rechter Gewalt sowie 17 weitere Verdachtsfälle.
Die Bedeutung des Antisemitismus sowie die Verbindung zum Nationalsozialismus für den Rechtsterrorismus wurde auch unter Antirassist:innen und Antifaschist:innen tendenziell unterschätzt. Mit dem Anschlag von Halle wurde sie sehr deutlich. In Halle zeigte sich, wie antisemitische Täter unzureichenden Polizeischutz nutzen, um Juden:Jüdinnen anzugreifen. Im Jahr 2020 veröffentlichte der Jurist und Journalist Ronen Steinke eine systematische Aufarbeitung des „Terrors gegen Juden“. Daraus wird deutlich sichtbar, dass Juden:Jüdinnen seit 1945 kontinuierlich zum Ziel rechtsterroristischer Taten geworden sind; der Angriff auf die Synagoge von Halle war kein Einzelfall.
Solidarität und Bündnisse
Immer wieder weisen Betroffene, Hinterbliebene und zivilgesellschaftliche Gruppen, die solidarisch um Gerechtigkeit kämpfen, auf die Zusammenhänge und Leerstellen hin. Ihre Kritik wird von manchen staatlichen Akteuren und Politiker:innen delegitimiert.
Dem stehen die zivilgesellschaftliche Aufarbeitung und der Kampf um Gerechtigkeit gegenüber. Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex hat Betroffene, Aktivist:innen, Journalist:innen, politische Bildner:innen und Wissenschaftler:innen zusammengeführt, die die Frage nach der Kontinuität rechtsextremer Gewalt ernst nehmen. In ganz Deutschland sind lokale Initiativen entstanden, die sich in Solidarität mit den Opfern und Angehörigen mit rechtsterroristischen Mordanschlägen befassen, Gedenkorte erkämpfen und Gerechtigkeit fordern.
Die gemeinsame Bemühung um Aufklärung, Gerechtigkeit und Gedenken hat Verbindungen zwischen Betroffenen unterschiedlichster Herkunft, Religionen und Generationen ermöglicht, die auch quer zu aktuellen politischen Polarisierungen fortbestehen. Die Betroffenen teilen Erfahrungen der Empathielosigkeit seitens des Staates und von Teilen der Gesellschaft und machen auf die historischen Kontinuitäten genauso aufmerksam wie auf das politische Klima, in dem Menschen mit Migrationsgeschichte kriminalisiert werden, während rechte Tathintergründe relativiert werden.
Die Solidarität zwischen den Überlebenden rechtsterroristischer Terroranschläge baut auf der Arbeit auf, die für die „Möllner Rede im Exil“ oder während des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ geleistet wurde. Die Möllner Rede im Exil findet jährlich in solidarischer Zusammenarbeit in unterschiedlichen Städten zum Gedenken an den neonazistischen Anschlag von Mölln im Jahr 1992 statt. Nachdem die Stadt den Überlebenden und Hinterbliebenen ein würdevolles und selbstbestimmtes Gedenken verweigert hatte, ging die Gedenkveranstaltung „ins Exil“ und ist seitdem ein Ort der Solidarität und Empathie verschiedener Betroffener geworden – jenseits staatlich hergestellter Hierarchisierung von Betroffenen.
Das Wissen darum, dass die juristische Aufarbeitung die gesellschaftliche und historische Dimension der Taten ausspart, dass Betroffene um die Anerkennung als Opfer kämpfen und Gedenkorte selbst schaffen müssen, wird weitergegeben. İsmet Tekin hat die folgenden Worte für den Zusammenhalt gefunden: „Ich habe meine Kraft durch euch gesammelt.“