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Antisemitismus im NSU-Komplex | Der NSU-Komplex | bpb.de

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Antisemitismus im NSU-Komplex

Hannah Peaceman

/ 15 Minuten zu lesen

Der Antisemitismus ist eine der vielen Leerstellen im NSU-Komplex. Welche Bedeutung hat er im Weltbild des NSU und welche Kontinuitäten bestehen zwischen Nationalsozialismus und Rechtsterrorismus?

Das antisemitische, den Nationalsozialismus verherrlichende Spiel ist eine Nachbildung des Spiele-Klassikers Monopoly. Es wurde von den NSU-Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt entworfen, produziert und in rechten Kreisen vertrieben. Das antisemitische Spiel wurde im Rahmen der Ausstellung "Die Stadt ohne" des NS-Dokumentationszentrums München gezeigt. Das Exponat wurde vom Verfassungsschutz Thüringen zur Verfügung gestellt. (© NS-Dokumentationszentrum München, Connolly Weber Photography)

Eine der vielen Leerstellen in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes ist die Bedeutung des Antisemitismus. Damit ist zum einen die Ideologie der Neonazis angesprochen, für die der Antisemitismus und entsprechende Bezüge auf den Nationalsozialismus zentrale Momente darstellen. Die Leerstelle Antisemitismus zeigt sich zudem im staatlichen und gesellschaftlichen Umgang, namentlich in mangelhafter Ermittlungsarbeit und in der Medienberichterstattung, in denen dem Antisemitismus kaum Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Insbesondere geht es aber, wenn von einer Leerstelle die Rede ist, um die Einordnung der Taten im Kontext der postnationalsozialistischen Geschichte und Gegenwart. Rechter, antisemitischer und rassistischer Terror weist eine Kontinuität seit 1945 auf, und die Ausblendung der ideologischen Tathintergründe ist ihrerseits ein Aspekt dieser Kontinuität.

Im Folgenden möchte ich in diesem Sinne die Bedeutung des Antisemitismus als gesellschaftlicher Ermöglichungsbedingung des NSU verdeutlichen und die Kontinuität von rechtsterroristischen Taten wie auch der Gegenwehr hervorheben.

Der Beitrag erläutert zunächst die Rolle der antisemitischen Ideologie im Weltbild des NSU anhand von konkreten Taten und ihren Bezügen auf den Nationalsozialismus. In einem zweiten Schritt geht es um Kontinuitäten zwischen Antisemitismus, Nationalsozialismus und Rechtsterrorismus sowie deren Leugnung. Dafür wird der NSU-Komplex in einen Zusammenhang mit anderen rechtsterroristischen Taten gestellt. Zuletzt wird gezeigt, wie Betroffene neonazistischer Gewalt seit jeher um Aufklärung und Gerechtigkeit kämpfen. Nicht selten führen Betroffene von rassistischer und antisemitischer Gewalt diesen Kampf gemeinsam, indem sie die Verbindung von Rassismus und Antisemitismus in der Ideologie der Neonazis deutlich machen.

Die antisemitischen Taten des NSU und ihre Bedeutung für das neonazistische Weltbild

Das sogenannte NSU-Kerntrio radikalisierte sich in den 1990er Jahren, den sogenannten Baseballschlägerjahren, in Jena und Umgebung, flankiert von einer nationalistischen Welle nach der deutschen Vereinigung, die sich unter anderem in den rassistischen Anschlägen auf Geflüchtetenunterkünfte und der Verschärfung des Asylrechts zeigte und insbesondere von Jüd:innen, Migrant:innen und anderen marginalisierten Bevölkerungsgruppen als gewaltvoll erlebt wurde. In dieser Zeit wurden neonazistische Strukturen auf- und ausgebaut, so zum Beispiel der sogenannte Thüringer Heimatschutz oder die Kameradschaft Jena, die beide in enger Verbindung mit dem Blood&Honour-Netzwerk standen. Schmähungen gegen Migrant:innen und Juden:Jüdinnen sind auf Partys, bei Veranstaltungen zur NS-Verherrlichung innerhalb der Szene wie auch bei tätlichen Angriffen im öffentlichen Raum an der Tagesordnung.

Bereits in der Selbstbezeichnung des NSU findet sich ein expliziter Bezug auf den Nationalsozialismus – und damit implizit auf den Antisemitismus, der im Zentrum der NS-Ideologie steht. Diese Ideologie spielt für das sogenannte Kerntrio und dessen Umfeld eine zentrale Rolle, trägt in den 1990er Jahren zu seiner Radikalisierung bei und wird auch in antisemitischen Taten zum Ausdruck gebracht. Das lässt sich an einer Reihe bekannter Taten des NSU und seines Umfelds verdeutlichen.

So wurde 1995 in Jena an einer Fernwärmeleitung eine Puppe entdeckt, die mit einem gelben Stern markiert war. Diese Tat wird dem Umfeld des NSU-Kerntrios zugerechnet. Eine ähnliche Puppe mit der Aufschrift „Jude“ wurde 1996 auf einer Autobahnbrücke über der A4 an einem Strick aufgehängt und mit zwei Bombenattrappen versehen. Am nächsten Tag sollte Ignatz Bubis, der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, unter dieser Brücke durchfahren, um die KZ-Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar zu besuchen. Insofern kann das Aufhängen der Puppe als eine direkte Drohung gegen Ignatz Bubis verstanden werden. Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos marschierten zudem 1996 in SA-ähnlichen Uniformen durch diese Gedenkstätte. Thüringer Neonazis suchten zu dieser Zeit regelmäßig die KZ-Gedenkstätte Buchenwald auf, um dort zu provozieren, Mahnmale zu schänden und Gedenkveranstaltungen zu stören.

1998 wurde in Beate Zschäpes Garage ein selbstentworfenes, an Monopoly angelehntes Spiel namens „Pogromly“ gefunden, bei dem das Ziel war, Städte „judenrein“ zu machen und möglichst viele Juden ins Vernichtungslager zu bringen. Der NSU verkaufte nach seinem Umzug nach Chemnitz, wo er in den Untergrund ging, solche Spiele innerhalb der Neonaziszene, um sich zu finanzieren.

Die Journalistin Heike Kleffner bezeichnet die „offensive[n] Bezugnahmen auf den nationalsozialistischen Völkermord“ durch die „Neonazis der ‚Generation Terror‘ der 1990er Jahre“ als „programmatisch“. Auch der „mörderische Rassismus des NSU“ nehme direkten Bezug auf die „Wahnvorstellung einer ‚arischen Volksgemeinschaft‘ und ‚weißen Vorherrschaft‘“.

Doch der Antisemitismus des NSU erschöpfte sich nicht in symbolischen Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus. Im Mai 2000, ein halbes Jahr vor dem ersten Mord des NSU an Enver Şimşek am 11. September, soll Beate Zschäpe von einem Sicherheitsmann erkannt worden sein, wie sie gemeinsam mit zwei Männern die Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg ausspähte. Die Synagoge Rykestraße gehört zu den größten Synagogen Europas und gilt als Symbol jüdischen Lebens. Zwischen 1998 und 2002 wurden außerdem drei Sprengstoffattentate auf einem jüdischen Friedhof an der Heerstraße in Berlin-Charlottenburg verübt, die nie aufgeklärt wurden, so etwa am Grab des ehemaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, sowie an der Trauerhalle. Damit häufen sich antisemitische Taten, die sich gegen Symbole und Menschen richten, die die (jüdische) Gegenwart prägen.

Während im „mündlichen Urteil des OLG München […] das Ausspähen der Synagoge in der Rykestraße mit keiner Silbe erwähnt“ wird, so die Journalistin Heike Kleffner, wird der Antisemitismus in der Urteilsbegründung zweimal erwähnt. Unter anderem wird an dieser Stelle auch das „Pogromly“-Spiel thematisiert. Letztlich konnte, so die Oberstaatsanwältin Greger, ein Nachweis über die Anwesenheit Zschäpes bei den Ausspähungen nicht erbracht werden. Allerdings bleibt auch festzuhalten, dass die Strafverfolgungsbehörden und Verfassungsschutzämter Hinweisen wie dem des Sicherheitsmanns an der Synagoge Rykestraße im September 2000 nicht nachhaltig nachgingen, obwohl dieser angab, sich nach dem Fahndungsaufruf zu Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt einen Tag nach der beobachteten Ausspähung beim LKA gemeldet zu haben, weil er sie erkannt hatte.

Nach der Selbstenttarnung im November 2011 fand man auf Festplatten von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe „Feindlisten“, die die zentrale Rolle des Antisemitismus für ihr Weltbild und Handeln bestätigen: Neben „linken“ politischen Gegnern, türkischen Vereinen, Moscheen, Kirchen, Parteien und Gemeindezentren fand man auch eine Liste mit 233 jüdischen Einrichtungen. Entgegen der Aussage Zschäpes im Prozess, sie habe die Synagoge Rykestraße nicht gekannt, findet sich deren Adresse nach Auskunft des BKA ebenfalls auf der Liste und muss den Neonazis somit bekannt gewesen sein.

Morddrohungen gegen öffentlich sichtbare jüdische Vertreter:innen wie (im oben erwähnten Fall) gegen Ignatz Bubis oder in anderer Form gegen Michel Friedman gab es regelmäßig aus dem Umfeld des NSU.

Die Taten und Feindeslisten machen deutlich, dass der NSU auch jüdische Ziele im Auge hatte. Warum der NSU (soweit bekannt) keine Juden:Jüdinnen ermordete, ist Gegenstand von Spekulationen. Ein Grund ist möglicherweise, dass viele jüdische Einrichtungen unter Polizeischutz stehen, so auch die Synagoge Rykestraße, und jüdisches Leben selten in der Öffentlichkeit stattfindet. Im Unterschied dazu waren neun der zehn bekannten Mordopfer des NSU als Kleinunternehmer Teil der alltäglichen Öffentlichkeit und insofern ohne besonderen Schutz. Viele von ihnen waren Nachkommen der sogenannten Gastarbeiter:innengeneration und hatten es geschafft, als sichtbarer Teil der Gesellschaft ihre Geschäfte aufzubauen. Diese Erfolgsgeschichten und die zunehmende Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit der Migrationsgesellschaft widersprachen dem Weltbild der Neonazis und wurden deshalb von ihnen angegriffen.

Leugnung von Kontinuitäten

International und national demonstrierten andere Rechtsterroristen die Bedeutung des Antisemitismus und die Bezugnahme auf den Nationalsozialismus öffentlich in Wort und Tat. Anders Breivik (2011), Brenton Tarrant (Christchurch 2019), Stephan Balliet (Halle 2019) oder Tobias Rathjen (Hanau 2020) sind in ihrem Weltbild und Tatmotiv durch die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung und die Ideologie der „white supremacy“ miteinander verbunden. Sie beziehen sich in ihren Bekennerschreiben auf die Taten und das Weltbild anderer Rechtsterrorist:innen. Antisemitische Symbole, Pamphlete und Liedtexte spielen eine zentrale Rolle in neonazistischen Lebenswelten, dienen als ideologischer Kitt der Szene und sind Vehikel der (terroristischen) Radikalisierung, die sich schließlich in Gewalttaten widerspiegelt. Insofern diese Verbindungen in der juristischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mitunter ausgeblendet werden, verschwimmt die Sicht auf die Kontinuität von Weltbild und terroristischem Handeln.

Auch die Verbindung zwischen Antisemitismus und Rassismus im Weltbild der Täter:innen und in den Taten wird in der Deutung immer wieder getrennt. Im NSU-Prozess etwa wurden die antisemitischen Taten, das Pogromly-Spiel genauso wie die Ausspähung der Synagoge, nur auf Drängen der Nebenkläger:innen thematisiert, obwohl die Bezüge auf den Nationalsozialismus offensichtlich und die antisemitischen Taten bekannt waren.

Bei dem rechtsterroristischen Anschlag von Halle dagegen waren es die Überlebenden selbst, die darauf insistierten, dass der Anschlag von Halle antisemitisch, rassistisch und misogyn war, wie das Bekennerschreiben des Täters und der Tatablauf selbst nahelegen: Vor der Synagoge erschoss der Täter die Passantin Jana L. Als er beim Versuch, die Synagoge zu stürmen, erfolglos blieb, suchte er gezielt den „Kiez-Döner“ auf, erschoss dort Kevin S. und versuchte aus rassistischen Motiven İsmet und Rafik Tekin anzugreifen, um dann Aftax Ibrahim mit dem Auto anzufahren. Im Prozess wurden İsmet und Rafik Tekin sowie Aftax Ibrahim insoweit nicht als Opfer anerkannt, als das Gericht die Taten nicht als rassistische Mordversuche wertete. Diese Nichtanerkennung des rassistischen Mordmotivs und die Nichtberücksichtigung der rassistischen Mordversuche im Urteil gegen den Täter hat zur Folge, dass die Betroffenen, da sie nicht als Opfer einer terroristischen Tat anerkannt werden, keine Entschädigungszahlungen erhalten. Den „Fehleinschätzungen und öffentlichen Dethematisierungen“ setzten sich die Betroffenen gemeinsam entgegen: durch Solidarität, Vernetzung und Bündnisarbeit, die die Kontinuitäten und Verbindungen sichtbar machen.

Die Auflösung des Zusammenhangs von Antisemitismus und Rassismus in der juristischen und zum Teil in der politischen Deutung der Taten steht in einer Kontinuität mit dem Umgang mit dem Nationalsozialismus: Der Antisemitismus im Selbstbild der demokratischen Bundesrepublik sollte ein Teil der Vergangenheit sein, nicht der Gegenwart. Die Kontinuität eines rechtsterroristischen Antisemitismus verweist darauf, dass Antisemitismus im neonazistischen Spektrum ebenso wie gesamtgesellschaftlich Teil der Gegenwart ist.

Eine Diskursstrategie, die diesen Zusammenhang verschleiert, wird in Debatten um Antisemitismus bei ‚Anderen‘, vor allem Geflüchteten aus arabischen Ländern sichtbar.

In der Folge des sogenannten Sommers der Migration 2015 zeigte sich dies zum Beispiel, als darüber diskutiert wurde, ob insbesondere Geflüchtete aus arabischen Ländern Antisemitismus nach Deutschland importieren könnten. Die dahinterliegende Annahme war, dass man in Deutschland aus der Vergangenheit gelernt habe, während die „anderen“ dies noch nachholen müssten und die deutsche Mehrheitsgesellschaft Juden:Jüdinnen nun vor den „anderen“ durch eine Obergrenze bei der Aufnahme von Geflüchteten schützen müsse. Die Betonung eines vermeintlich importierten Antisemitismus lenkt von der kontinuierlichen, migrationsunabhängigen Bedrohung durch Antisemitismus und Rassismus in Deutschland ab. Eine solche Position kann dazu beitragen, die gegenwärtige und zusammenhängende antisemitische und rassistische Bedrohung, die ihren ideologischen Kit in der nationalsozialistischen Ideologie hat, zu verschleiern. Damit einhergehen kann außerdem ein Gegeneinanderausspielen der Betroffenen von Rassismus und Antisemitismus: Unter Verweis auf den je „anderen“ wird der Schutz einer bedrohten Gruppe über den der anderen gestellt. Zugleich wird die rechtsextremistische Bedrohung, die beide Gruppen betrifft, in den Hintergrund gerückt. Denn zur Aufklärung der rechtsextremistischen Bedrohung ist eine gemeinsame Analyse von Antisemitismus und Rassismus notwendig sowie ein gemeinsames Zur-Wehr-setzen erforderlich.

Im Rechtsterrorismus zeigt sich die Kontinuität und Aktualisierung nationalsozialistischer Ideologie in Form von extremer antisemitischer und rassistischer Gewalt konkret. Demgegenüber wurde die „Existenz rechtsterroristischer Strukturen […] in den 1990er und 2000er Jahren in den öffentlichen Berichten der Inlandsgeheimdienste regelmäßig verneint“. Mit der Anerkennung des inhärenten Zusammenhangs der Tatmotive würde auch einhergehen müssen, sich zu fragen, wieso der Rechtsterrorismus von Behörden, Medien und Gesellschaft wie im Falle des NSU ausgeblendet und seine Existenz so lange negiert werden konnte. Eine Anerkennung jener Motive würde nämlich eine Anerkennung von Kontinuität bedeuten; es müssten dann viel tiefgreifendere Untersuchungen darüber angestellt werden, wie Antisemitismus und Rassismus in Behörden, Institutionen und Gesellschaft historisch und gegenwärtig strukturell verankert sind.

Die juristische Aufarbeitung des NSU steht in vielerlei Hinsicht in einer Kontinuität der postnationalsozialistischen Strafverfolgungspraxis gegenüber rechten Täter:innen. Letztendlich wurde nur ein Bruchteil der NS-Täter:innen angeklagt, noch weniger wurden verurteilt, oftmals zu geringfügigen Strafen. Auch im Kontext des NSU wurde nur ein kleiner Teil des Unterstützer:innenkreises überhaupt juristisch ermittelt, während die Vielzahl der Personen, die gebraucht wurden, um Waffen und Geld zu beschaffen und Tatorte zu explorieren, zum Teil nicht einmal namentlich bekannt sind. Zu den Versäumnissen in der Ermittlung gehören unter anderem das nicht aufgearbeitete Schreddern von Akten, der Schutz von V-Männern und Kontaktpersonen wie Andreas Temme sowie die frühe Festlegung auf eine Einzeltäterthese durch die Bundesanwaltschaft im Prozess. Insgesamt hat die Blindheit der Behörden gegenüber rechten Terrornetzwerken in den 1990er und 2000er Jahren zum Misslingen einer umfassenden Aufklärung maßgeblich beigetragen.

Wie schwerfällig die Anerkennung eines rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Tatmotivs nach wie vor erfolgt, zeigen die Recherchen der Amadeu-Antonio-Stiftung zu Todesopfern rechter Gewalt: Diese zählt seit 1990 mindestens 220 Todesopfer rechter Gewalt sowie 17 weitere Verdachtsfälle. Dahingehen gibt das Bundeskriminalamt (BKA) an, dass im Zeitraum von 1990-2023 115 Menschen durch rechte Gewalt ums Leben gekommen seien.

Die Bedeutung des Antisemitismus sowie die Verbindung zum Nationalsozialismus für den Rechtsterrorismus wurde auch unter Antirassist:innen und Antifaschist:innen tendenziell unterschätzt. Mit dem Anschlag von Halle wurde sie sehr deutlich. In Halle zeigte sich, wie antisemitische Täter unzureichenden Polizeischutz nutzen, um Juden:Jüdinnen anzugreifen. Im Jahr 2020 veröffentlichte der Jurist und Journalist Ronen Steinke eine systematische Aufarbeitung des „Terrors gegen Juden“. Daraus wird deutlich sichtbar, dass Juden:Jüdinnen seit 1945 kontinuierlich zum Ziel rechtsterroristischer Taten geworden sind; der Angriff auf die Synagoge von Halle war kein Einzelfall.

Solidarität und Bündnisse

Immer wieder weisen Betroffene, Hinterbliebene und zivilgesellschaftliche Gruppen, die solidarisch um Gerechtigkeit kämpfen, auf die Zusammenhänge und Leerstellen hin. Ihre Kritik wird von manchen staatlichen Akteuren und Politiker:innen delegitimiert. Zuletzt hat der damalige Kanzlerkandidat Friedrich Merz sich an Protesten gegen den Wahlkampfabschluss von CDU und CSU gestört und wahrheitswidrig in Bezug auf den Mord an Walter Lübcke in Kassel behauptet, es habe seitens der heute protestierenden Zivilgesellschaft damals keine Solidarität mit den Angehörigen von Walter Lübcke gegeben. Diese Behauptung wurde von Familienangehörigen Walter Lübckes zurückgewiesen.

Dem stehen die zivilgesellschaftliche Aufarbeitung und der Kampf um Gerechtigkeit gegenüber. Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex hat Betroffene, Aktivist:innen, Journalist:innen, politische Bildner:innen und Wissenschaftler:innen zusammengeführt, die die Frage nach der Kontinuität rechtsextremer Gewalt ernst nehmen. In ganz Deutschland sind lokale Initiativen entstanden, die sich in Solidarität mit den Opfern und Angehörigen mit rechtsterroristischen Mordanschlägen befassen, Gedenkorte erkämpfen und Gerechtigkeit fordern.

Die gemeinsame Bemühung um Aufklärung, Gerechtigkeit und Gedenken hat Verbindungen zwischen Betroffenen unterschiedlichster Herkunft, Religionen und Generationen ermöglicht, die auch quer zu aktuellen politischen Polarisierungen fortbestehen. Die Betroffenen teilen Erfahrungen der Empathielosigkeit seitens des Staates und von Teilen der Gesellschaft und machen auf die historischen Kontinuitäten genauso aufmerksam wie auf das politische Klima, in dem Menschen mit Migrationsgeschichte kriminalisiert werden, während rechte Tathintergründe relativiert werden.

Die Solidarität zwischen den Überlebenden rechtsterroristischer Terroranschläge baut auf der Arbeit auf, die für die „Möllner Rede im Exil“ oder während des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ geleistet wurde. Die Möllner Rede im Exil findet jährlich in solidarischer Zusammenarbeit in unterschiedlichen Städten zum Gedenken an den neonazistischen Anschlag von Mölln im Jahr 1992 statt. Nachdem die Stadt den Überlebenden und Hinterbliebenen ein würdevolles und selbstbestimmtes Gedenken verweigert hatte, ging die Gedenkveranstaltung „ins Exil“ und ist seitdem ein Ort der Solidarität und Empathie verschiedener Betroffener geworden – jenseits staatlich hergestellter Hierarchisierung von Betroffenen. Auch das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ ist ein Beispiel dafür, wie Kämpfe gegen rechten Terror und für eine ‚Gesellschaft der Vielen‘ zusammengeführt werden können. Daraus sind Netzwerke entstanden, auf deren Wissen und deren Praxen nach Anschlägen wie in Halle und Hanau aufgebaut werden konnte.

Das Wissen darum, dass die juristische Aufarbeitung die gesellschaftliche und historische Dimension der Taten ausspart, dass Betroffene um die Anerkennung als Opfer kämpfen und Gedenkorte selbst schaffen müssen, wird weitergegeben. İsmet Tekin hat die folgenden Worte für den Zusammenhalt gefunden: „Ich habe meine Kraft durch euch gesammelt.“ Diese praktische Solidarität beruht auch darauf, die Zusammenhänge von Antisemitismus, Rassismus und Nationalsozialismus als zentrale ideologische Momente der Neonazis zu begreifen und dem ein alternatives gesellschaftliches Selbstverständnis entgegenzustellen, wie es die Überlebende des Anschlags auf die Synagoge in Halle, Naomi Henkel-Gümbel, beschreibt: „Was treibt einen dazu, gegen den Widerwillen von Institutionen und der breiten Gesellschaft für Aufklärung zu streiten? […] unabhängig davon, was uns genau antreibt, ob Wut, Verantwortung, Bewältigung oder alles drei. Eines haben wir gemeinsam: Wir haben uns dem nicht gebeugt. Wir sind nicht in die Unsichtbarkeit gegangen. Wir – wir sind die radikale Vielfalt an sich: Das Schöne. Das Andere. Das Sichtbare. Das Mögliche.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. als erste intensivere Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus im NSU-Komplex: Hannah Peaceman/Lea Wohl von Haselberg, „Wir müssen uns hier und jeden Tag von Neuem bemühen, die Ängste, die wir in uns tragen, zu übermitteln, um die Ketten des Schweigens zu zerbrechen“, in: Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart 2/2017, S. 90–104.

  2. Heike Kleffner, Kontinuitäten von Rechtsterrorismus. Die Baseballschlägerjahre und der Terror von Heute, in: Micha Brumlik et al. (Hrsg.), Nachhalle, Berlin 2023, S. 14–47.

  3. Vgl. Micha Brumlik et al. (Hrsg.): Schwerpunkt Ver|un|einigung, Berlin 2019.

  4. Heike Kleffner, (K)Eine gespaltene Wahrnehmung: Antisemitismus und der NSU, 18.09.2018, NSU-Watch.info, Externer Link: www.nsu-watch.info (abgerufen am 14. 4. 2025).

  5. Vgl. für eine Chronologie der antisemitischen Taten: Stefan Aust/Dirk Laabs, Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, München 2014, S. 145 ff.

  6. Vgl. zum Beispiel Reinhart Schramm: „Es ist in den jüdischen Köpfen eine komplizierte Situation gewesen …“, in: Micha Brumlik et al. (Hrsg.), Schwerpunkt Ver|un|einigung, Berlin 2019, S. 51–58.

  7. Kleffner (Anm. 4).

  8. Nebenklage NSU-Prozess, Prozessbericht aus Sicht der Nebenklage im Prozess gegen Verantwortliche des „Nationalsozialistischen Untergrund“, 26.10.2016, Externer Link: www.nsu-nebenklage.de (abgerufen am 12. 5. 2025).

  9. Kleffner (Anm. 4).

  10. Einmal in Buch II: Beweiswürdigung, Abschnitt III: Vorgeschichte im Rahmen der Vernehmung eines Zeugen, der drei Säulen des Rechtsradikalismus beschreibt: „‚Antisemitismus‘, ‚Ausländerfeindlichkeit‘ und ‚Stolz‘ auf das Dritte Reich“, sowie einmal ebenfalls in Buch II, Abschnitt IV: Sachverhalt mit Bezug auf eine Diskette, auf der „Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus plakativ beschrieben“ werden. Vgl. Urteil des Oberlandesgerichts München gegen die Angeklagten des NSU: Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten S., Externer Link: fragdenstaat.de (abgerufen am 12. 5. 2025), S. 472 und S. 475.

  11. Nebenklage NSU-Prozess: Prozessbericht aus Sicht der Nebenklage im Prozess gegen Verantwortliche des „Nationalsozialistischen Untergrund“, 26.07.2017 – Protokoll. Plädoyer der Bundesanwaltschaft 2. Tag: vollständige Mitschrift, Externer Link: www.nsu-nebenklage.de (abgerufen am 29. 4. 2025).

  12. Nebenklage NSU-Prozess: Prozessbericht aus Sicht der Nebenklage im Prozess gegen Verantwortliche des „Nationalsozialistischen Untergrund“, 26.10.2016, Externer Link: www.nsu-nebenklage.de (abgerufen am 29. 4. 2025).

  13. 233 jüdische Einrichtungen in NSU-Adresslisten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 31. 1. 2017, Externer Link: www.faz.net (abgerufen am 30. 4. 2025).

  14. Vgl. hierzu u.a. Naomi Henkel-Gümbel/Rachel Spicker, „Ich habe meine Kraft durch euch gesammelt.“ Solidarität und Allianzen nach Halle, in: Micha Brumlik (Hrsg.), Nachhalle, Berlin 2023, S. 148–164, hier S. 154 f.

  15. Vgl. etwa zu den 1990er und frühen 2000er Jahren: Heike Kleffner/Anna Spangenberg (Hrsg.), Generation Hoyerswerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg, Berlin 2016

  16. Kleffner (Anm. 4).

  17. Der Verein democ e.V. beobachtete und dokumentierte den Prozess am Oberlandesgericht Naumburg, Externer Link: democ.de (abgerufen am 15. 4. 2025).

  18. Protokoll des 26. Verhandlungstag (21. Dezember 2020) in der Hauptverhandlung gegen Stephan B. vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Naumburg, Externer Link: democ.de (abgerufen am 29. 4. 2025).

  19. Henkel-Gümbel/Spicker (Anm. 14), S. 153.

  20. Vgl. ebd., S. 152 ff.

  21. Vgl. Sina Arnold, Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft, 20. 8. 2024, Externer Link: www.bpb.de (abgerufen am 6. 5. 2025).

  22. Die Debatte um eine Obergrenze bei der Aufnahme von Geflüchteten wurde 2015 maßgeblich von der CSU angefacht. Aber auch der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, ging mit einer solchen Forderung in die Öffentlichkeit. Siehe zum Beispiel Externer Link: www.dw.com (abgerufen am 6. 5. 2025). Dagegen gab es nicht nur innerhalb der jüdischen Community deutliche Proteste.

  23. Fabian Virchow, Nicht nur der NSU. Eine kleine Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland, Landeszentrale für politische Bildung, Erfurt 2020, S. 6.

  24. Siehe zum Umgang mit rechtsterroristischen Tätern, insbesondere der Kaprizierung auf Einzeltäter: Darius Muschiol, Einzeltäter? Rechtsterroristische Akteure in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2024.

  25. Siehe für eine umfassende Recherche: Bundesweites Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ (Hrsg.), Tribunale. NSU-Komplex auflösen, Berlin 2021.

  26. Amadeu-Antonio-Stiftung: Todesopfer rechter Gewalt [wird aktualisiert], Externer Link: www.amadeu-antonio-stiftung.de (abgerufen am 14. 4. 2025).

  27. Vgl. Nastassja von der Weiden, mdr Aktuell vom 26.8.2024, Externer Link: www.mdr.de (abgerufen am 14.5.2025).

  28. Vgl. Ronen Steinke, Terror gegen Juden, München 2020.

  29. Es gibt auch einige sehr engagierte Politiker:innen, die sich in den NSU-Untersuchungsausschüssen für eine umfassende Aufarbeitung eingesetzt haben. Dazu gehören zum Beispiel Katharina König (seit 2009 Landtagsabgeordnete in Thüringen), Dorothea Marx (ehemalige Bundestagsabgeordnete und Landtagsabgeordnete in Thüringen), Irene Mihalic (Bundestagsabgeordnete) oder Clemens Binninger (ehemaliger Bundestagsabgeordneter).

  30. Familie von Walter Lübcke kritisiert CDU-Chef Friedrich Merz, hessenschau vom 27. 2. 2025, Externer Link: www.hessenschau.de (abgerufen am 15. 4. 2025).

  31. Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992, Externer Link: gedenkenmoelln1992.wordpress.com (abgerufen am 29. 4. 25).

  32. Weitere Informationen zum Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ finden sich unter: Externer Link: www.nsu-tribunal.de (abgerufen am 29. 4. 2025).

  33. Vgl. İsmet Tekin auf der Abschlusskundgebung zur Urteilsverkündung im Halle-Prozess am 21. 12. 2020 in: Initiative 9. Oktober Halle, Solidarität mit den Betroffenen – Keine Bühne dem Täter. Urteilsverkündung im Halle-Prozess, YouTube, 21. 12. 2020, Externer Link: www.youtube.com (abgerufen am 15. 4. 2025).

  34. Naomi Henkel-Gümbel/Newroz Duman, Möllner Rede im Exil. Kampnagel, 18. 4. 2021, Externer Link: www.youtube.com (abgerufen am 15. 4. 2025).

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Dr. Hannah Peaceman ist Geschäftsführerin des DFG-Projekts „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in der klassischen Deutschen Philosophie?“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie ist Mitherausgeberin der Buchreihe „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ und publiziert u.A. zu postmigrantischen Erinnerungskulturen, jüdischen Gegenwarten und zum Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus.