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Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft

Sina Arnold

/ 12 Minuten zu lesen

Wenn von Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft die Rede ist, sind oft junge Menschen mit arabischem Migrationshintergrund gemeint. Dabei gerät durch eine solche Verengung die gesamtgesellschaftliche Dimension aus dem Blick. Entscheidend ist: Antisemitismus muss entgegengetreten werden, egal von wem er mit welcher Motivation ausgeht.

Laut einer Forsa-Umfrage (2017) weiß mehr als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Schüler/-innen in Deutschland nicht, was "Auschwitz-Birkenau" ist. (Hier zu sehen: Schüler/-innen bei einem Besuch der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald.) (© picture-alliance/dpa, Michael Reichel)

Seien es die "Ruhrpolen" im 19. Jahrhundert, die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg, oder südosteuropäische Arbeitsmigranten in den 1950er bis 1970er Jahren – Interner Link: Zuwanderung nach Deutschland ist kein neues Phänomen. Und auch Auswanderung – Millionen gingen in die USA im 19. Jahrhundert, mehrere Hunderttausend verlassen auch heute noch jährlich das Land – gehört zur Realität einer deutschen Gesellschaft, die seit langem von Migration geprägt ist. Doch erst seit Anfang des 21. Jahrhunderts setzt sich in Politik und Öffentlichkeit langsam die Auffassung durch, dass die deutsche Gesellschaft tatsächlich eine "Interner Link: Migrationsgesellschaft" ist. Jede vierte Person in Deutschland hat laut Statistischem Bundesamt bereits einen Interner Link: Migrationshintergrund, sie selber oder mindestens ein Elternteil besaß also bei Geburt nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung hat eine Person mit Migrationserfahrung im erweiterten Familienkreis. Angesichts dessen fällt es zunehmend schwer, mithilfe der Kategorie des Migrationshintergrundes von "uns" und "denen" zu sprechen – denn Migration prägt unser aller Alltag auf unterschiedlichen Ebenen.

Parallel zu dieser Erkenntnis ließ sich seit Anfang des Jahrtausends ein zweites Phänomen beobachten: In Debatten um einen sogenannten "Neuen Antisemitismus" wurde die Frage aufgeworfen, ob Judenfeindschaft in Deutschland mittlerweile vor allem ein Problem bei Menschen mit Migrationshintergrund sei. Hierbei standen besonders junge arabisch-muslimische Männer im Fokus. Ein Beispiel war die mediale Berichterstattung nach der Ankunft von fast 900.000 Geflüchteter 2015, in deren Zusammenhang ein "importierter Antisemitismus" befürchtet wurde.

Tatsächlich hatte es in den letzten Jahren zahlreiche antisemitische Vorfälle gegeben, bei denen die Täter einen arabischen und/oder muslimischen Hintergrund hatten. Dazu gehörten tätliche Angriffe im öffentlichen Raum, wie etwa in Berlin 2012 auf den Rabbi Daniel Alter oder auf einen Kippa tragenden Mann, der 2018 mit einem Gürtel geschlagen wurde. Dazu gehörten aber auch der antisemitische Antizionismus auf politischen Kundgebungen, wie etwa zum al-Quds-Tag oder nach der Ankündigung Donald Trumps 2017, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen. Protestierende setzten hier Israelfahnen in Brand.

So erschreckend diese Vorfälle auch sind: Empirisch lässt sich die Vorstellung, dass es sich beim Antisemitismus primär um ein Importprodukt handelt, nicht halten. Das zeigen sowohl die Einstellungsforschung als auch die Kriminalitätsstatistiken – zwei mögliche Indikatoren zur Messung des Ausmaßes von Antisemitismus in einer Gesellschaft.

Antisemitische Einstellungen und Straftaten

In repräsentativen Meinungsumfragen der letzten Jahre stimmten etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung klassisch antisemitischen Aussagen zu. Bis zu einem Drittel stimmt mit sogenannten sekundärantisemitischen Aussagen überein, in denen sich Erinnerungs- und Schuldabwehr in Bezug auf den Holocaust ausdrücken. Dazu gehört etwa der Satz "Die Juden nutzen die Erinnerung an den Holocaust heute für ihren eigenen Vorteil aus". Die Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitismus findet sich bei über einem Fünftel der Bevölkerung.

2019 wurden 2032 antisemitische Straftaten registriert. Bei 93,4 Prozent geht die Polizei von rechtsextrem motivierten Täter*innen aus – die in der großen Mehrheit keinen Migrationshintergrund haben. Dabei existiert eine Dunkelziffer, denn bei weitem nicht alle antisemitischen Vorfälle werden zur Anzeige gebracht, und auch die Interner Link: Zuordnung zum politischen Hintergrund muss nicht immer zutreffend sein. Dennoch geben diese Zahlen zumindest einen Hinweis darauf, dass einerseits ein gesamtgesellschaftliches Problem mit Antisemitismus besteht, andererseits von rechts weiterhin eine große Bedrohung für jüdisches Leben ausgeht. Vor diesem Hintergrund externalisiert die Vorstellung vom "importierten Antisemitismus" dieses Problem, und lässt die mit der Geschichte Deutschlands zusammenhängende Judenfeindschaft als der Vergangenheit angehörig erscheinen.

Trotzdem ist es natürlich wichtig, sich die unterschiedlichen antisemitischen Gefährdungslagen vor Augen zu führen, um den jeweiligen Herausforderungen adäquat begegnen zu können. Denn antisemitische Einstellungen sind auch unter Menschen mit Migrationsgeschichte verbreitet. Wie sollte es auch anders sein bei einer Ideologie mit einer langen Geschichte, einer weltweiten Verbreitung und einer – aufgrund ihres welterklärenden Anspruches – hohen Attraktivität. Doch wer ist überhaupt gemeint, wenn es um "migrantischen" Antisemitismus geht?

Wer ist hier "Migrant"?

Mehr als ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland – beziehungsweise mindestens ein Elternteil von ihnen – stammt aus einem der EU-Mitgliedstaaten und ein weiteres Drittel aus einem anderen europäischen Staat. In der medialen Debatte über "Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft" wird der Fokus jedoch häufig auf Menschen mit Migrationshintergrund aus mehrheitlich muslimischen Ländern, vor allem arabische Länder und die Türkei, gelegt. Entsprechend oft ist die Rede von einem "islamischen", "muslimischen" oder "arabischen" Antisemitismus. Aufgrund dieser Verengung geraten andere zentrale Herkunftsländer – etwa Polen, Russland oder Kasachstan – aus dem Blick.

Überdies zeigen sich in den öffentlichen wie akademischen Debatten große Klassifikationsschwierigkeiten, insofern als Termini wie "Migranten", "Ausländer", "Araber", "Muslime" durcheinandergeworfen werden. Doch über welche Menschen und welches Phänomen sprechen wir eigentlich? Nur weil jemand aus einem mehrheitlich muslimischen Land geflohen ist, bedeutet das etwa nicht, dass diese Person auch Muslim*in ist. Geht es auch um Deutsche, die zum Islam konvertiert sind, oder nur um Eingewanderte? Sind es auch deren Nachkommen, und bis zu welcher Generation? Und wenn man bedenkt, dass Muslim*innen aus Indonesien, Indien oder Nigeria in den aktuellen Debatten selten problematisiert werden, es also scheinbar um ein arabisches Phänomen geht, stellen sich klassifikatorische Folgefragen: Was ist mit den nicht-arabischen Minderheiten in arabischen Ländern oder arabischen Christ*innen? Derlei Fragen müssen bedacht werden beim Thematisieren von Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft.

Empirische Studienergebnisse: In den Herkunftsländern...

Die Empirie weist inmitten dieser Fragen weiterhin Forschungslücken auf. Die meisten Studien betrachten zum Themenkomplex "Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft" Muslim*innen oder Menschen mit arabischem Migrationshintergrund. Zum Verständnis der Einstellungen, die etwa Geflüchtete in ihrem ideologischen Gepäck mitbringen – denn bei ihnen kann angenommen werden, dass sich Haltungen nicht bis zu ihrer Ankunft signifikant geändert haben –, lohnt dabei ein Blick in die Herkunftsländer. In der Region Mittlerer Osten und Nord-Afrika (MENA) hielten in einer 2014 weltweit durchgeführten Umfrage der amerikanischen Bürgerrechtsorganisation "Anti-Defamation League" drei Viertel der Befragten mindestens sechs von elf abgefragten negativen Stereotype über Jüdinnen und Juden für "wahrscheinlich wahr" – im Vergleich zu einem weltweiten Durchschnitt von 26 Prozent. So gaben dort etwa 75 Prozent an, dass sie "Juden hassen, aufgrund der Art wie Juden sich eben benehmen".

Welche dieser Einstellungen dann tatsächlich auch "im Gepäck" der Neuankommenden verbleiben, ist eine andere Frage. Nichtrepräsentative Studien zu den Einstellungen Geflüchteter 2015/2016 haben gezeigt, dass antisemitische Einstellungen in der Tat unter Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan verbreitet waren. Viele Befragte dachten, dass Jüdinnen und Juden reich und mächtig seien, vertraten eine unbedingte und absolute Ablehnung Israels oder relativierten das Ausmaß des Holocaust. Gleichzeitig wollten viele auch mehr über die Geschichte des Holocaust oder Israels wissen. Und einige berichteten von Veränderungen ihrer Sichtweisen durch die Flucht, da sie nach Ankunft in Deutschland mit anderen Haltungen oder Erinnerungskulturen konfrontiert waren, oder da sich das von Projektionen aufgeladene Feindbild "Israel" an der Realität des Krieges und seiner Akteure hatte messen müssen. Und für manche waren diese Themen schlichtweg egal, Jüdinnen und Juden eben "ganz normale Leute". Mit Blick auf die Ergebnisse dieser Studien zeigt sich nicht nur eine Vielfalt an Einstellungen, es lässt sich zudem von einem spezifisch "muslimischem Antisemitismus" nur schwer sprechen. Diese Bezeichnung mag zutreffen, wenn Koranstellen, Hadithe oder die islamische Identität zur Begründung von Judenfeindschaft herangezogen werden. Ganz augenscheinlich ist das beim Interner Link: Islamismus, für den der Antisemitismus vergleichbar dem Rechtsextremismus einen festen und notwendigen Bestandteil darstellt. In vielen anderen Fällen ist aber der ethnisierte Bezug auf ein "Arabersein", befördert durch einen antisemitisch aufgeladenen Interner Link: arabischen Nationalismus, eine ebenso wichtige Einflussquelle.

...und in Deutschland

Kenntnisse über die Herkunftsländer können Hinweise zum Verständnis von Neueingewanderten geben. Tatsächlich sind bei Migrant*innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft die Zustimmungswerte zum "klassischen" Antisemitismus höher als unter deutschen Staatsbürger*innen, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, wie etwa die "Mitte"-Studie 2012 zeigen konnte. Beim sekundären Antisemitismus hingegen sind sie wesentlich niedriger. Anders ist dies bei (jungen) Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Hier sind die Zustimmungswerte bei Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund ähnlich hoch. Die Autoren der Studie gehen davon aus, dass "der Wert bei den Befragten mit deutscher Staatsbürgerschaft eher durch die Kommunikationslatenz des Antisemitismus modifiziert wird, als dies bei der Vergleichsgruppe der Fall ist." Das heißt: Menschen, die in Deutschland geboren wurden oder schon länger hier leben, wissen, dass man Antisemitismus nicht offen ausdrücken sollte. Sie nutzen Formen von Umwegkommunikation, anstatt sich offen gegen Jüdinnen und Juden zu äußern.

Dieselbe Studie zeigte 2012 auch bei Muslim*innen – von denen nicht alle, aber die meisten einen Migrationshintergrund haben – höhere Zustimmungswerte zum klassischen und niedrigere zum sekundären Antisemitismus. Gleichzeitig wiesen empirische Studien bei Personen mit Migrationshintergrund aus mehrheitlich muslimischen Ländern große Unterschiede auf entlang von Faktoren wie dem Grad der Religiosität, den Herkunftsregionen der Eltern, oder Bildung. So ist etwa die Zustimmung zu klassisch antisemitischen Aussagen höher bei denjenigen, die einer fundamentalistischen Auslegung des Islam folgen. Auch zeigten Jugendliche aus arabischen Ländern mehr Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitismus als diejenigen aus der Türkei oder anderen muslimisch geprägten Ländern.

Verschränkungen und Umgangsweisen

Diese Unterschiede innerhalb vermeintlich homogener Gruppen – etwa "der Muslime" – zeigten sich auch in Hinblick auf die Frage, mit welcher Motivation, Intention und auf welche Art Antisemitismus artikuliert wird. Sie verweisen auf ein weiteres zentrales Merkmal einer Migrationsgesellschaft: Nicht nur Antisemitismus, auch Rassismus, etwa gegen (vermeintliche) Muslim*innen, gehört in ihr zum Alltag. So stimmte 2018 fast die Hälfte aller Deutschen der Aussage "Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden" zu.

Nun wird niemand Antisemitin, weil sie Rassismus erlebt hat. Eine derartige Kausalität existiert nicht. Dennoch kann das Wissen über die Mechanismen und Wirkungsweisen von Rassismus in Deutschland auch zu einem Verstehen – im Sinne von "Begreifen", nicht von "Verständnis-Üben" – von Antisemitismus unter marginalisierten Gruppen beitragen. Wenn etwa hier aufgewachsene Jugendliche im Alltag das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie trotz deutschem Pass kein selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft sind, oder wenn ihre Geschichte(n) im Schulunterricht durch Lehrer*innen wenig berücksichtigt werden, dann bieten sich andere Identitäten als scheinbar attraktive Alternative an: als "Araber", "Palästinenser" oder "Muslim" etwa. Das kann zu einer undifferenzierten Identifikation mit den Palästinenser*innen als muslimische Opfer von Unterdrückung im Nahostkonflikt beitragen, die wiederum Israel- und Judenhass befördern kann. Dieser Antisemitismus dient der Provokation, Selbstethnisierung und Identitätsstabilisierung – was ihn nicht weniger gefährlich macht. Oder wenn Geflüchtete ihre realen lebensweltlichen Erfahrungen – etwas mit dem Nachbarstaat Israel – aus den Herkunftsländern mit nach Deutschland bringen; oder ihr Mangel an Wissen über den Holocaust – über den es in ihren Herkunftsländern keine ernsthafte Vermittlung in der Schule gab – im deutschen Kontext als Relativierung verstanden wird.

Wie auch immer die jeweiligen Hintergrundbedingungen aussehen mögen, klar ist: Antisemitismus muss entgegengetreten werden, egal von wem er mit welcher Motivation ausgeht. Dies nicht zu tun, weil jemand einer Minderheit angehört, wäre paternalistisch und würde das Problem nicht lösen. Unterschiedliche Motive erfordern aber unterschiedliche Vorgehensweisen in Bildungsarbeit und Politik. Dem Schuldabwehrantisemitismus eines deutschen Rechtspopulisten muss möglicherweise mit anderen Argumentationsformen begegnet werden als dem antizionistischen Antisemitismus eines gerade eingewanderten Syrers. Eine 80-jährige herkunftsdeutsche Christin bezieht ihre Judenfeindschaft womöglich aus anderen Quellen als ein konvertierter Islamist.

Aber eine vorschnelle Kategorisierung von Menschen ist dafür wenig hilfreich. Denn gemein ist allen Ausdrucksformen, dass sie in der deutschen Gesellschaft stattfinden. Diejenigen, von denen medial oft die Rede ist – junge Menschen mit arabischem Migrationshintergrund – sind zumeist in Deutschland geboren oder aufgewachsen. Zwar sind sie auch geprägt von Einflüssen aus ihren Familien, sozialen Medien oder dem Satellitenfernsehen, doch fand ihre Schul- und Ausbildung in der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihren Institutionen statt. Das Wissen über den historischen und die Sensibilisierung für den gegenwärtigen Antisemitismus scheinen allgemein im schulischen Kontext nicht hinreichend vermittelt zu werden: So weiß mehr als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Schüler*innen in Deutschland nicht, was "Auschwitz-Birkenau" ist. Vor diesem Hintergrund hieße ein "postmigrantisches" Selbstverständnis, alle Ausdrucksformen von Antisemitismus in Deutschland als "unsere" zu begreifen. Die spannendere und zielführendere Frage wäre dann nicht "Wer?", sondern "Was?". Es ginge weniger um Herkunft, sondern eher um Haltungen – also um Positionen einer Person und der Frage, wie diesen begegnet werden kann. Die vielfältigen Hintergründe von Menschen und ihre Erfahrungen von Migration, Flucht und Rassismus dabei dennoch mit zu berücksichtigen, kann zur Diversifizierung der Strategien gegen Antisemitismus beitragen.

Weitere Inhalte

Dr. phil. Sina Arnold ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und forscht u.a. zu Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft und unter Geflüchteten.