Interner Link: Seit langem ist die deutsche Gesellschaft von Migration geprägt. Die Auswanderer:innen in die Vereinigten Staaten von Amerika um die Wende zum 19. Jahrhundert, die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg , die sogenannten „Interner Link: Gastarbeiter“ in den 1950er bis 1970er Jahren – sie sind nur einige historische Beispiele für die Tatsache, dass die Geschichte Deutschlands stets auch von Ein- und Auswanderung geprägt war. Doch erst seit Anfang des Jahrtausends setzte sich in Politik und Öffentlichkeit zunehmend das Selbstverständnis durch, tatsächlich ein Einwanderungsland und damit eine „Interner Link: Migrationsgesellschaft“ zu sein. Heute hat fast jede dritte Person in Deutschland einen Interner Link: Migrationshintergrund; sie selber oder mindestens ein Elternteil besaß also bei Geburt nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Längst kann nicht mehr von „uns“ und „denen“ gesprochen werden, denn Migration prägt unser aller Alltag. Das gilt nicht nur für politische Debatten, sondern auch für Kultur, Essen oder Sport – so hatten bei der Herren-Fußball-EM 2024 mehr als 35 Prozent der deutschen Nationalelf eine familiäre Migrationsgeschichte, eine für Spieler und Fans gelebte Normalität.
Parallel zu diesem veränderten Selbstverständnis lässt sich seit Anfang des Jahrtausends ein zweiter Themenstrang beobachten: In Debatten um einen sogenannten „Neuen Antisemitismus“ wurde die Frage aufgeworfen, ob sich Judenfeindschaft in Deutschland zunehmend oder sogar vor allem bei Menschen mit Migrationshintergrund zeigen würde. Besonders junge arabisch-muslimische Männer standen dabei im Fokus. Dies sah man etwa in der medialen Berichterstattung nach der Ankunft von mehr als einer Million Geflüchteter 2015, in deren Zusammenhang ein „importierter Antisemitismus“ befürchtet wurde. Man sah es aber auch an antisemitischen Vorkommnissen, bei denen die Täter:innen einen arabischen oder muslimischen Hintergrund hatten. Dazu gehörten mehrere tätliche Angriffe im öffentlichen Raum, aber auch der antisemitische Antizionismus auf politischen Kundgebungen wie etwa dem al-Quds-Tag oder Demonstrationen gegen Donald Trumps Anerkennung von Jerusalem als Hauptstadt Israels. Und umso mehr sah man es Interner Link: nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, der als „Zäsur“ für jüdische Communities in Deutschland gelten kann und auch hier weitreichende Folgen hatte: Alleine zwischen diesem Tag und dem Jahresende 2023 dokumentierten die Meldestellen des Bundesverband RIAS über 2.700 antisemitische Vorfälle, darunter Angriffe, Bedrohungen und gezielte Sachbeschädigungen. Die Beratungsstelle für antisemitische Gewalt und Diskriminierung OFEK e.V. beobachtete eine Verzwölffachung der Unterstützungsanfragen gegenüber dem Vorjahresdurchschnitt. Juden und Jüdinnen erfuhren seither vermehrt Antisemitismus an Schulen und Hochschulen, in der Nachbarschaft, in öffentlichen Verkehrsmitteln, am Arbeitsplatz oder bei Demonstrationen.
Inmitten dieser Entwicklungen fand sich in medialen und öffentlichen Debatten wiederholt die Behauptung, dass es sich dabei primär um eine Form des „importierten Antisemitismus“ handeln würde, dieser also aus dem Ausland oder von Ausländer:innen nach Deutschland gebracht worden sei. Doch empirisch lässt sich diese Vorstellung in dieser Eindeutigkeit nicht halten, es zeichnet sich vielmehr ein differenzierteres Bild. Das zeigen sowohl die Einstellungsforschung als auch Statistiken von Polizei und Meldestellen, ebenso wie Befragungen jüdischer Betroffener – alles mögliche Indikatoren zur Messung des Ausmaßes von Antisemitismus in einer Gesellschaft.
Ausmaß und Akteure des aktuellen Antisemitismus
In repräsentativen Meinungsumfragen der letzten Jahre stimmten etwa 6 bis 7 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung klassisch antisemitischen Aussagen eindeutig zu, weitere 15 bis 20 Prozent befürworteten sie teils/teils. Über ein Drittel stimmt mit sogenannten sekundärantisemitischen Aussagen überein, in denen sich Interner Link: Erinnerungs- und Schuldabwehr in Bezug auf den Holocaust ausdrücken. Dazu gehört etwa der Satz „Die Juden nutzen die Erinnerung an den Holocaust heute für ihren eigenen Vorteil aus“. Die Zustimmung zu Interner Link: israelbezogenem Antisemitismus findet sich bei bis zu einem Fünftel der Gesamtbevölkerung.
2023 wurden 5.164 antisemitische Straftaten (davon 148 Gewalttaten) registriert, ein massiver Anstieg gegenüber dem Vorjahr (2.641 Straftaten), der vor allem auf die Zeit nach dem 7. Oktober zurückzuführen ist. Dabei existiert – das veranschaulichen die oben genannten Zahlen von RIAS – eine Dunkelziffer, denn bei weitem nicht alle antisemitischen Vorfälle werden zur Anzeige gebracht. Bei fast 60 Prozent der Straftaten geht die Polizei 2023 von rechtsextrem motivierten Täter:innen aus. 2019 hatte der Anschlag auf die Hallenser Synagoge nochmal das stets virulent tödliche Potenzial des Interner Link: rechtsextremen Antisemitismus verdeutlicht. Doch nach dem 7. Oktober wurden mehr Straftaten einer „ausländischen“ oder „religiösen Ideologie“ zugeordnet. RIAS wiederum macht für die Wochen nach dem 7. Oktober unterschiedliche politische Täter-Spektren aus und beobachtet, dass „der antiisraelische Aktivismus – d.h. etwa säkulare palästinensische Gruppen oder Unterstützer:innen antisemitischer Boykottkampagnen wie BDS – das Vorfallgeschehen besonders dominiert“: Knapp jeder fünfte Vorfall wurde zwischen dem 7. Oktober und 9. November 2023 diesem Spektrum zugeordnet (bei insgesamt 994 antisemitischen Vorfällen), bei weiteren 6 Prozent wurde ein islamischer bzw. islamistischer Hintergrund festgestellt; bei über 60 Prozent blieb der politische Hintergrund unbekannt. Jüdische Wahrnehmungen des Problems zeigen mit Blick auf das Täter-Spektrum ein ähnliches Bild: Auf Grundlage von 150 Interviews, die zwischen 2017 und 2020 mit Juden und Jüdinnen in Deutschland geführt wurden, kommen die Mitarbeiter:innen von RIAS zum Ergebnis: „Insgesamt werden antisemitische Akteur_innen aus islamischen oder islamistischen Milieus in einem relevanten Teil der Interviews als Problem wahrgenommen. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie besonders herausgestellt würden. Vielmehr ist islamisch legitimierter Antisemitismus aus Sicht vieler Befragte nur einer von vielen Aspekten der leider alltäglichen und selbstverständlichen Erfahrung mit Antisemitismus in Deutschland.“ Ergebnisse des Forschungsprojekts „Auswirkungen des radikalen Islam auf jüdisches Leben in Deutschland (ArenDt)“ verweisen darauf, dass diejenigen Juden:Jüdinnen, die Belästigung oder körperliche Gewalt erfahren haben, den Täter:innen in den meisten Fällen einen „islamistischen Hintergrund“ zuweisen, gefolgt von „Rechtsradikalen“. Sie unterstreichen auch, dass Juden:Jüdinnen Antisemitismus nicht per se zu einem „muslimischen Problem“ erklären, sondern einen Unterschied zwischen der muslimischen Glaubensgemeinschaft einerseits, und dem politischem Islam als radikalem Teil andererseits machen.
Diese Eindrücke verdeutlichen: Antisemitismus ist in unterschiedlichen Milieus weit verbreitet, auch unter Muslim:innen, und er hat alltägliche Auswirkungen auf Juden und Jüdinnen. Ein alleiniger Fokus auf „importierten Antisemitismus“ läuft Gefahr, Antisemitismus als milieuübergreifendes Problem zu externalisieren und dabei die mit der Geschichte Deutschlands zusammenhängende Judenfeindschaft als der Vergangenheit angehörig zu sehen: Würden „die“ nicht kommen, hätten „wir“ kein Problem. Letztlich kann es hier aber kein Entweder – Oder geben: Denn selbstverständlich sind antisemitische Einstellungen auch unter Menschen mit Migrationsgeschichte verbreitet. Wie sollte es auch anders sein bei einer Ideologie mit einer langen Geschichte, einer weltweiten Verbreitung und einer – aufgrund ihres welterklärenden Anspruches – hohen Attraktivität. Es ist also notwendig, dies auch zu thematisieren. Doch wer ist überhaupt gemeint, wenn es um den „migrantischen“ Antisemitismus geht?
Wer ist hier „Migrant“?
Während etwa ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland Interner Link: aus einem der EU-Mitgliedstaaten und ein weiteres Drittel aus einem anderen europäischen Staat kommen, wird in der öffentlichen Debatte mit „Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft“ meistens ein Fokus auf Menschen mit Migrationshintergrund aus mehrheitlich muslimischen Ländern gelegt, vor allem arabische Länder und die Türkei. Entsprechend ist oft die Rede von einem „islamischen“, „muslimischen“ oder „arabischen“ Antisemitismus. Aufgrund dieser Verengung geraten andere wichtige Herkunftsländer – etwa Polen, die Ukraine oder Rumänien – aus dem Blick. Und Migrant:innen aus den USA, Kanada oder der Schweiz sind sowieso selten gemeint, wenn es um die „Migrationsgesellschaft“ geht.
Überdies zeigen sich in den öffentlichen wie akademischen Debatten große Klassifikationsschwierigkeiten, häufig werden Termini wie „Migranten“, „Ausländer“, „Araber“, „Muslime“ durcheinandergeworfen. Doch über welche Menschen und welches Phänomen sprechen wir eigentlich? Wenn jemand aus einem mehrheitlich muslimischen Land geflohen ist, bedeutet das nicht automatisch, dass diese Person auch Muslim:in ist. Wenn über den Islamismus im Zusammenhang mit Antisemitismus gesprochen wird, geht es auch um Konvertit:innen, oder nur um Eingewanderte? Liegt der Blick auf neu Eingewanderte oder blicken wir auf die Nachkommen, und wenn ja: bis zu welcher Generation? Und wenn man bedenkt, dass Muslim:innen aus Indonesien, Indien oder Nigeria in den aktuellen Debatten selten problematisiert werden, es also um ein arabisches Phänomen geht, stellen sich klassifikatorische Folgefragen: Was ist mit den nicht-arabischen Minderheiten in arabischen Ländern? Derlei Fragen müssen bedacht werden beim Thematisieren von Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft.
Empirische Studienergebnisse: In den Herkunftsländern...
Die Empirie weist inmitten dieser Fragen weiterhin Forschungslücken auf. Zum Verständnis der Einstellungen, die migrierende Menschen – etwa Geflüchtete – in ihrem „ideologischen Gepäck“ mitbringen, lohnt zunächst ein Blick in die Herkunftsländer. Für die Region Mittlerer Osten und Nord-Afrika (MENA) gibt es nur wenige Studien, doch hielten in einer 2014 weltweit durchgeführten Umfrage der Anti-Defamation League drei Viertel der Befragten mindestens sechs von elf abgefragten negativen Stereotypen über Juden:Jüdinnen für „wahrscheinlich wahr“ – im Vergleich zu einem weltweiten Durchschnitt von 26 Prozent. So gaben dort etwa 75 Prozent an, dass sie „Juden hassen, aufgrund der Art wie Juden sich eben benehmen“. Und während weltweit 35 Prozent der Befragten sagen, dass Israels Handlungen einen Einfluss auf ihre Meinung über Juden:Jüdinnen hätten, sind es in der MENA-Region fast zwei Drittel.
Welche dieser Einstellungen dann tatsächlich auch im „Gepäck“ der Neuankommenden verbleiben, ist eine andere Frage. Qualitative Studien zu den Einstellungen Geflüchteter hatten vor einigen Jahren etwa gezeigt, dass antisemitische Einstellungen unter Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan verbreitet waren. Viele Befragte dachten, dass Juden:Jüdinnen reich und mächtig seien, vertraten eine unbedingte Ablehnung Israels oder relativierten das Ausmaß des Holocaust. Gleichzeitig wollten viele mehr über die Geschichte des Holocaust oder Israels wissen, einige berichteten von Veränderungen ihrer Sichtweisen durch die Flucht, und für manche waren diese Themen schlichtweg egal, Juden:Jüdinnen eben „ganz normale Leute“. Deutlich machten die Ergebnisse auch, dass man nicht pauschal von einem „muslimischen“ oder „islamischen Antisemitismus“ sprechen kann. Diese Bezeichnung mag zutreffen, wenn Koranstellen, Hadithe oder die islamische Identität zur Begründung von Judenfeindschaft herangezogen werden. Ganz augenscheinlich ist das beim Interner Link: Islamismus, für den der Antisemitismus einen festen und notwendigen Bestandteil darstellt. In anderen Fällen aber ist der ethnisierte Bezug auf ein „Arabersein“, befördert durch den Interner Link: arabischen Nationalismus, eine wichtigere Einflussquelle, ebenso wie die regionale Herkunft, insbesondere die Nähe zur Interner Link: Konfliktregion Nahost. So sind beispielsweise nicht nur unter Muslim:innen, sondern auch unter Christ:innen in der MENA-Region die Zustimmungswerte zu antisemitischen Aussagen weitaus höher als im weltweiten Vergleich mit anderen Christ:innen.
...und in Deutschland
Kenntnisse über die Herkunftsländer können Hinweise zum Verständnis von Neueingewanderten geben. Tatsächlich sind bei Migrant:innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft die Zustimmungswerte zum „klassischen“ Antisemitismus höher. Beim sekundären Antisemitismus hingegen sind sie bei jenen ohne deutsche Staatsangehörigkeit oft niedriger. Unabhängig von Staatsbürgerschaft finden sich je nach Studie vergleichbare oder leicht erhöhte Zustimmungswerte zu klassischem Antisemitismus bei Menschen mit Migrationshintergrund, und vergleichbare oder leicht verringerte Werte beim sekundären Antisemitismus. Beim israelbezogenen Antisemitismus zeigen sich bei Menschen mit Migrationshintergrund außerhalb der EU höhere Zustimmungswerte, insbesondere aus der Türkei und arabischen Ländern. Bei Herkunftsländern aus der EU, sowie bei Spätaussiedler:innen, sind diese Zustimmungswerte nur geringfügig höher. Und je länger Menschen leben, desto stärker schwinden tendenziell ihre antisemitischen Einstellungen – es gibt einen gewissen „Akkulturationseffekt“.
Mehrere Studien aus den letzten Jahren zeigen auch bei der muslimischen Bevölkerung – von der nicht alle einen Migrationshintergrund haben – höhere Zustimmungswerte zum klassischen sowie israelbezogenen, und vergleichbare oder niedrigere zum sekundären Antisemitismus. Überdies wurde insbesondere in qualitativen Studien herausgearbeitet, dass es unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus mehrheitlich muslimischen Ländern höhere Zustimmungswerte gibt, gleichzeitig aber große Unterschiede entlang von Faktoren wie der Herkunftsregion der Eltern, Grad der Religiosität oder Bildung bestehen. Weitere Einflussfaktoren zu erhöhten oder niedrigeren Zustimmungswerten, auch bei Erwachsenen, sind neben der Staatsangehörigkeit und regionaler Nähe zur Konfliktregion auch Generationenzugehörigkeit, Dauer des Aufenthalts, konservativ-autoritäre Einstellungen sowie Diskriminierungserfahrungen.
Verschränkungen und Umgangsweisen
Der letzte Aspekt verweist auf ein weiteres zentrales Merkmal einer Migrationsgesellschaft: nicht nur Antisemitismus, auch Rassismus – etwa Ablehnung gegen (vermeintliche) Migrant:innen und Muslim:innen – gehört in ihr zum Alltag. 38 Prozent der Bevölkerung stimmte 2022 etwa der Aussage zu: „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“. Nach dem 7. Oktober 2023 hat auch antimuslimischer Rassismus zugenommen. Nun wird niemand Antisemitin, weil sie Rassismus erlebt hat. Eine derartige Kausalität lässt sich empirisch nicht nachweisen. Doch kann das Wissen über die Mechanismen und Wirkungsweisen von Rassismus in Deutschland auch zu einem Verstehen – im Sinne von „Begreifen“, nicht von „Verständnis-Üben“ – von Antisemitismus unter marginalisierten Gruppen beitragen. Wenn etwa hier aufgewachsene Jugendliche beständig das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie trotz deutschem Pass kein selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft sind, oder wenn ihre Geschichte(n) im Schulunterricht weniger berücksichtigt werden, dann bieten sich andere Identitäten als scheinbar attraktivere Alternative an: als „Araber“, „Palästinenser“, „Muslim“ etwa. Das kann zu einer undifferenzierten Identifikation mit den Palästinenser:innen als muslimische Opfer von Unterdrückung im Nahostkonflikt beitragen, welche wiederum Israel- und Judenhass befördern kann. Antisemitismus kann dann auch die Funktion von Provokation, Selbstethnisierung und Identitätsstabilisierung einnehmen – was ihn nicht weniger gefährlich macht. Oder wenn Geflüchtete ihre realen lebensweltlichen Erfahrungen in der Region mit nach Deutschland bringen und Bilder von „Israel“ und „Palästina“ sich auch an der geographisch-politischen Wirklichkeit messen lassen müssen; oder ihr Mangel an Wissen über den Holocaust – über den es keine ernsthafte Vermittlung in der (z. B. syrischen) Schule gab – im deutschen Kontext als Relativierung verstanden wird.
Wie auch immer die jeweiligen Hintergrundbedingungen aussehen mögen, klar ist: Antisemitismus muss entgegengetreten werden, egal von wem er mit welcher Motivation ausgeht. Dies nicht zu tun, weil jemand einer Minderheit angehört, wäre paternalistisch. Unterschiedliche Motivationslagen erfordern jedoch teilweise unterschiedliche Vorgehen in Bildungsarbeit und Politik. Dem Schuldabwehrantisemitismus eines deutschen Neonazis muss möglicherweise mit anderen Argumentationsformen begegnet werden als dem antizionistischen Antisemitismus eines gerade eingewanderten Syrers. Eine 80jährige herkunftsdeutsche Christin bezieht ihre Judenfeindschaft aus anderen Quellen als ein konvertierter Islamist. Aber eine vorschnelle Kategorisierung von Menschen ist dafür wenig hilfreich. Gemein ist allen Ausdrucksformen überdies, dass sie in der deutschen Gesellschaft stattfinden. Diejenigen, von denen medial oft die Rede ist – junge Menschen mit arabischem Migrationshintergrund – sind zumeist deutsche Staatsbürger:innen, die hier in der Regel geboren oder aufgewachsen sind. Zwar können sie auch geprägt sein von Einflüssen aus ihren Familien, sozialen Medien oder dem Satellitenfernsehen, doch fand ihre Schul- und Ausbildung in deutschen Institutionen statt. Gerade nach dem 7. Oktober zeigte sich, dass auch an deutschen Schulen oft nicht genug Kenntnisse über den Nahostkonflikt existieren, ebenso wie es mangelnde Sensibilität für aktuellen Antisemitismus und fehlendes Wissen über den vergangenen gibt: Mehr als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Schüler:innen in Deutschland wusste vor einigen Jahren nicht, was „Auschwitz-Birkenau“ ist, in der MEMO-Jugendstudie 2023 konnte die Hälfte der 16-25-jährigen den Zeitraum der NS-Herrschaft nicht korrekt benennen.
Ein „postmigrantisches“ Selbstverständnis hieße, alle Ausdrucksformen von Antisemitismus in Deutschland als „unsere“ zu begreifen. Die zielführendere Frage wäre dann nicht „Wer?“, sondern „Was?“: Es ginge weniger um Herkunft und mehr um Haltungen – also um die konkreten Positionen einer Person und die Frage, wie diesen begegnet werden kann. Die Heterogenität von Menschen und ihre (Migrations-)Erfahrungen mitzudenken bzw. anzuerkennen, kann dabei zur Diversifizierung der Strategien gegen Antisemitismus beitragen.