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Porträt: Deng Xiaoping | China | bpb.de

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Porträt: Deng Xiaoping

Uli Franz

/ 9 Minuten zu lesen

Nach Maos Tod übernahm Deng Xiaoping die Macht in China. Mit seinen Wirtschaftsreformen leitete er eine radikale Wende in der Politik ein: weg von der zentralistischen Planwirtschaft. Dennoch zielte er niemals auf die Schaffung eines freiheitlichen Staatswesens, auf mehr Demokratie und Liberalismus. Er blieb ein Kommunist chinesischer Prägung.

Der chinesische Politiker und Veteran der kommunistischen Revolution Deng Xiaoping im Januar 1978. (© AP)

Keine Gedenkhalle für seine Leiche, keine Geldnote und kein Souvenir mit seinem Konterfei: Deng Xiaoping lebt nur noch in der Erinnerung. In der Erinnerung älterer Chinesen und jener Ausländer, die mit den Anfängen von Chinas Öffnungspolitik vertraut sind.

Anders als Mao Zedong (1893-1976) sträubte sich Deng Xiaoping stets gegen einen Kult um seine Person, gegen die Idealisierung von Gesagtem und Getanem. Diese Maxime verfolgte er nicht nur während seiner 92 Lebensjahre, sondern auch über seinen Tod hinaus. Er starb am 19. Februar 1997. Der kleingewachsene Mann aus Sichuan, aus der Provinz der feurig-scharfen Küche, stellte sich in die Tradition des deutschen Kommunisten Friedrich Engels und verfügte eine Seebestattung seiner Asche. Versunken im Chinesischen Meer, die sterblichen Überreste von Chinas Erneuerer, dem mehr als eine Milliarde Chinesen unterschiedlich viel verdanken – die einen den großen Wohlstand, die anderen den kleinen.

Pionier der Öffnungspolitik

Der Wohlstand kam über das Land dank der Einführung einer kapitalistischen Marktwirtschaft, die bis heute irreführend "Sozialismus chinesischer Prägung" genannt wird. Das Wirtschaftswachstum stellte sich ein durch eine radikale Wende in der Politik, durch die Abwendung von der zentralistischen Planwirtschaft. Deng Xiaoping initiierte sie im Dezember 1978 auf der dritten Plenartagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (KP) Chinas. Dafür übernahm er alleine die Verantwortung und boxte seinen Willen gegen den Widerstand der Betonkommunisten durch. Dank dieser Wende ging das Jahr 1978 in die neuere Geschichte als Auftakt der "Deng-Ära" ein.

De facto initiierte Deng mit seiner Öffnungspolitik gen Westen die Rettung einer durch und durch maroden Planwirtschaft. Nach einem Jahrzehnt politischer Kampagnen und Machtkämpfe in der Kulturrevolution (1966-76) war der alte Begriff von China als dem "kranken Mann des Ostens" wieder en vogue und zurecht in aller Munde. Wenn dieser "Mann" inzwischen genesen ist und nach drei Jahrzehnten zum Sprung ansetzt, um als "global player" auf dem Weltmarkt mitzuspielen, dann ist diese Umkehrung der Entwicklung Deng Xiaoping zu verdanken, dem Pionier der Öffnungspolitik.

Doch Reichtum und Wohlstand, für Chinesen so wichtig wie ein langes Leben, erzielte und erzielt heute nicht jeder. Für viele Städter und Bauern verschlechterte sich sogar das Leben aufgrund der anhaltenden Inflation. Dazu kommt eine Verknappung der ländlichen Ressourcen, vor allem des Agrarlandes aufgrund fortschreitender Urbanisierung. Zu konstatieren ist: In den Jahren der Wirtschaftsreform von 1978 bis heute sprang die Einkommensschere auf. Das Erbe des Mannes, der den berühmt gewordenen Satz "Egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse" geprägt hat, ist also widersprüchlich. Damals, als er so sprach, im Jahr 1962, lag eine Hungersnot, die mindestens 20 Millionen Chinesen das Leben gekostet hatte, hinter dem Land und der verantwortlichen kommunistischen Partei. Damals erkannte Deng erstmals grundlegend den utopischen Charakter der Mao-Zedong-Ideen. Dank dieser Erkenntnis wurde 1962 der Grundstein für die heutige Entwicklung gelegt. Zumindest bei der klügeren Fraktion der Kommunisten. "Gegenwärtig kommt es darauf an", postulierte Kader Deng, "mehr Getreide zu produzieren. Solange die Erträge steigen, ist auch die private Initiative des Einzelnen erlaubt. Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse", sagte er damals im Plenum. Hätte Deng nicht Mao die Führung überlassen, wären die Verbrechen der Rotgardisten in der Kulturrevolution nicht geschehen, denn nach seiner wegweisenden Plenarrede wurden für kurze Zeit freie Märkte eingeführt, und die Bauern durften einen Teil ihrer Felder wieder selbst bewirtschaften. Aber die Mao-Fraktion eroberte auf fatale Weise die Macht.

Kommunist chinesischer Prägung

Wohlgemerkt, Deng Xiaoping hatte mit seinen Wirtschaftsreformen stets Stabilität und Einheit im Auge. Niemals zielte er auf die Schaffung eines freiheitlichen und individualistisch geprägten Staatswesens, auf mehr Demokratie und Liberalismus. Er war bis zu seinem letzten Atemzug ein Kommunist chinesischer Prägung. Was ist das für ein Kommunist, wird man sich im Westen fragen?

Geboren in der Endzeit des imperialen Chinas, im Jahr 1904, wurde dem kleinen Deng mit der Muttermilch konfuzianisches Gedankengut eingeflößt. Damals und heute wieder gilt die Lehre des Pädagogen und Staatsdenkers Konfuzius als der größte Kulturschatz. Der alte Meister sprach von Tugenden und von Menschlichkeit ren und meinte damit: Ein Stück von dir ist auch in mir. Das ist die Wurzel, aus der jeder Chinese seinen Ursprung zieht. Doch bei Deng kam noch anderes, unchinesisches Gedankengut hinzu.

Der am 22. August 1904 geborene Deng Xixian geriet unter den Einfluss westlicher und basisdemokratischer Ideen und wurde neu geboren – unter dem Namen Deng Xiaoping. Deng Xiaoping ("Deng, kleiner Frieden") lautete fortan sein neuer Name, sein Org-Name, wie Kommunisten zu sagen pflegen.

In seiner Jugend lernt er von demokratisch gesinnten Lehrern und Missionaren über die Ungerechtigkeiten der Geschichte. Was er lernt, empört ihn. Er erfährt von den bitteren Niederlagen seines Mutterlandes: in den Opiumkriegen der Engländer (1840-42), den Kriegen der Franzosen (1884-85) und Japaner (1894-95) und im Boxer-Aufstand von 1900. In all diesen Kriegen wird seine feudalistische Heimat, das Reich der Mitte, ausgebeutet und bis in die Selbstverleugnung getrieben. Eine der größten Stärken von Deng wird bereits in seiner Jugend deutlich: Er verfällt nicht dem Nationalismus und Chauvinismus wie viele seiner Altersgenossen, nein, er will die Fremde kennenlernen, er will wissen, was den Imperialismus der westlichen Welt charakterisiert. So reist er als Werkstudent am 11. September 1920 nach Frankreich, wo er an der internationalistischen Bewegung "Arbeiten und studieren" junger Chinesen teilnimmt. Selbstverständlich wird sein frühes Interesse am Westen nicht nur durch Kriegsbotschaften, sondern auch durch erfreuliche Ereignisse geweckt. Schon in seiner Heimat lernte er die abendländische Kultur bei katholischen Missionaren kennen, die in der Kreisstadt Guang'an eine Schule unterhielten.

Deng Xiaoping während seiner Studienzeit in Paris in den 1920er Jahren. (© AP)

"Die Wahrheit in den Tatsachen suchen" als Maxime

Auch als er seinen ursprünglichen Plan, als Werkstudent in Lyon die Universität besuchen zu können, dahinschwinden sieht, bleibt er in Frankreich, in der Gegend von Paris und sucht sich Arbeit, um sein Überleben zu garantieren. Im Örtchen Chalette klebt er Gummischuhe zusammen und erhält einen schmalen Akkordlohn von dem amerikanischen Unternehmen Hutchinson. Später lernt er den Umgang mit Werkzeugen in der Montage des Automobilfabrikanten Renault.

Nie war sich Deng zu fein, eine körperliche Arbeit anzunehmen. Vielleicht begünstigte diese Lebenseinstellung eine weitere Maxime seines Lebens "die Wahrheit in den Tatsachen suchen". Noch in Frankreich trat er in die KP Chinas ein, die im Jahr 1921 in Schanghai gegründet worden war. Gewiss fasste er schon damals eine Karriere in dieser Partei ins Auge. Für seine Kaderlaufbahn ist wichtig zu wissen: Im Gegensatz zu Mao Zedong entwickelte Deng ein subtiles Gespür für den Umgang mit dem Kapitalismus des Westens. Auch wenn er in letzter Konsequenz auf seinen chinesischen Wurzeln beharrte. Von ihm stammt der Satz "Den frischen Wind hereinlassen – die Moskitos draußen halten".

Die westlichen Demokratien, wollen sie das heutige China als Partner gewinnen, dürfen niemals vergessen, dass die auswärtigen Wirtschafts- und Kulturbeziehungen Chinas immer ein Pendeln zwischen Anziehung und Distanz, zwischen Annäherung und Selbstbehauptung sind und sein werden. Wohlgemerkt, bei aller Anziehung ist man im Fernen Osten vorrangig auf die Aufrechterhaltung der Selbstbehauptung bedacht.

Nachdem der junge Deng mit seiner Handarbeit das Leben in der Fremde kennengelernt hatte, kehrte er nach einem sechsjährigen Auslandsaufenthalt in Frankreich und Moskau nach Schanghai zurück. Mit 23 Jahren, man schrieb das Jahr 1926, gab er in seiner Junggesellenbude an der Avenue Edward VII. der französischen Konzession der Chinesin Zhang Qianyuan das Ja-Wort. Sie wurde schwanger, aber sie sollte an den Folgen einer Fehlgeburt sterben. Er heiratete erneut, doch diese Beziehung ging auch nicht gut. Seine zweite Frau wurde ihm von einem moskautreuen Parteikader geraubt. Diesen Verlust musste er ertragen, weil er sich politisch ins Abseits manövriert hatte. Der "Raub" ging einher mit dem ersten Einbruch in seiner Kaderkarriere – im Sommer 1933. Zwar behielt er seinen Parteiausweis, aber er verlor seine Ämter. Doch er resignierte nicht. Weder politisch noch privat. Schon bald fand er seine dritte Frau. Sie hieß Zhuo Lin, war die Tochter eines reichen Wurstfabrikanten und gebar ihm fünf Kinder.

Im roten Dschungel von Intrige und Macht

Dank seiner Anpassungsfähigkeit überlebte Deng immer wieder im roten Dschungel von Intrige und Macht. Er duckte sich mal nach rechts, mal nach links – und überlebte seinen zweiten Sturz im Winter 1966, zu Beginn der Kulturrevolution. Wieder einmal verlor er bis auf sein Parteibuch alle Ämter und musste in einer Infanterieschule bis 1973 "überwintern".

Da er sogar ein drittes Mal gestürzt wurde (sein Bruder wurde in den Selbstmord getrieben und sein ältester Sohn verkrüppelt), aber gleichzeitig neben Außenminister Zhou Enlai als engster Vertrauter von Mao in der Parteiführung agierte, müssen wir uns fragen, in welcher Beziehung Deng zu Mao stand? Mao, dessen prächtige Erscheinung geradezu nach einem Personenkult verlangte, teilte mit Deng die Idee, einen Sozialismus chinesischer Prägung zu erschaffen. Dieses gewaltige Unterfangen, diese gigantische Baustelle kannte eine klare Rollenverteilung: Mao der Kopfarbeiter, Deng der Handarbeiter. Doch damit lässt sich Dengs herausragende Parteirolle nicht vollständig erklären. Deng wurde im Laufe seines Lebens ein hoher Militär und im Jahr 1981 gar der höchste Militärkommandeur des roten China. Mao zeigte Respekt vor diesem geborenen Soldaten, denn Generalstabschef Deng konnte schießen und auch tödliche Wortsalven abfeuern. "Es ist einfacher in den Himmel zu steigen, als mit Deng zu diskutieren", formulierte einmal ein Parteigänger. Mao und Deng stammten beide aus Südchina, und in ihrem Wesen waren beide von einem scharfen Humor, ja Sarkasmus geprägt. In Stunden der Sentimentalität soll Mao einmal gesagt haben, Deng erinnere ihn an seinen getöteten Bruder Zetan.

In welcher Beziehung stand nun Deng zu Mao? Deng war Mao ergeben, weil er der Diktatur des Proletariats ergeben war. Vom menschlichen Wesen her gefiel Deng das bäuerliche Naturell von Mao, denn auch er stammte aus einem Bauerndorf. Beide liebten das scharfe Chili-Mahl, die häufige Zigarette, den beizenden Hirseschnaps, das Kartenspiel und die Frau. Mit Blick auf Mao müssen wir sagen: die Frauen. Obwohl beide ihr Glück in einer dreimaligen Heirat suchten, wurde Mao ein Leben lang vom Sex gehetzt. Noch im hohen Alter mussten ihm seine Lakaien krankhaft viele Konkubinen zuführen. Da verhielt sich Deng schon züchtiger und entsprechend der propagierten Parteimoral. Wohlgemerkt, in der Hygiene unterschied sich der Privatmann Deng vom Großen Steuermann: beim Zähneputzen. So gut wie nie putzte sich Mao die Zähne; er sei ein Tiger, pflegte er seinem mahnenden Leibarzt zu antworten, er trinke dafür Grünen Tee. Beide Führer ergänzten sich als Paar. Beide waren keine Asketen, weder privat noch in der Politik. Allerdings konnte Deng mit Entbehrungen und Niederlagen viel gewandter umgehen als Mao.

Der rote Pragmatiker

"Du hast Fehler begangen, Fehler, für die man dich nach deinem Tod auspeitschen wird", soll Mao ihm einmal prophezeit haben. Wenn einer für seine Fehler ausgepeitscht gehört, dann eher der rote Utopist als der rote Pragmatiker. Zweifelsohne hat Deng in seinem 92-jährigen Leben Fehler begangen, doch nur ein Fehler war ein Verbrechen: Er kommandierte die Gewehre der Armee, damit sie auf das Volk schießt, am Pekinger Blutsonntag, am 4. Juni 1989.

Von außen betrachtet, verdient Deng ein Denkmal für seine Öffnungspolitik. Dank seiner Pioniertat erlebte China einen atemberaubenden Wandel der Werte des Arbeitslebens, des Denkens, der Freizeit und des Konsums. Seit dem Beginn dieser Politik im Jahr 1978 hat das urbane China einen echten Weitsprung vom Mangel in den Überfluss gemacht. Denkmal ja, aber nicht allzu pompös. Denn Dengs Losung "Reich werden ist ehrenhaft" bedingte eine Verarmung großer Schichten der Bevölkerung. Nach drei Jahrzehnten Modernisierung durchzieht das Land eine Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land. Heute droht bereits das kapitalistische Übel der Arbeitslosigkeit für Millionen, und von Stadt zu Stadt zieht ein wachsendes Heer von aktuell 200 Millionen Wanderarbeitern. Was soll aus vielen dieser ehemaligen Bauern nach den Olympischen Spielen werden? Zeit seines Lebens rackerte sich der kleine Mann aus Sichuan ab – vielleicht weil sein Schwerpunkt so tief lag. Dann, im hohen Alter, kam noch die Taubheit dazu. Hatte Deng zu viel gehört, wollte er sich nur noch abschotten?

Auf einem erdachten Grabstein könnte die Inschrift stehen: Deng Xiaoping war ein Sohn der Armee und seiner Familie. Niemals fiel ihm etwas in den Schoß, er musste immer für Erfolge kämpfen. Trotz aller Widrigkeiten war er ein geselliger Mensch und seine Eitelkeit hielt sich in Grenzen.

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Uli Franz, geboren 1949, lebt als Schriftsteller in München und auf der dalmatinischen Insel Brač. Drei Jahre lang arbeitete er als Lektor und Korrespondent in Peking. Internationale Anerkennung erlangte er mit seiner Biografie über Deng Xiaoping. Seit seinen Pekinger Jahren publizierte er zwölf Bücher über China und Tibet.