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Das alte China

Prof. Dr. Thomas O. Höllmann

/ 7 Minuten zu lesen

Die Wurzeln der chinesischen Geschichte reichen 5.000 Jahre zurück. Im Laufe dieser Zeit bildeten sich Dynastien, die durch ein Wechselspiel von Krieg und Frieden, Annexion und Allianz geprägt waren.

Darstellung eines bewachten Tors aus dem 9. Jh. (© Thomas Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 2008)

Als kulturelle Keimzelle Chinas wird traditionell das Lößgebiet am Unterlauf des Huanghe betrachtet. Diese Deutung ist jedoch heute nicht mehr haltbar. Archäologische Funde aus vermeintlich peripheren Regionen belegen nämlich, dass in weiten Teilen des Landes höchst eigenständige Traditionen gepflegt wurden, deren materielle und geistige Impulse langfristig ebenfalls zur Herausbildung jener Charakteristika beitrugen, die wir heute mit dem Land und seinen Bewohnern verbinden.

Allerdings reicht die Verwendung von Schrift nur in Zentralchina bis in das zweite Jahrtausend v. Chr. zurück. Zunächst exklusiv für rituelle Zwecke genutzt, bildete sie später die Voraussetzung für die dort entstehende Historiografie, die für die Könige der aufeinanderfolgenden Herrscherhäuser Xia, Shang und Zhou eine kontinuierliche Legitimationskette schuf. Zudem vermittelte die Geschichtsschreibung das Bild einer kulturellen Überlegenheit, der die benachbarten "Barbaren" nichts entgegenzusetzen hatten.

Kampf um die Vorherrschaft

Immerhin sorgten die vermeintlich unzivilisierten Horden jedoch 771 v. Chr. dafür, dass die Zhou-Hauptstadt nach Osten verlegt werden musste. Damit verlor die Dynastie den größten Teil ihrer Kronlande und damit das Fundament ihrer politischen Macht. Die Folge war eine durch die Etikette nur notdürftig vertuschte Zersplitterung Chinas in zahlreiche aus den einstigen Lehensterritorien hervorgegangene Einzelstaaten, zu denen sich an der Peripherie eine Reihe neu formierter Fürstentümer gesellte. Das anschließende Wechselspiel zwischen Krieg und Frieden, Annexion und Allianz endete mit einem Sieg des Herrscherhauses von Qin, dessen Oberhaupt die Konkurrenten um die Hegemonie nacheinander besiegte und die von ihnen regierten Staaten 221 v. Chr. zu einem Imperium einte, dem es den Namen seiner Herkunftsregion gab.

Die Reichseinigung

Um seinen umfassenden Machtanspruch zu unterstreichen, nahm der Reichsgründer den neugeschaffenen Titel Kaiser (huangdi: "Göttlich Erhabener") an. Zudem begab er sich zwei Jahre später auf eine Inspektionstour in die eroberten Gebiete, bei der er mehrere Berge bestieg und Steinstelen errichten ließ, die den Anbruch eines neuen Zeitalters verkündeten:

Tonfigur eines Beamten aus dem 7. Jh. (© Thomas Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 2008)

"Als der Kaiser sein Amt antrat, erließ er Vorschriften und Gesetze, und die Beamten erhielten ihre Insignien und Befehle. Im 26. Jahr [seiner Herrschaft über das ursprüngliche Territorium von Qin] einte er [die Gebiete] unter dem Himmel, und alle erwiesen ihm Respekt und Gehorsam. [...] Seine brillanten Vorgaben [setzen den Maßstab für] kommende Generationen, welche diese gehorsam und unverändert zu übernehmen haben. Der Kaiser, ein wahrer Weiser, hat seine Regierungspflichten nie vernachlässigt, seit er [die Gebiete] unter dem Himmel einte. [...] Seine Weisungen erreichen jeden, so daß Nah und Fern gleichermaßen wohlgeordnet sind."

Qin Shihuangdi (dem "Ersten Kaiser der Qin") verblieb nur ein gutes Jahrzehnt, um seine Vorstellungen vom Einheitsstaat umzusetzen. Viele Reformen kamen daher über den Ansatz kaum hinaus. Obgleich die Dynastie schon kurz nach seinem Tod zusammenbrach, war es ihm aber gelungen, politische Grundlagen zu hinterlassen, von denen sich – entgegen der offiziellen Sprachregelung – auch das Herrscherhaus der Han nicht lösen konnte, das in den folgenden vier Jahrhunderten die Geschicke des Landes bestimmen sollte.

Fremdherrschaft

Einen ähnlich bedeutsamen Einschnitt in die Geschichte stellt die Eroberung durch die Mongolen dar, in deren Verlauf erstmals das gesamte Land unter die Herrschaft von Fremden gelangte. Die damit markierte Zäsur wurde nicht zuletzt durch die Namenswahl der ab 1280 regierenden Dynastie Yuan ("Anfang") unterstrichen. Ihr Begründer, Kublai Khan, hatte allerdings schon zwei Jahrzehnte zuvor den Willen bekundet, eine neue Ära einzuleiten:

"Einst eroberten unsere Ahnen durch Überlegenheit und Tapferkeit die Welt. Zwar regierten sie mit Auf­rich­tigkeit und Tugend über ihre Un­ter­tanen, doch fanden sie zu­nächst keine Muße für eine verfeinerte Kultur. Im Zuge der politi­schen Veränderungen sind nunmehr freilich geregelte Bezie­hungen ent­stan­den, so daß wir nicht nur die Tradition fortfüh­ren, sondern auch neue Pläne vorantreiben können. [...] Daher werden unsere erha­benen Ziele in hellem Glanz erstrahlen und sich die Seg­nungen einer geord­neten Regie­rung ent­sprechend manifestieren. Es wird eine neue Ära anbrechen."

Dieses Edikt wurde – das zeigt schon die Rhetorik – von chinesischen Beratern entworfen, und die darin enthaltenen Versprechungen ließen sich nur sehr bedingt einhalten. Auch lässt sich trefflich darüber streiten, welcher Aspekt in der Folgezeit stärker zum Tragen kam: die Einverleibung in das mongolische Weltreich oder die Sinisierung der Fremdherrscher? Somit brachte das Ende der Song-Dynastie im Jahre 1279 zwar keinen völligen Bruch mit der Tradition, aber doch einen wichtigen Wendepunkt, der von einer ganzen Reihe von Historikern zur Epochenabgrenzung herangezogen wurde. Im Übrigen kam es auch erst danach zur ersten direkten Begegnung mit Europäern, von denen manche – wie Marco Polo (1251-1324) – ihre Reiseeindrücke einer erstaunten Öffentlichkeit präsentierten. Die mit fantastischen Elementen angereicherte Kunde von einem Riesenreich im fernen Osten fand freilich nur begrenzte Resonanz, und erst den christlichen Missionaren, die unter den Dynastien Ming und Qing in China wirkten, sollte es gelingen, ein ernsthaftes Interesse an dem Land zu wecken.

Epochen des Niedergangs

Zwischen Gründung des Imperiums und der erfolgreichen Revolution von 1911 lagen mehr als 2.300 Jahre, in denen nicht nur Giganten an der Macht waren. Ein Großteil dieser Zeit ist durch die Aufsplitterung in kleinere Staatswesen gekennzeichnet. Kurzlebige Dynastien lösten einander oft in rascher Folge ab, und die "Einheit unter dem Himmel" geriet zur Fiktion. Auch die von den Historiografen postulierte Kontinuität hatte nur begrenzten Realitätsbezug. Das gilt sogar für die mehrere Jahrhunderte währenden Dynastien Han, Tang und Song, deren Endphasen durch einen rapiden Autoritätsverlust gekennzeichnet waren. Aber nicht nur das. Sowohl die Han- als auch die Tang-Zeit wurden zudem durch ein Interregnum unterbrochen: durch die Dynastie Xin des reformorientierten Usurpators Wang Mang und die Dynastie Zhou der Wu Zetian, der einzigen Kaiserin in der chinesischen Geschichte. Beiden Regenten entzogen die Chronisten jedoch im Nachhinein ebenso die Legitimation wie manchem fremdstämmigen Herrscherhaus.

Vergoldeter Bronzeleuchter in Gestalt einer Dienerin aus dem 2. Jh. v. Chr. (© Thomas Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte, München: Beck 2008)

Der Sohn des Himmels

Zwar wurde die politische Ordnung gerne als Abbild der patrilinearen Verwandtschaftsstruktur betrachtet, doch galt dies nur mit einer wichtigen Einschränkung: Der Kaiser war von seinen Untertanen weitaus deutlicher abgehoben als das Familienoberhaupt von seinen Angehörigen. Schließlich verstand er sich nicht nur als Gebieter über das Reich, sondern auch als Mittler zwischen Menschheit und Kosmos. Allerdings konnten insbesondere Naturkatastrophen, unglückverheißende Vorzeichen, Aufstände und das Ausbleiben von Tribut anzeigen, dass der Kaiser sein Mandat verwirkt hatte. Schließlich oblag ihm, die Harmonie zwischen der Menschheit und dem Kosmos aufrechtzuerhalten: ein Auftrag, den der Himmel ihm – und seiner Dynastie – jederzeit wieder entziehen konnte:

"Von oben empfängt der Herrscher demütig den Willen des Himmels und leistet den Weisungen Folge. Nach unten hin leitet er das Volk an, [bewirkt] dessen Wandel und führt es in seinem Wesen zur Vervollkommnung. [...] Naturkatastrophen sind Vorhaltungen des Himmels, [unglückverheißende] Vorzeichen Ausdruck seiner Macht. [...] Nur [wenn es] Verfehlungen im Reich zu ahnden [gilt], veranlaßt der Himmel Heimsuchungen."

Zumindest die Kaiser der Han-Zeit verstanden sich nicht nur als symbolische Vermittler zwischen den Sphären, sondern auch als höchste religiöse Instanz. Nur sie waren berechtigt, die Riten zur Verehrung des Himmels zu vollziehen, und als Priester standen sie den Opferhandlungen vor, die der Erde, den Bergen und Flüssen sowie verschiedenen Gottheiten dargebracht wurden. Darüber hinaus gehörte zu ihren Aufgaben die Kommunikation mit den Ahnen, deren Meinung sie durch die Befragung des Orakels einholten.

Schließlich waren die Herrscher auch Oberbefehlshaber über die Truppen und höchste Richter; ihr Urteil war, so unangemessen es auch sein mochte, unumstößlich. Im Prinzip kannte ihre Autorität keine Grenzen. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Zumindest nominell beanspruchten sie, gegebenenfalls ohne Rücksicht auf staatliche Demarkationslinien, die Unterordnung aller zivilisierten Menschen; durch die Kontrolle des Kalenders vermittelten sie zudem den Eindruck, über die Zeit zu gebieten.

Die Untertanen

So wollte es zumindest die Staatsdoktrin, welche überdies die Bevölkerung – genauso apodiktisch – in vier Schichten untergliederte (von oben nach unten): Gelehrte, Bauern, Handwerker und Kaufleute. Erdacht wurde dieses Gesellschaftsmodell offenkundig von den Angehörigen der Bildungselite, die sich von Zeit zu Zeit genötigt sahen, ihre eigene Stellung in den Vordergrund zu rücken. In Wirklichkeit waren die gesellschaftlichen Trennlinien hingegen selten so scharf, und Beamte, Offiziere, Großgrundbesitzer und Unternehmer bildeten oft genug Allianzen. Noch einflussreicher waren in manchen Epochen jedoch die Eunuchen und die affinalen Verwandten des Kaisers. Die Privilegierten bildeten aber nur eine winzige Minderheit. Das zeigt zum Beispiel schon die Tatsache, dass die Zahl der Beamten stets weit unter einem Prozent der Gesamtbevölkerung lag. Umgekehrt war das Heer der Analphabeten riesig.

Die ältesten demografischen Daten, denen ein Mindestmaß an Zuverlässigkeit beigemessen wird, gehen auf das Jahr Zwei zurück, als man etwas weniger als 60 Millionen Einwohner zählte. Für die folgenden Jahrhunderte zeigen die Statistiken dann einen deutlichen Schwund an, doch ist nicht immer klar, ob dies auf einen tatsächlichen Rückgang oder unzulängliche Erhebungen zurückzuführen ist. Ein massiver Anstieg lässt sich erst von den Melderegistern des 11. Jahrhunderts ableiten, und der größte Bevölkerungsschub ist für das 18. und 19. Jahrhundert belegt, als die Einwohnerzahl die 400-Millionen-Grenze überschritt. Auch die Schätzungen der Stadtbevölkerung sind nicht frei von Unwägbarkeiten, doch kann man wohl davon ausgehen, dass in Xi'an, Kaifeng und Hangzhou, wo vom 7. bis zum 13. Jahrhundert die Kaiser residierten, jeweils bereits über eine Million Menschen lebte: also weit mehr als in jeder europäischen Metropole.

Dynastienübersicht

Xia 21. Jh.-16. Jh. v. Chr.
Shang 16. Jh.-11. Jh. v. Chr.
Zhou Westliche Zhou 11. Jh. -771 v. Chr.
Östliche Zhou 771-221 v. Chr.
Qin 221-207 v. Chr.
Han Frühere Han 207 v. Chr. -9 n. Chr. 9-23 Interregnum des Wang Mang: Xin
Spätere Han 24-220
Drei Reiche Wei 220-265
Shu 221-263
Wu 222-280
Jin Frühere Jin 265-316 304-433 Verschiedene Fremddynastien im Norden
Spätere Jin 317-420
Südliche und nördliche Dynastien Südliche Dynastien:
Song 420-479
Qi 479-502
Liang 502-557
Chen 557-589
Nördliche Dynastien:
Nördliche Wei 386-534
Östliche Wei 534-550
Westliche Wei 535-557
Nördliche Qi 550-577
Nördliche Zhou 557-580
Sui 581-618
Tang 618-907 690-705 Interregnum der Wu Zetian: Zhou
Fünf Dynastien Spätere Liang 907-923 904-979 Zehn Reiche im Süden
Spätere Tang 923-936
Spätere Jin 936-947
Spätere Han 947-950
Spätere Zhou 950-960
Song Nördliche Song 960-1127
Südliche Song 1127-1279
Yuan (Mongolen)
Ming 1368-1644
Qing (Mandschuren) 1644-1911

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Thomas O. Höllmann, Jahrgang 1952. Sinologe und Ethnologe, seit 1988 Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Mitglied des Vorstands der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte, Archäologie und Ethnologie Asiens, darunter "Die Seidenstraße" (München: C.H. Beck 2007) und "Das alte China: Eine Kulturgeschichte" (München: C. H. Beck, 2008).