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Proteste in China | China | bpb.de

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Proteste in China

Christian Göbel

/ 11 Minuten zu lesen

Die Volksrepublik China wird autoritär regiert – die Versammlungsfreiheit ist stark eingeschränkt, und Gesetzesverstöße können empfindliche Strafen nach sich ziehen. Trotzdem demonstrieren täglich Menschen für ihr Recht. Warum lässt die Regierung das zu? Welche Rolle spielen Proteste im politischen System Chinas?

Unterstützerinnen und Unterstützer des Menschenrechtsanwalts Pu Zhiqiang protestieren am 14. Dezember 2015 in der Nähe des Mittleren Volksgerichts Nr.2 in Peking gegen dessen Verhaftung. (© picture-alliance/AP, Andy Wong)

In der Volksrepublik China finden jeden Tag Dutzende, manchmal sogar hunderte von Protesten statt. Schätzungen zufolge soll es im Jahr 2010 zu beinahe 200.000 solchen "Massenvorfällen" gekommen sein. Das ist eine bemerkenswerte Zahl für ein Land, in dem Proteste verboten sind und die Organisation eines Protests eine jahrelange Gefängnisstrafe nach sich ziehen kann. Wer nun aber Parallelen zu den Interner Link: Leipziger Montagsdemonstrationen Ende der 1980er Jahre oder zum Arabischen Frühling zieht, verkennt das Wesen von öffentlichen Protesten in China. Kaum ein Protest richtet sich gegen das Machtmonopol der Interner Link: Kommunistischen Partei, da Systemgegner drakonische Strafen erwarten. Das Risiko ist umso höher, als es das engmaschige Überwachungssystem der Regierung, erlaubt, derartige Proteste im Keim zu ersticken.

Im Gegenteil richten sich die meisten chinesischen Proteste nicht gegen, sondern an die Zentralregierung. Proteste werden beispielsweise von Wohnungskäuferinnen initiiert, die von Immobilienfirmen betrogen werden, von Wanderarbeitern, denen man ihren Lohn vorenthält oder von Investorinnen, die ihre Ersparnisse verloren haben. Statt gegen politisch gut vernetzte Unternehmer, Immobilienfirmen oder Schattenbanken ein teures und aussichtsloses Gerichtsverfahren anzustrengen, versuchen sie, mit Protesten die Regierung zum Handeln zu zwingen. Andere Proteste richten sich nicht gegen private Unternehmen, sondern Lokalregierungen, die im Namen der wirtschaftlichen Entwicklung Bäuerinnen und Wohnungseigentümer enteignen. Die Betroffenen versuchen, durch das Mittel des Protests höhere Entschädigungszahlungen zu erwirken. Nicht alle Proteste sind materiell ausgerichtet, manchmal gehen Menschen auch auf die Straße, um eine Erklärung für die von ihnen erlittene Ungerechtigkeit zu erhalten.

Die wenigsten Teilnehmenden bezeichnen ihre Handlung als Protest, sondern verwenden vor allem den Begriff der "Rechtswahrung" und betonen oft ihre Solidarität mit der Regierung. Manche Transparente ziert sogar der Name Interner Link: Xi Jinpings, des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und damit mächtigstem Mann des Landes. Proteste werden von der Regierung vor allem dann geduldet, wenn sie klein sind, die öffentliche Ordnung nicht stören, auf Gewalt verzichten und sich gegen Unternehmen richten. Auch bei Protesten gegen Lokalregierungen ergreifen Politikerinnen höherer Ebenen gelegentlich Partei für die Protestierenden. Insofern kann man also sagen, dass Proteste illegal, aber nicht unbedingt illegitim sind. Über den Grad der Legitimität entscheidet freilich die Regierung, wobei diese Entscheidung immer im Einzelfall und anhand nicht transparenter Kriterien erfolgt.

Wie in der obenstehenden Grafik zu sehen, sind Lohnschulden und Probleme im Zusammenhang mit Eigentumswohnungen die zwei häufigsten Protestursachen in China. Die Zahlen beruhen auf 83.383 nach dem in der Fußnote 2 beschriebenen Verfahren gesammelten und ausgewerteten Weibo-Posts, die mein Forschungsteam im Zeitraum von Januar 2019 bis Mai 2021 erhoben hat. Durchschnittlich wurden 23 Prozent aller Proteste von Wanderarbeitern, 36 Prozent von Hauseigentümerinnen initiiert. Beide Gruppen sind groß: es gibt ca. 300 Millionen Wanderarbeiter, und fast 90% aller Wohnungen werden von ihren Eigentümerinnen bewohnt. Wanderarbeiter haben zumeist kurzfristige, manchmal gar keine Verträge und sehen sich wegen ihres oft niedrigen Bildungsniveaus und ihrer zumeist ländlichen Herkunft vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt. Die Durchsetzung ihrer Rechte ist für sie schwerer als für die auf ca. 400 Millionen Menschen geschätzte städtische Mittelklasse, eine Tatsache, die von Firmenbesitzerinnen manchmal ausgenutzt wird. Dass sie die zugesicherte Lohnsumme nicht voll ausbezahlen, ist die häufigste Ursache von Arbeitsprotesten, die vornehmlich in den Wochen vor dem chinesischen Neujahr stattfinden. Zu dieser Zeit bereiten sich die Arbeiter auf die Rückreise zu ihren Familien vor, die Firmen führen ihre Jahresendabrechnung durch. Lohnproteste treten gehäuft im Perlflussdelta auf, da hier die verarbeitende Industrie konzentriert ist.

Hausbesitzerproteste finden vor allem aus zwei Gründen statt: Der erste ist, dass Immobilienentwicklerinnen bereits bezahlte Wohnungen nicht fristgerecht an die Käufer übergeben oder vor Fertigstellung des Bauprojekts gar in Konkurs gehen. Mängel an der Bausubstanz oder die Nichtbereitstellung vertraglich vereinbarte Leistungen sind die zweite Ursache. Immobilienfirmen sparen Geld, indem sie minderwertige Materialien verbauen oder nicht abgesprochene Änderungen an den Bauplänen vornehmen. So kann es sein, dass ursprünglich vorgesehene Grünanlagen in Parkplätze oder Betonflächen verwandelt werden. In einem Fall wurde statt eines versprochenen Teichs eine blaue Folie auf dem Boden angebracht.

Neben diesen Hauptursachen gibt es zahlreiche weitere Gründe, warum Menschen in China regelmäßig protestieren. Widerstand gegen als unzureichend empfundene Entschädigung bei Land- und Wohnungsenteignungen machen jeweils rund sechs Prozent aller ausgewerter Proteste aus. Mehr als die Hälfte der Haushaltseinnahmen städtischer Regierungen basieren auf der Verpachtung oder Beleihung von Industrie- und Bauland. Je geringer die Entschädigungszahlungen ausfallen, desto höher die Regierungseinnahmen. Die Höhe der Entschädigung wird zwar gesetzlich bestimmt, aber von den Protestierenden dennoch als unzureichend kritisiert. Streitpunkt kann unter anderem die Frage sein, ob die Regierung beispielsweise für verlorene Mieteinnahmen aus illegal geschaffenem, aber von den Behörden toleriertem Wohnraum Ersatz leisten muss. Diese Art von Protesten begann zunächst in den entwickelten Küstenregionen, breitete sich dann aber zu den sich mit einer Zeitverzögerung entwickelnden Städten im Landesinneren aus. Insgesamt ist ihr Trend aber sinkend, was unter anderem einer verbesserten Entschädigungspolitik zugeschrieben werden kann.

Im Zunehmen begriffen sind hingegen Proteste von Investoren, die sich von Anbietern hochriskanter Finanzanlagen betrogen fühlen. Sie appellieren beispielsweise an die Finanzbehörden, gegen die jeweiligen Anbieter ein Verfahren einzuleiten und sie zur Rückzahlung der Investitionen zu zwingen.

Umweltproteste sind trotz hoher Luft – und Wasserverschmutzung selten und zumeist den sogenannten "not in my backyard" (NIMBY) Protesten zuzurechnen. Ziel ist also, den Bau einer Müllverbrennungsanlage, eines Umspannwerks oder einer Fabrik in unmittelbarer Nähe des eigenen Wohnorts zu verhindern.

Der Verlust eines Kindes oder von Angehörigen nach einer medizinischen Maßnahme führt zu Protesten, die im Chinesischen als "yinao", frei übersetzt "Patientenrandale", bezeichnet werden. Diese Bezeichnung ist den extremen Mitteln geschuldet, die in solchen Protesten Anwendung finden. So gibt es Fälle, in denen Angehörige aus Verzweiflung medizinisches Personal verprügelten, Totengeld im Empfangssaal verbrannten oder gar eine Totenwache samt aufgebahrter Leiche im Krankenhaus abhielten. Diese Wahl der Mittel führt dazu, dass die Repressionswahrscheinlichkeit bei dieser Art von Protesten am höchsten ist.

Wie wird in China demonstriert?

Die Mehrheit der Proteste in China ist klein, friedlich und stationär - eine Gruppe von Menschen versammelt sich mit Protesttransparenten vor einer Fabrik, einem Wohnkomplex oder einem Ministerium. Manchmal tragen die Teilnehmenden eigens gedruckte T-Shirts oder Baseballmützen, oder ordnen sich, ein Blatt mit je einem chinesischen Zeichen in der Hand, zu einem Protestspruch an. Eine Sonderform des stationären Protests ist der "kollektive Beschwerdebesuch", bei dem eine Gruppe von Menschen gemeinsam zu einem Beschwerdebüro reist und ihren Forderungen nicht nur in, sondern auch vor dem Regierungsbüro Ausdruck verleiht. Eine weitere Protestform ist der Streik, der vor allem bei Arbeitsprotesten, aber auch bei Bildungsprotesten und Protesten im Transportsektor (Taxi- und Busfahrer) Mittel der Wahl ist. Streikende können hierbei Lehrende, Schülerinnen, Studierende oder Eltern sein. Streiks werden nicht von den staatlich gelenkten Gewerkschaften organisiert – ihre Aufgabe ist es, Streiks zu verhindern. Radikalere Protestformen sind Blockaden oder Randale, die den Protestierenden zwar mehr Aufmerksamkeit garantieren, aber auch ein höheres Risiko einer Gefängnisstrafe mit sich ziehen. Gewalt durch Protestierende ist eher selten, allerdings eskalieren Proteste gelegentlich und enden darin, dass Polizeifahrzeuge umgekippt oder Regierungsgebäude beschädigt werden.

Die Rolle der Sozialen Medien

Die überwiegende Mehrheit der Proteste in China unterscheidet sich maßgeblich von jenen während des Arabischen Frühling. Letztere waren auf die Verbesserung des Gemeinwohls ausgerichtete Massenproteste, während in China vor allem Individuen und Kleingruppen um finanzielle Entschädigung oder Gerechtigkeit für erlittenes Unrecht protestieren. Aus diesem Grund kommt den Sozialen Medien in chinesischen Protesten eine andere Rolle zu als im Arabischen Frühling.

Im Arabischen Frühling bestand eine maßgebliche Herausforderung der Aktivisten darin, Proteste zu organisieren, andere zur Teilnahme zu motivieren und Protestaktivitäten zu koordinieren. Hier spielten Soziale Medien wie Facebook, aber auch Twitter, eine wichtige Rolle. In China nutzen Protestierende soziale Netzwerke vor allem dazu, die Regierung auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Sie verbinden die Dokumentation von Protestaktivitäten im Internet daher oft mit der Bitte an andere Nutzerinnen, Beiträge weiterzuleiten. Häufig werden Zeitungen und Fernsehsender in solchen Posts mit einem "tag" versehen. Obwohl WeChat, wo Netzwerke, ähnlich wie bei Facebook, durch Kontaktanfragen und -annahmen gebildet werden, mittlerweile mehr Nutzer aufweist als das Twitter-ähnliche Sina Weibo, ist Weibo bei Protesten noch immer das Netzwerk der Wahl. Durch den offeneren Charakter ist die Chance höher, dass ein Beitrag viele Menschen erreicht. Die Mobilisierung selbst erfolgt vor allem durch persönliche Netzwerke und fast nie in Form öffentlicher Aufrufe. Da die Sozialen Medien in China streng überwacht werden, ist diese Strategie zum Scheitern verurteilt. Aufrufen zu "Spaziergängen" während der sogenannten "Jasminrevolution" 2011 folgten mehr Polizistinnen als Bürger.

Diese Hoffnung erweist sich zumeist als vergebens, denn die überwiegende Mehrheit dieser Beiträge wird weder weitergeleitet, noch mit einem Kommentar oder einem "gefällt mir" versehen, also schlicht ignoriert. Das liegt einerseits daran, dass die meisten Nutzerinnen, die über Proteste berichten, nur wenige Follower haben; andererseits löst die Allgegenwärtigkeit kleiner Proteste in China sowohl bei Zuschauern als auch Internetnutzerinnen einen Gewöhnungseffekt aus.

Zensur der Sozialen Medien?

Einer viel beachteten Studie zufolge toleriert die chinesische Regierung Kritik, zensiert aber auf "kollektives Handeln" bezogene Inhalte in chinesischen Sozialen Medien (Siehe King/Pan/Roberts 2013). Dies ist allerdings nur dann der Fall, wenn solche Inhalte oft weitergeleitet werden. Diese Bedingung ist bei fast allen protestbezogenen Posts auf Weibo nicht erfüllt. Nichtbeachtete Posts sind ungefährlich, Zensur allerdings riskant. Sie signalisiert, dass die Regierung ein Thema als problematisch erachtet und kann dadurch das Interesse der Bevölkerung auf dieses Thema lenken. Hinzu kommt, dass die Suche nach unbeachteten Posts der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichkommt. Täglich werden auf Weibo über 500 Millionen Posts veröffentlicht, wobei Protestinhalte nur einen kleinen Bruchteil ausmachen. Das macht sie selbst für modernste Algorithmen schwer auffindbar. Ein Algorithmus mit einer Genauigkeit von 99% würde zwar 99 von 100 protestrelevanten Posts korrekt identifizieren, zusätzlich aber fünf Millionen Posts fälschlich als "Protest" deklarieren. Fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung sind daher noch immer mehr als zwei Drittel aller protestrelevanten Beiträge auf Weibo auffindbar. Die gelöschten 33% auf Zensur durch die Regierung zurückzuführen würde allerdings zu kurz greifen. Die Beiträge verschwinden allmählich, während staatliche Zensur innerhalb eines Tages wirkt. Da Soziale Medien in China kaum für die Protestmobilisierung verwendet werden legt die Schlussfolgerung nahe, dass Zensur nur eine geringe Rolle bei der Unterdrückung von Protesten spielt. Nachweislich bedient sich die Regierung vor allem der Überwachung des Internets und der Propaganda, um politischen Dissens im Keim zu ersticken und potentielle Protestteilnehmende einzuschüchtern oder zu entmutigen.

Gefahr für den Staat

Da persönliche, materielle Motive die Mehrheit der Proteste in China begründen, sind für das Regime gefährliche, schichtenübergreifender Proteste selten. Ausnahmen sind Protestursachen, die mehrere Bevölkerungsgruppen betreffen. Das ist beispielsweise bei Umweltprotesten der Fall, manchmal eskalieren Proteste in einer Spirale aus Polizeigewalt und Gegengewalt. Repression ist also mit Risiken verbunden. Beunruhigen dürfte die Regierung aber auch der steigende Anteil an Protesten von Hauskäuferinnen und Investoren, also der chinesischen Mittelschicht. Ihre Proteste sind Ausdruck fundamentaler systemischer Probleme, denn es hat den Eindruck, dass die Regierung vor allem den fragwürdigen Praktiken einiger Immobilienentwicklerinnen keinen Einhalt zu gewähren vermag. Anders als bei den Arbeitsprotesten, deren Rückgang in den letzten Jahren auch auf die härtere Durchsetzung von Vertragsgesetzen und Arbeiterrechten zurückzuführen ist, scheint die Regierung gegen Immobilienbetrug nur zögerlich vorzugehen, möglicherweise weil Lokalregierungen maßgeblich von Gebühren und Abgaben im Zusammenhang mit Immobilienprojekten abhängig sind.

Konsequenzen für die Protestierenden

Welche Folgen ein Protest für Organisatoren und Teilnehmenden hat, hängt von vielen Faktoren ab. Richtet sich ein Protest gegen das System, oder geht es um Geld oder Gerechtigkeit? Wird gegen ein Unternehmen oder die Regierung demonstriert? Handelt es sich um einen Massenprotest oder die Versammlung einer kleinen Gruppe von Personen? Bedienen sie sich gewalttätiger Mittel, oder demonstrieren sie friedlich? Wird die öffentliche Ordnung gestört? Werden Regierungsangestellte behindert, verletzt oder sogar getötet? Diese und andere Parameter entscheiden darüber, wie schwer die rechtlichen Folgen eines Protests im Einzelfall sind – oder ob ein Protest überhaupt rechtliche Folgen nach sich zieht.

Die meisten Proteste in China sind klein, gewaltlos, richten sich gegen Unternehmen und stören die öffentliche Ordnung nicht. Nur weniger als ein Drittel aller Proteste werden direkt mit Repression, also Verhaftung oder staatlich sanktionierter körperlicher Gewalt, beantwortet. Proteste werden allerdings durch Überwachungskameras und mit Videokameras ausgerüstete Polizistinnen dokumentiert, und es ist davon auszugehen, dass auch gesichtserkennende Software zum Einsatz kommt.

In den meisten Fällen kommen diejenigen Teilnehmenden, die im Zuge von Protestaktivitäten verhaftet werden, nach wenigen Tagen in "administrativem Gewahrsam" wieder frei, eine strafrechtliche Anklage erfolgt also nicht. Davon ausgehen, dass ihre Teilnahme keine oder nur geringe Folgen hat, können Protestierende allerdings nicht. Immer wieder gibt es Fälle, bei denen Personen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt werden und eine mehrjährige Haftstrafe absitzen müssen. In besonders schwerwiegenden Fällen, beispielsweise bei Protesten gegen das System oder gewalttätigen Ausschreitungen, kann das Urteil auch viel schwerer ausfallen. Miao Deshun, der während des Interner Link: Tian‘anmen Protests 1989 angeblich gemeinsam mit anderen einen Panzer in Brand setzte, wurde erst 2016 aus dem Gefängnis entlassen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Proteste von der Regierung mit Zwangsmaßnahmen beantwortet werden, steigt mit der Anzahl der Teilnehmenden und ist bei gewaltsamen Ausschreitungen höher als bei friedlichen Protesten. Proteste gegen die Regierung resultieren gewöhnlich in langen Haftstrafen, Protestaktivitäten von Uigurinnen und Interner Link: Tibetern begegnet die Regierung ebenso unerbittlich. Beeinflusst wird die Repressionswahrscheinlichkeit auch davon, wer die Kosten einer Entschädigung zu tragen hätte. Sind Proteste mit finanziellen Forderungen gegen Unternehmen verbunden, so greift die Exekutive seltener ein als wenn die Forderungen an die lokale Regierung gerichtet werden. Da Zugeständnisse für die Regierung mit finanziellen Verlusten einhergehen und zudem als Signal für Nachahmung dienen könnten, wird hier härter durchgegriffen. Repressionsagentinnen sind nicht nur die Polizei – physische Gewalt wird oft an die Hilfspolizei, private Sicherheitskräfte oder gar angeheuerte Schlägertrupps delegiert.

Zunahme von Repression

Mehrere Studien kommen zu der Erkenntnis, dass die Repressionswahrscheinlichkeit in der Ära Xi Jinping zugenommen hat. Das gilt unabhängig davon, ob sich Proteste friedlicher oder gewaltsamer Mittel bedienen, oder ob sie im städtischen oder ländlichen Bereich stattfinden. Ein möglicher Grund hierfür ist die insgesamt höhere Repressionsbereitschaft der Regierung Xi, ein weiterer die Tatsache, dass für Bürger mittlerweile vielfältige Kanäle, z.B. Telefonhotlines und Internetportale bereitstehen, um Beschwerden an die Regierung zu kommunizieren. Möglicherweise soll das höhere Repressionsrisiko Betroffene dazu bewegen, sich in höherem Maße formaler Mittel zu bedienen und auf Proteste zu verzichten.

Quellen / Literatur

Jay Chen, Chih-Jou, and Yongshun Cai. "Upward Targeting and Social Protests in China." Journal of Contemporary China (2020): 1-15.

Franceschini, Ivan, and Elisa Nesossi. "State repression of Chinese labor NGOs: a chilling effect?." The China Journal 80.1 (2018): 111-129.

Fu, Diana, and Greg Distelhorst. "Grassroots participation and repression under Hu Jintao and Xi Jinping." The China Journal 79.1 (2018): 100-122.

King, Gary, Jennifer Pan, and Margaret E. Roberts. "How censorship in China allows government criticism but silences collective expression." American political science Review (2013): 326-343.

Lagerkvist. Johan. "The Unknown Terrain of Social Protests in China: ‘Exit', ‘Voice', ‘Loyalty', and ‘Shadow’", Journal of Civil Society, 11.2 (2015): 137-153.

Li, Yao, and Manfred Elfstrom. "Does Greater Coercive Capacity Increase Overt Repression? Evidence from China." Journal of Contemporary China 30.128 (2021): 186-211.

Zhang, Han, and Jennifer Pan. "Casm: A deep-learning approach for identifying collective action events with text and image data from social media." Sociological Methodology 49.1 (2019): 1-57.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Lagerkvist 2015.

  2. Die Sammlung und Klassifizierung der Daten erfolgte nach dem in Zhang/Pan 2019 beschriebenen Verfahren: alle Weibo-posts, die protestrelevante Stichworte enthalten, wurden heruntergeladen und mittels maschinenlernender Verfahren kategorisiert (Protest ja/nein, welche Art von Protest). Im Unterschied zu Zhang/Pan 2019 wurde allerdings eine größere Anzahl an Suchbegriffen (62 statt 50) und fortgeschrittenere Algorithmen (Baidu ERNIE für Text, SeResNexT-101 für Bilder) verwendet. Zudem wurden nur Posts in die Datenbank aufgenommen, die neben Text auch Bildern oder Videos enthalten, um die Authentizität der Daten überprüfen zu können. Ebenso wurde Text nur einmal und nicht, wie bei Zhang/Pan 2019, zweimal klassifiziert, die Kodierung der Protestanlässe erfolgte durch ERNIE statt durch Stichwortsuche. Schließlich wurde ein einfacheres Identifikationsverfahren verwendet: ein Post gilt dann als protestrelevant, wenn er a) von ERNIE mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 1% als Protest identifiziert wurde oder eine bestimmte Kombination von Schlüsselworten enthält, und b) mindestens eines der visuellen Medien mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 99% als Protest identifiziert wurde. Dieser Vorgang trägt der Tatsache Rechnung, dass die Qualität der Bilderkennung höher ist als die der Texterkennung. Durch das beschriebene Verfahren konnten wir 83.383 Ereignisse im Zeitraum von September 2009 bis Dezember 2021 ermitteln. Mit einem handkodierten Testset aus 20.000 Weibo Posts ermittelten wir Präzision und Recall der Klassifizierungsalgorithmen. Diese Parameter ergeben Aufschluss darüber, wie hoch der Anteil an korrekt klassifizierten Posts in diesem Sample ist (ca. 90%) und welchen Anteil der im Gesamtsample vorhandenen Proteste wir einfangen konnten (ca. 50%). Die Qualität der Klassifizierungsalgorithmen wurde mit einem handkodierten Testset aus 20.000 Weibo Posts überprüft, und die Schätzungen zur absoluten Protestanzahl mit Hilfe der im Test ermittelten Precison/Recall Parameter angepasst. Die Anzahl aller auf Weibo dokumentierten Proteste dürfte also etwa 170.000 betragen. Tests mit unterschiedlichen Schwellenwerten führen nach der Anpassung durch die schwellenspezifischen Precision/Recall Werte zu sehr ähnlichen Ergebnissen, die auch weitestgehend mit den händisch durch das Aktivistenkollektiv "Wickedonna" identifizierten 75.000 Events zwischen 2014 und 2016 korrespondieren. Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den ermittelten Werten um Schätzungen handelt.

  3. In China gibt es staatliche Stellen, wo Bürger/-innen Eingaben an die Regierung richten können. Solche Büros finden sich auf der Kreis-, Stadt-, Provinz- und Zentralebene.

  4. Wie erwähnt, geht es bei den meisten Protesten um Partikularinteressen, was ein Grund dafür ist, dass Proteste zumeist klein sind. Ein weiterer Grund ist das oft fehlende Interesse an Missständen, die Menschen außerhalb des eigenen Familien- und Freundeskreises betrifft. Soziale Beziehungen in China sind stark gruppenzentriert, was manchmal fälschlicherweise als "kollektivistisch" bezeichnet wird.

  5. Siehe z.B. Fu/Distelhorst 2018, Franceschini/Nesossi 2018, Li/Elfstrom 2021, Chen/Cai 2021.

Weitere Inhalte

Christian Göbel ist Professor für Sinologie an der Universität Wien. Er studierte Politikwissenschaft und Moderne Sinologie in Erlangen, Taipei und Heidelberg, promovierte an der Universität Duisburg-Essen, und forschte und lehrte an den Universitäten Duisburg-Essen, Lund, Heidelberg und Wien. In seinem von der EU finanzierten Forschungsprojekt untersucht er mit Fallstudien und Big Data Analysen den Einfluss von Informationstechnologien auf Staats-Gesellschaftsbeziehungen in China.