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Taiwans Weg zur Demokratie und der chinesische Herrschaftsanspruch | China | bpb.de

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Taiwans Weg zur Demokratie und der chinesische Herrschaftsanspruch

Jens Damm

/ 13 Minuten zu lesen

Seit 1987 hat sich Taiwan zu einer konsolidierten Demokratie entwickelt. De facto agiert die Inselrepublik als unabhängiger Staat. Wie verträgt sich das mit Chinas Postulat der "Wiedervereinigung"?

Das Handelsabkommen mit China, das die regierende KMT im Juni 2013 unterzeichnet hatte, blieb heftig umstritten. Es käme einem Ausverkauf Taiwans gleich, befürchteten protestierende Studenten und Studentinnen. Das Bild zeigt Demonstrierende am 23.03.2014 vor dem Legislativ-Yuan, dem Parlament Taiwans. (© picture-alliance, Craig Ferguson | Craig Ferguson)

Im Jahr 1987 wurde das Kriegsrecht in Interner Link: Taiwan aufgehoben, welches seit der Gründung der Volksrepublik China durch Mao Zedong 1949 und dem Rückzug Chiang Kai-sheks [Jiang Jieshi] und seiner Gefolgsleute auf die Insel Taiwan alle demokratischen Strukturen der Verfassung ad absurdum geführt hatte. Seitdem hat sich Interner Link: Taiwan auf politischer Ebene zu einer konsolidierten Demokratie entwickelt und gesellschaftliche Reformen durchgeführt, wobei sich auch die positive wirtschaftliche Entwicklung fortgesetzt hat. Mehrmals ist es durch Wahlen zu einem demokratischen Machtwechsel gekommen. Die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung wurde durch eine Erweiterung des Wohlfahrtsstaates ergänzt, der indigenen Bevölkerung wurden gemäß der UNO-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker weitreichende Rechte zuerkannt. Die gleichgeschlechtliche Ehe existiert nach einem Beschluss des obersten Verfassungsgerichtes seit 2019. Das Justizsystem wurde reformiert, wenn auch die Todesstrafe nach einem dreijährigen Moratorium seit 2009 wieder vollzogen wird. Die großen Probleme Taiwans liegen nun weniger in der gesellschaftlichen Entwicklung im eigenen Land, sondern in der geopolitischen Weltlage – das heißt, Interner Link: das Verhältnis zur Volksrepublik China (VRCh) wird letztendlich die Zukunft des demokratischen Taiwans entscheiden. Kann der derzeitige de facto unabhängige Status der Insel beibehalten werden? Wird es Taiwan möglicherweise sogar gelingen, eine formale und international anerkannte Unabhängigkeit zu erlangen? Oder wird Taiwan durch den ökonomischen und politischen Druck der VR China gezwungenermaßen das Interner Link: Hongkonger Modell "ein Staat, zwei Systeme" übernehmen? Kommt es am Ende gar zu einer militärischen Annexion der Insel durch die Volksrepublik? Der vorliegende Artikel geht nach einem Blick auf die taiwanische Nachkriegsgeschichte auch auf das Verhältnis Taiwans zur VR China ein.

Die Entwicklungen in Taiwan nach 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im August 1945 wurde die japanische Kolonie Taiwan – völkerrechtlich umstritten – an die "Republik China" übergeben. Bis heute ist damit der offizielle Staatsname Taiwans "Republik China" (Republic of China, ROC). Im allgemeinen Sprachgebrauch sowohl international als auch in Taiwan werden die Begriffe Taiwan und Republik China jedoch als Synonyme verwandt. Am Ende des Bürgerkrieges auf dem chinesischen Festland zwischen der Nationalpartei (Kuomintang bzw. Guomindang, KMT) und den von der Kommunistischen Partei Chinas geführten Kämpfern flüchtete Generalissimo Interner Link: Chiang Kai-shek [Jiang Jieshi] mit den Resten seiner Truppen 1949 nach Taiwan und präsentierte seine Rückzugsbastion als das "Freie China". In der Realität jedoch herrschte die KMT mit eiserner Faust über die Insel. Die Spannungen zwischen den vom Festland gekommenen KMT-Anhängern und der einheimischen taiwanischen Bevölkerung mündeten nach einem Zwischenfall am 28. Februar 1947 in einen landesweiten Aufstand. Im sogenannten 228-Massaker töteten vom Festland herbeigerufene Soldaten gezielt die taiwanische Elite. Viele Tausende Rebellen kamen in den "Säuberungen" durch diese Polizeitruppen um. In den Folgejahren wurden Regierungsgegner und Regierungsgegnerinnen und Oppositionelle weiterhin unterdrückt. Zwar kam es zu einer wirtschaftlichen Liberalisierung – insbesondere die USA unterstützte wirtschaftliche Investitionen in Taiwan und öffnete den US-amerikanischen Markt für Produkte aus Taiwan –, aber die demokratische Verfassung der Republik China aus dem Jahre 1947 existierte nur auf dem Papier, sie wurde durch zahlreiche Sonderregelungen außer Kraft gesetzt. Diese Sonderregelungen gaben zum einen dem Staatspräsidenten Sonderrechte, zum anderen existierte eine Legislative, die Nationalversammlung, welche 1947 letztmals gesamtchinesisch gewählt worden war. Es gab keine Neuwahlen (nur einige Nachwahlen für die "Provinz Taiwan"); damit stand die Nationalversammlung symbolhaft für den gesamtchinesischen Vertretungsanspruch der Republik China. Offiziell endete der "Weiße Terror" 1987 mit der Aufhebung aller Regelungen, die sich aus dem Kriegsrecht ergaben. Sowohl die KMT auf Taiwan als auch die Regierung der Kommunistischen Partei Chinas auf dem Festland reklamierten, dass es nur ein China gebe: Für die Regierung in Beijing war das die Volksrepublik China in den Grenzen von 1949 und für die Regierung in Taipei – zumindest bis 1987 – die Republik China in den Grenzen von 1947.

Das Ende der autoritären Herrschaft und die einsetzende Taiwanisierung (1979 bis 1987)

In Zeiten des Kalten Krieges hielten die USA zwar die KMT davon ab, das Festland zurückzuerobern, aber erst das unfreiwillige Abtreten des Sitzes Taiwans in den Vereinten Nationen im Jahr 1971 und die diplomatische Annäherung zwischen Beijing und den USA unter Jimmy Carter – also die Anerkennung der VR China als legitime Regierung Chinas – lösten die erste große innenpolitische Legitimitätskrise der KMT aus. Innenpolitisch hatte die Nationale Volkspartei KMT bis dahin mit einem korporativen und autoritären Modell regiert, sich ideologisch auf konfuzianische Morallehren gestützt und jede gesellschaftliche und politische Opposition unterdrückt. In dieser Regierungsform gab es keine von der Kuomintang unabhängigen gesellschaftlichen Organisationen und Parteien; Jugendverbände, Gewerkschaften, Frauenverbände etc. waren sämtlich Unterorganisationen der Partei. Ebenfalls standen die Schlüsselindustrien unter staatlicher Verwaltung.

Zeitungen und Zeitschriften waren einer strengen Zensur unterworfen. Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm wurden nicht geduldet, selbst die Kleidung und Haarfrisur der Schüler und Schülerinnen waren staatlich geregelt. Eine "Sinisierung" der Insel sollte den durch die frühere japanische Besatzung geprägten Hybridcharakter der taiwanischen Kultur und Gesellschaft beseitigen: U. a. wurden japanisch-sprachige Publikationen verboten, Shinto-Tempel zerstört oder in chinesische Tempel umgewandelt. Das Misstrauen der Festland-stämmigen Chinesen gegenüber den Menschen auf Taiwan, denen man eine starke Affinität zu Japan nachsagte, vergiftete das gesellschaftliche Klima.

Chiang Kai-sheks Sohn, Chiang Ching-kuo [Jiang Jingguo], der seit 1978 die Präsidentschaft innehatte, leitete gegen Ende der 1970er Jahre eine erste behutsame "Taiwanisierung" ein: Infrastrukturprojekte sollten Taiwans Wirtschaft voranbringen, taiwanische Fachkräfte wie zum Beispiel der spätere Präsident Lee Teng-hui [Li Denghui] wurden in die Regierung aufgenommen. Nachwahlen erlaubten es taiwanischen Oppositionellen, in politische Gremien gewählt zu werden. Und Chiang Ching-kuo bereiste medienwirksam alle Teile der Insel statt nur vom Präsidentenpalast in Taipei aus zu regieren.

Ab Mitte der 1970er Jahre entstand in Taiwan eine neue Oppositionsbewegung, die unter dem Namen "Dangwai" – "außerhalb der Partei" – agierte und ihren begrenzten Spielraum geschickt zu wissen nutzte. So traten Kandidaten und Kandidatinnen an, wo immer es ihnen möglich war, sie gründeten oppositionelle Zeitschriften, die oftmals nach wenigen Ausgaben verboten wurden; dieselben Herausgeber gründeten dann aber wieder Nachfolgezeitschriften. Im Dezember 1979, am internationalen Tag der Menschenrechte, kam es zu massiven Protesten in Kaohsiung [Gaoxiong], wobei Angriffe auf Polizisten und Polizistinnen – wohl durch Untergrundagenten der KMT ausgelöst – zu einer erneuten Verhaftungswelle führten. Die spätere Vizepräsidentin Annette Lu [Lü Xiulian] wie eine Reihe anderer zukünftiger Oppositionspolitiker und -politikerinnen wurden zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Doch dies erwies sich als ein Pyrrhussieg für die KMT. Die in den USA und Japan erstarkte taiwanische Unabhängigkeitsbewegung übte nun massiven Druck mittels Demonstrationen, Petitionen, aber auch Lobbyarbeit im US-amerikanischen Kongress aus. Schließlich traf der bereits schwer erkrankte Präsident Chiang Ching-kuo im September 1986 bei der Gründungsversammlung der DPP die Entscheidung, die neue Partei zu tolerieren. Im darauffolgenden Jahr wurde das Kriegsrecht aufgehoben.

Die Transformationsperiode: Demokratisierung und soziale Bewegungen (1987 bis 2016)

In nur wenigen Jahren wurde ab 1987 die Zensur der Presse fast gänzlich aufgehoben, die Gründung neuer Zeitungen und Zeitschriften liberalisiert. Bürger und Bürgerinnen Taiwans konnten legal in die VR China reisen, was insbesondere von ehemaligen KMT-Soldaten wahrgenommen wurde, die nach mehr als 40 Jahren das erste Mal ihre Familien auf dem Festland besuchen durften. Eine Vielzahl sozialer Bewegungen entstand, die nicht nur politische, sondern auch gesellschaftliche Reformen einforderten. Umweltschutz wurde zu einem Thema, nachdem viele Jahre nur die Wirtschaft im Vordergrund gestanden hatte. Die neue Mittelklasse wollte mitentscheiden und misstraute den "alten Herren" der KMT. Im Jahr 1996 wurde der gebürtige Taiwaner Lee Teng-hui [Li Denghui] zum ersten Mal direkt vom Volk als Präsident bestätigt. Bereits vor seiner Wahl zum Präsidenten hatte Lee Teng-hui durchgesetzt, dass die alte Nationalversammlung ihren Einfluss verlor: Nicht mehr die seit den 1940er-Jahren gesetzten Abgeordneten der Nationalversammlung, die ihr Mandat vom Festland mitgenommen hatten, bestimmten nun die Politik Taiwans, sondern der Legislativ-Yuan, welcher von der Bevölkerung Taiwans seit 1992 frei gewählt wurde.

Verschiedene Gründe führten dann im Jahr 2000 zur Wahl des DPP-Kandidaten Chen Shui-bian, einem aus einfachen Verhältnissen stammenden Rechtsanwalt, zum Präsidenten. Zum einen war die DDP zu einer starken politischen Kraft geworden, die auch von der neuen Mittelklasse und insbesondere von den sozialen Bewegungen unterstützt wurde. Chen Shui-bian hatte sich schon zuvor mit seiner erfolgreichen Politik als Bürgermeister von Taipei (1994 bis 1998), u. a. im Bereich der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, des Bürokratieabbaus, der Vereinfachung der Verwaltung, und der Schaffung von öffentlichen Grünanlagen als pragmatischer Reformer erwiesen. Zum anderen war es die Unfähigkeit des KMT-Lagers, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen, die es Chen Shui-bian ermöglichte, mit nur wenig mehr als einem Drittel der Stimmen zum Präsidenten gewählt zu werden.

Nach seiner Wahl setzte Chen Shui-bian eine Politik der Taiwanisierung durch, u. a. wurden Straßennamen geändert, eine Reihe staatlicher Unternehmen von "China" zu "Taiwan" umbenannt (beispielsweise wurde das größte petrochemische Unternehmen CPC zu "CPC Corporation Taiwan" und im Chinesischen von Zhongguo Shiyou zu Taiwan Shiyou umbenannt) und Änderungen im akademischen Bereich hin zu einer Fokussierung auf Taiwan statt auf China angestoßen. Auch im Jahre 2004 – nach einem bis heute ungeklärten Attentat auf Chen Shui-bian und Annette Lu in Tainan noch am Wahlabend – gewann Chen eine zweite Amtszeit. Nach massiven Korruptionsvorwürfen kam es insbesondere ab September 2007 zu wochenlangen Protesten, organisiert von dem ehemaligen Abgeordneten der Fortschrittspartei (DPP) Shi Ming-teh [Shi Mingde], mit tausenden von in Rot gekleideten Demonstranten und Demonstrantinnen. Lediglich seine Immunität schützte den Präsidenten vor einer Anklage. Von dem Skandal rund um die Korruptionsvorwürfe – immerhin ging es um 31 Millionen US-Dollar, die von staatlichen Konten auf Privatkonten der Chen-Familie geflossen und dann in die Schweiz transferiert worden waren –, konnte der KMT-Kandidat Ma Ying-jeou [Ma Yingjiu] profitieren, der 2008 mit einer überwältigenden Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde. Innenpolitisch blieben in den acht Jahren der Regierung Ma Ying-jeous wesentliche Errungenschaften und Veränderungen der Ära Chen Shui-bians erhalten. Indigene ethnische Gruppen wie die Hakka, die Hoklo und die austronesische Bevölkerung, die lange Zeit diskriminiert worden waren, profitierten von einer multikulturellen Politik: Hoklo, Hakka und die indigenen Sprachen wurden als offizielle Sprachen Taiwans anerkannt; Museen und Ausstellungen befassten sich mit der Geschichte der verschiedene Ethnien, und an zahlreichen Universitäten wurden neue Studiengänge eingerichtet, die sich explizit mit der taiwanischen Geschichte, den Hakkas und der indigenen Bevölkerung befassten. Die Millionenmetropole Kaohsiung entwickelte sich zu einer modernen und sauberen Großstadt, nachdem die einseitige Bevorzugung Taipeis durch die Zentralregierung ein Ende gefunden hatte. Infrastrukturprojekte wie der Bau eines Hochgeschwindigkeitszugs von Taipei nach Kaohsiung und der Bau von U-Bahnen in beiden Städten wurden fortgesetzt. Die Reformen in der lokalen Verwaltung, die einst von Chen eingeführt worden waren, wurden von seinen Nachfolgern aus den Reihen der KMT beibehalten. Sie bezogen sich in erster Linie auf die Transparenz von Entscheidungen und bei Neueinstellungen bzw. Beförderungen, die nach einheitlichen Kriterien und nicht nach Beziehungen erfolgen sollten. Die größten Veränderungen insbesondere in der zweiten Amtsperiode von Ma Ying-jeou nach 2012 entwickelten sich aber im Verhältnis zur Volksrepublik China: Beijing und Taipei näherten sich mit entschiedenen Schritten einander an. Zu diesen gehörten wirtschaftliche Investitionen, direkte Flugverbindungen und die Öffnung Taiwans für den chinesischen Tourismus. Ein geplantes neues Wirtschaftsabkommen Taiwans mit der VR China scheiterte im Jahre 2014 allerdings an massiven Protesten vor allem von Studierenden in der sogenannten Sonnenblumenbewegung. Im März besetzten mehr als 300 Studierende das Parlament, und an nachfolgenden Demonstrationen nahmen mehrere Hunderttausende teil. Gleichzeitig nahm die Popularität der DPP immer mehr zu. Daran änderte auch ein direktes Treffen Ma Ying-jeous mit dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping in Singapur im Jahre 2015 nichts.

Taiwan als konsolidierte Demokratie mit westlicher Orientierung (2016 bis heute)

Mit Tsai Ing-wen [Cai Yingwen] baute die DPP auf eine im Vereinigten Königreich ausgebildete weltoffene Politikerin, die im Jahre 2016 sowohl die Präsidentschaftswahl als auch die Mehrheit im Parlament für die DPP gewann. Dies war der dritte friedliche Machtwechsel in der Geschichte Taiwans und das erste Mal, dass eine Frau zur Präsidentin gewählt wurde. Gestützt auf ihre Mehrheit in der Legislative, konnte Tsai eine Vielzahl von Reformen in Angriff nehmen. Dazu gehörte die Einführung eines Mindestlohns, Umweltreformen, verstärkte Investitionen in die industrielle Entwicklung und die Infrastruktur sowie die Konsolidierung des maroden Rentensystems für die 450.000 pensionierten Staatsbediensteten und Militärangehörigen des Landes. Neben den Regierungsorganen gibt es in Taiwan eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Gruppen, darunter Gewerkschaften, Berufs- und Wirtschaftsverbände, Sozial- und Umweltbewegungen und andere Vereinigungen, die ein breites Spektrum gesellschaftlicher Interessen vertreten. Teile der taiwanischen Zivilgesellschaft konzentrieren sich nach wie vor auf ideologische Fragen im Zusammenhang mit der Politik gegenüber China und den unvereinbaren Positionen zur hypothetischen Vereinigung oder Unabhängigkeit. Gleichzeitig hat die von Studentinnen und Studenten getragene Sonnenblumenbewegung Dynamik in die politische Landschaft gebracht: Sie hat dazu beigetragen, eine Reihe von Themen der sozialen Gerechtigkeit und der Bürgerrechte auf die politische Agenda zu bringen, darunter die Justizreform, die Rechte von LGBTQ+ sowie die Landrechte für Taiwans indigene Bevölkerung. Außenpolitisch setzt Tsai Ing-wen auf eine stärkere Anbindung an die USA und Japan. Besonders deutlich wurde das bei dem Besuch der Sprecherin des US-amerikanischen Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im August 2022 in Taiwan. Die klaren Worte des US-Präsidenten Joe Biden, mit denen er Taiwan im Falle eines Angriffs der VR China militärische Unterstützung zusicherte, stehen als ein Beleg für die außenpolitische Nähe. Taiwan präsentiert sich heute als Teil einer westlich orientierten, demokratischen Weltordnung.

Die Perspektiven für das Verhältnis zwischen Taiwan und der VR China

Die chinesische Regierung unter Xi Jinping hat zuletzt in einem neuen Weißbuch zu Interner Link: "Taiwan im Jahr 2022" bekräftigt, dass sie ihren Anspruch auf die Insel – wenn nötig gewaltsam – durchsetzen will. "Wir sind bereit, großen Raum für eine friedliche Wiedervereinigung zu schaffen, aber wir werden keinerlei Raum für separatistische Aktivitäten jeglicher Art lassen." Auch international wird Taiwan im Rahmen der "Ein-China-Politik" als Teil von China verstanden. Jedoch folgt Taiwan nicht – und auch der Westen nur begrenzt – der VR-chinesischen Interpretation, dass "China" gleichbedeutend mit "VR China" sein müsse. Bei vielen Regierungen herrscht in der "Taiwan-China-Frage" eine "strategische Ambivalenz" – am deutlichsten vertreten durch die Position der Vereinigten Staaten im Taiwan Relations Act. Obwohl die USA sich zur Ein-China-Politik bekennen, verpflichten sie sich, Taiwan militärisch zu unterstützen. Taiwan könne sich dadurch gegen jede Form der militärischen Gewalt, die die Sicherheit, das gesellschaftliche und politische Systems Taiwans gefährden würde, verteidigen. Das demokratische Taiwan selbst versteht sich zwar offiziell weiterhin als Republik China, wobei jedoch die Republik China mit Taiwan einschließlich der von Taipei regierten Inseln wie Penghu, Jinmen und Mazu gleichgesetzt wird. Eine Vereinigung nach dem von Beijing propagierten Interner Link: Modell "Ein Land, zwei Systeme" wird in Taiwan aber fast einhellig abgelehnt.

In Taiwan ist die Transformation zu einer demokratischen und liberalen Gesellschaft vollzogen, und Bekenntnisse zur "Ein-China-Politik" erfüllen eher einem formalen Zweck, da eine direkte Unabhängigkeitserklärung Taiwans höchstwahrscheinlich zu einer direkten Intervention der VR China führen würde. Kaum jemand glaubt an die Versprechungen größeren wirtschaftlichen Wohlstands, wie sie die chinesische Regierung in ihrem Taiwan-Weißbuch für den Fall einer "Wiedervereinigung" gemacht hat. Die Aussage, dass in diesem Falle die Insel in den Genuss "größerer Sicherheit und Würde" gelange, sehen viele Menschen angesichts der offenen militärischen Bedrohung als zynisch an. Es ist daher davon auszugehen, dass Taiwan sich in den nächsten Jahren weiterhin bemühen wird, außenpolitisch den Status quo nicht offiziell zu verändern.

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vertritt die Professur mit dem Schwerpunkt "Geschichte und Politik des Modernen China" an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und ist assoziierter Mitarbeiter am European Research Center on Contemporary Taiwan (ERCCT) an der Eberhard Karls Universität Tübingen.
E-Mail: E-Mail Link: jens.damm@fu-berlin.de