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„Die letzte Entscheidung über Taiwans Schicksal wird in Peking getroffen“ | China | bpb.de

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„Die letzte Entscheidung über Taiwans Schicksal wird in Peking getroffen“ Interview mit Prof. Gunter Schubert

Gunter Schubert

/ 12 Minuten zu lesen

Über die Tragweite der taiwanischen Wahlen, die Handlungsmacht Taiwans im Konflikt zwischen China und den USA, den verschiedenen Äußerungsformen des schwelenden Konflikts mit China und die Rolle der Halbleiterindustrie für Taiwans Sicherheit.

Schlange zur Stimmenabgabe während der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2020 in Taiwan. (© Chiang Ying-ying / picture alliance / AP Photo)

bpb.de: Am 13. Januar 2024 finden in Taiwan Interner Link: Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Wie bedeutend schätzen Sie die anstehenden Wahlen für die außenpolitische Ausrichtung Taiwans in den nächsten Jahren ein?

Gunter Schubert: In Taiwan werden immer alle nationalen Wahlen als existenziell hochgespielt, von den Medien sowohl in Taiwan selbst als auch im Ausland. Fakt ist, dass diese Wahlen für das Verhältnis zur Volksrepublik China wahrscheinlich die irrelevantesten seit Jahren sind. Dieses wird weitgehend von der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China bestimmt. Da bleibt wenig Spielraum für eine eigene Chinapolitik Taiwans. Das unterscheidet die derzeitige Lage erheblich von den Jahren 2008 und auch noch 2012, als die Kuomintang die Präsidentschaftswahl gewonnen hat und unter Ma Ying-jeou eine relativ eigenständige Chinapolitik machen konnte. Dagegen haben die jetzigen Präsidentschaftskandidaten eigentlich gar keine andere Wahl, als sich sehr weitgehend an die Chinapolitik der letzten acht Jahre unter der seit 2016 amtierenden Präsidentin Tsai Ing-wen zu halten. Insofern halte ich diese Wahlen zumindest chinapolitisch für nicht besonders bedeutsam.

Obwohl die Kuomintang, KMT (Chinesische Nationale Volkspartei) traditionell eine „Wiedervereinigung“ mit China und die Democratic Progressive Party, DPP (Demokratischen Fortschrittspartei) dagegen die Unabhängigkeit Taiwans anstrebt, könnte also keine der beiden Parteien in der aktuellen Situation vom Status quo abweichen?

Zunächst muss man sagen, dass diese Zuspitzung des Interner Link: Konflikts zwischen KMT und DPP in die Irre führt. Das wird auch in den deutschen Medien oft ungenau, wenn nicht gar falsch dargestellt. Die KMT verfolgt nur noch symbolisch das Ziel einer chinesischen „Wiedervereinigung“. Die „Wiedervereinigung“ ist lediglich schweres historisches Gepäck, das sie mit sich herumträgt. Gleichzeitig verfolgt die DPP keine taiwanische Unabhängigkeit im Sinne der 1990er-Jahre, selbst wenn sie noch immer eine entsprechende Zielbestimmung in ihrem Parteistatut ausweist. Es gibt einen parteiübergreifenden Konsens in Taiwan, dass eine Vereinigung mit China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei nicht infrage kommt. Das ist der entscheidende Punkt und verbindet faktisch die parteipolitischen Lager.

Im Wesentlichen reklamieren beide Parteien die gleiche China-Strategie. Die KMT suggeriert lediglich, dass sie mit ihrem historischen Hintergrund besser positioniert ist, um mit Peking zu verhandeln und die Spannungen in der Taiwanstraße zu reduzieren, als die DPP mit ihrer Geschichte als Partei der taiwanischen Unabhängigkeit. Das ist aber vor allem ein strategischer Unterschied und keine Frage großer ideologischer Unterschiede. Die Frage des Bekenntnisses zu einer chinesischen oder taiwanischen Identität ist für die Gestaltung des Verhältnisses zur Volksrepublik China heute kaum mehr relevant. Man sollte daher keinen innertaiwanischen Konflikt zwischen Unabhängigkeit und „Wiedervereinigung“ mehr stilisieren.

Die Unterschiede in den politischen Positionen beider Parteien sind weit kleiner, als wir sie im Westen wahrnehmen. Faktisch sind sich beide einig, dass Taiwan ein souveräner Staat ist, dass sie an der Staatsbezeichnung „Republik China“ festhalten und an deren Verfassung von 1947. Die vermeintlichen Unterschiede zwischen KMT und DPP werden im Wahlkampf natürlich stark aufgebauscht, um in der für die meisten Taiwaner*innen zentralen Frage der Chinapolitik überhaupt einen Unterschied erkennbar machen zu können. Denn in Taiwan existiert kein wirkliches Links-Rechts-Spektrum, allein die Chinapolitik gilt als Referenzpunkt für eine parteipolitische Unterscheidung. Daher geht es heute eher darum, eine eigene Chinapolitik zu reklamieren. Das können die Parteien allerdings nicht überzeugend begründen. Das merken viele in der taiwanischen Bevölkerung auch. Das Aufkommen der Taiwan People’s Party, TPP (Taiwanische Volkspartei) hat vor allem damit zu tun, dass sich große Teile der jüngeren Wählerschaft diese ewig alte Auseinandersetzung nicht mehr anhören und etwas Neues wollen. Wobei auch die TPP immer wieder zu einem chinapolitischen Standpunkt gedrängt wird, dazu aber nichts Neues beitragen kann.

Welcher Handlungsspielraum bleibt dann Interner Link: Taiwan im Verhältnis zu China und den USA?

Tatsächlich hat Taiwan keine außenpolitische Handlungsautonomie mehr. Im Verhältnis zu China sind die Parameter klar definiert durch den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping: Dieser will nicht zur Ära Ma Ying-jeou zurückkehren und hat den „Konsens von 1992“ faktisch außer Kraft gesetzt. Er sieht für Taiwan nur noch eine Zukunft im Rahmen des „Ein Land, zwei Systeme“-Modells, was bereits in Hongkong Anwendung findet. Da gibt es nichts zu verhandeln.

„Konsens von 1992“

Der „Konsens von 1992” verweist auf ein Treffen zwischen Delegationen der Regierungen der Volksrepublik China und Republik China (Taiwan) in Hongkong im Oktober 1992, in dessen Kontext beide Seiten der jeweils anderen zugestanden, ihr je eigenes „Interner Link: Ein-China-Prinzip“ zu formulieren. Laut dem „Ein-China-Prinzip“ – das wiederum aus dem Interner Link: historischen Konflikt zwischen Volksrepublik China und Republik China stammt – reklamierten beide Seiten für sich, das einzige China (das Festlandchina und Taiwan umfasst) zu repräsentieren.

Später wurde der „Konsens von 1992“ als Anerkennung beider Seiten dargestellt, dass zwar nur ein China, jedoch unterschiedliche Interpretationen davon existieren. Dieses Narrativ ist allerdings umstritten: Während besonders die KMT sich wiederholt auf den „Konsens von 1992“ als Grundlage für einen Dialog mit Peking bezogen hat, hat die DPP die Existenz eines wirklichen Konsenses angezweifelt und diesen nie offiziell anerkannt.

In seiner Grundsatzrede zu Taiwan im Januar 2019 setzte der chinesische Staatschef Xi Jinping seinerseits den „Konsens von 1992“ mit dem „Ein Land, zwei Systeme“-Modell gleich, was keinen Raum für das Fortbestehen der Republik China zulassen würde.

Fußnoten

  1. "China/Taiwan: Evolution of the “One China” Policy—Key Statements from Washington, Beijing, and Taipei". EveryCRSReport.com, 05.01.2015. Online verfügbar: Externer Link: https://www.everycrsreport.com/reports/RL30341.html#fn122

  2. Bardenhagen, Klaus: "Wie Xi Jinping Taiwan mal wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit brachte". intaiwan.net, 06.01.2019. Online verfügbar: Externer Link: https://intaiwan.net/2019/01/06/xi-jinping-taiwan-vereinigung/

Im Verhältnis zu den USA ist es ähnlich. Diese haben ihre Haltung zu Taiwan in den letzten Jahren geändert. Während die Vereinigten Staaten früher klar definiert haben, dass sie sich in sino-taiwanische Angelegenheiten nicht einmischen und nur garantieren wollen, dass es zu keinem kriegerischen Konflikt kommt, ist Taiwan für die USA inzwischen ein geopolitischer Referenzpunkt geworden, der ihr Verhältnis zu China entscheidend bestimmt. Taiwan ist für Washington beinahe eine Schachfigur, mit der man gegen Peking spielt. Und weil Taiwan für die USA so wichtig geworden ist, wird die taiwanische Chinapolitik genau kontrolliert.

Von außen betrachtet ist das nicht immer so klar. Wenn sie in Taiwan mit den Leuten in Think-Tanks, in regierungsnahen Institutionen oder in der taiwanischen Regierung selbst sprechen, ist das aber eindeutig. Das ist ein relativ dramatischer Tatbestand, weil damit das taiwanische Schicksal nunmehr sehr stark an die USA gekettet ist. Wir wissen längst, dass Taiwan militärisch von den Vereinigten Staaten abhängig ist, um China vor einer Militärinvasion abzuschrecken. Taiwan hat inzwischen nicht einmal mehr die Möglichkeit, mit den USA wirklich zu verhandeln, wie man mit China am besten Politik macht. Das war unter der Präsidentschaft von Ma Ying-jeou noch anders.

Gerade in der Amtszeit von Präsident Joe Biden haben sich die USA ungewohnt explizit zum Schutz Taiwans bekannt. Ist hier eine grundlegende Veränderung in der „strategischen Ambivalenz“ zu beobachten, welche die USA seit dem Taiwan Relations Act von 1979 verfolgt?

Taiwan Relations Act

Der Taiwan Relations Act ist ein Gesetz, das 1979 im US-Kongress beschlossen wurde. Es folgte auf die offizielle Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China und den einhergehenden Abbruch der Beziehungen zu Taiwan. Das Gesetz begründet keine Sicherheitsverpflichtungen der USA gegenüber Taiwan, hält aber die Option eines US-Eingriffs im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung in der Taiwanstraße offen. Der Taiwan Relations Act ist ein zentraler Bestandteil der sogenannten „strategischen Ambivalenz“, welche die USA seither praktizieren, um sowohl China als auch Taiwan im Unklaren darüber zu lassen, ob die USA im Falle einer nicht friedlichen Änderung des Status quo intervenieren würden oder nicht.

Es ist nicht so, als hätte sich die regierungsoffizielle Politik in den USA grundsätzlich verändert. Alles was Biden zu dem Thema gesagt hat, wurde von seiner Regierung umgehend wieder eingeschränkt. Trotzdem hat sich etwas verschoben. Aus meiner Sicht waren Bidens öffentliche Bekenntnisse zu einer militärischen Verteidigung Taiwans keine unüberlegten Äußerungen, sondern ein Hinweis an die Volksrepublik, dass sich innerhalb der US-amerikanischen Administration eine entschlossene Bereitschaft eingestellt hat, Taiwan beizustehen.

Zitat

Wir nehmen zwar allenthalben wahr, dass sich der Konflikt verschärft hat, aber immerhin gibt es auch einige Bemühungen, ihn zu managen. Das ist wichtig.


Diplomatisch ist das ein sehr sensibles Feld, denn wie genau kann das in eine politische Strategie übersetzt werden, ohne die Spannungen in der Taiwanstraße massiv zu verschärfen? Sollten die USA etwa klare Grenzen definieren, bei deren Überschreitung sie militärisch in der Taiwanstraße eingreifen würden, würde der Konflikt weiter eskalieren. Das wäre in der Auseinandersetzung mit der Volksrepublik äußerst unklug. Wir nehmen zwar allenthalben wahr, dass sich der Konflikt verschärft hat, aber immerhin gibt es auch einige Bemühungen, ihn zu managen. Das ist wichtig.

Im November 2024 stehen auch in den USA Präsidentschaftswahlen an. Ist abhängig von deren Ausgang eine Änderung der Taiwan-Strategie der USA zu erwarten? Wird in der Volksrepublik womöglich auf einen isolationistischen Kurs der USA gehofft?

Das ist vorab unmöglich abzusehen, auch für China nicht. Man muss sich außerdem vor Augen führen, dass in der internationalen Politik immer ein Spannungsverhältnis zwischen Personen und Strukturen existiert. Der geopolitische Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China ist struktureller Natur. Das heißt, dass einzelne Personen ihn nicht ohne weiteres verändern oder gar lösen können. Es geht letztlich um die langfristige Interessenwahrung der Vereinigten Staaten. Dafür braucht es eine wie auch immer geartete Chinapolitik und keinen weltfremden Isolationismus. Diese Chinapolitik muss klug und abgestuft sein, ansonsten droht ein Kontrollverlust über den Konflikt. Ich gehe davon aus, dass dies den meisten der politisch Verantwortlichen, auch nach einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps, klar ist.

Die Regierung der Volksrepublik wiederum betreibt zunehmend eine von den USA unabhängige Taiwan- und Globalpolitik. Das ist zumindest ihr Ziel: Wirtschaftlich resilient werden, sich politisch abschirmen und dann auch nicht mehr davon abhängig sein, wie US-amerikanische Wahlen ausgehen. Die „Taiwan-Frage“ ist symbolisch sehr wichtig, weil die Kommunistische Partei unter Xi Jinping ihre Herrschaftslegitimation wie noch nie zuvor an deren „Lösung“ gebunden hat. Das ist der jetzige Stand. Darüber, was in den nächsten drei bis vier Jahren passiert, kann man nur spekulieren. Es sind Entwicklungen in alle Richtungen denkbar.

Wie genau wird in Peking auf den Verlauf des Krieges in der Ukraine geschaut, um eigene Schlüsse für einen möglichen Konflikt mit Taiwan zu ziehen?

Ich weiß nicht, ob China wirklich mehr Lehren aus diesem Krieg ziehen kann, als jedes andere Land auch. Man kann den Ukrainekrieg kaum mit einem möglichen taiwanischen Konflikt vergleichen, weder politisch noch militärstrategisch. Ein solcher Vergleich ist in China kein Thema, weder in wissenschaftlichen Zirkeln noch in den parteinahen Medien. Über den Ukrainekrieg wird dort sachlich berichtet, wenn auch stark aus der russischen Perspektive. Es werden aber keine Verbindungen zu Taiwan gezogen. Meine chinesischen Kolleg*innen sind jedenfalls in dieser Frage sehr vorsichtig und sagen, das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun. Sie wollen sich auch nicht in einen Diskurs reinziehen lassen, der beide Konflikte miteinander vergleicht.

Zitat

Faktisch blicken wir auf einen schwelenden Konflikt, der jederzeit eskalieren kann. Das muss man sich klarmachen.


Die chinesische Volksbefreiungsarmee macht immer wieder Interner Link: mit militärischen Manövern in der Taiwanstraße auf sich aufmerksam. Welche Ziele verfolgt die Volksrepublik damit?

Wenn man sich anschaut, wie China seine Vorstöße in den Luftraum und die Hoheitsgewässer Taiwans – wenn man sie so bezeichnen will –, durchführt, deutet alles darauf hin, dass für eine militärische Blockade Taiwans trainiert wird. Das wichtigste Ziel der anhaltenden militärischen Operationen scheint im Augenblick jedoch vor allem, die taiwanische Luftabwehr zu erschöpfen und gleichzeitig unterhalb der Schwelle einer kriegerischen Auseinandersetzung Druck auf das Land auszuüben. Ständiger Stress ist zermürbend, so die Idee dahinter. Ich weiß allerdings nicht, wie erfolgreich das ist, weil es in Taiwan zwei unterschiedliche Welten gibt: Die der Militärs, die versuchen, ihre Insel zu beschützen, und die der taiwanischen Gesellschaft, die das alles eher achselzuckend zur Kenntnis nimmt. Die auf chinesischer Seite verfolgten Ziele werden dadurch nicht erreicht, gleichzeitig verbessert sich auch die taiwanische Situation keinen Deut. Faktisch blicken wir auf einen schwelenden Konflikt, der jederzeit eskalieren kann. Das muss man sich klarmachen.

Sie haben gerade eine militärische Blockade erwähnt. Gemeint ist ein Szenario, in dem die chinesische Armee die Insel Taiwan von See- und Luftverkehr abschotten würde, um Versorgungswege zu unterbrechen. Für wie wahrscheinlich halten Sie dieses Szenario im Vergleich zu einer Invasion?

Das Szenario einer militärischen Luft- und Seeblockade ohne Invasion halten Expert*innen für relativ unrealistisch. Weil das ja Zeit bringen würde, die die Taiwan-freundlichen Kräfte nutzen könnten, um sich auf den Weg in den West-Pazifik und die Taiwanstraße zu machen. Man rechnet eher damit, dass China eine Kombination aus Blockade und Invasion versuchen würde, um möglichst schnell „Fakten zu schaffen“. Aber ehrlich gesagt ist auch das schwer vorstellbar, denn die Frage ist ja: Was würde China durch eine militärische Intervention gewinnen, wenn es gleichzeitig in einen lange anhaltenden Krieg mit Taiwan und seinen Unterstützern – die USA, Japan, Australien, vielleicht auch Staaten in Südostasien – hineingezogen würde? Was für Fakten könnte China dann schaffen, selbst wenn es Taiwan besetzen würde? Damit wäre der Krieg ja nicht vorbei.

Ob Blockade oder Invasion macht letztlich vor dem Hintergrund der Frage, ob die USA das hinnehmen würden, kaum einen Unterschied. Denn wenn Washington einen militärischen Angriff auf Taiwan nicht akzeptieren würde, wäre es völlig egal, ob China blockiert oder interveniert, dann gäbe es in jedem Fall einen Krieg mit den USA. Insofern sind solche taktischen Gedankenspiele für die Frage eines kriegerischen Konflikts ziemlich irrelevant. Relevant sind sie lediglich für die Höhe des psychologischen Drucks, unter den vor allem die taiwanische Regierung und das taiwanische Militär gesetzt werden.

Auf welche Mittel jenseits von Militärmanövern greift die Volksrepublik heute zurück, um Taiwan unter Druck zu setzen?

Ein Mittel, das in den letzten Jahren offensichtlich sehr intensiv eingesetzt wurde, ist Cyberkrieg. Täglich finden Zehntausende Cyberattacken gegen die kritische Infrastruktur Taiwans statt. Das gehört zur Strategie, Stress zu produzieren. Dann gibt es noch das Verbreiten von Fakenews. Inzwischen hat Taiwan das aber relativ gut im Griff. Es gibt eine hohe Sensibilisierung für Desinformation und die Taiwaner*innen haben inzwischen ein erhebliches Gespür dafür entwickelt, Fakenews zu erkennen. Zumal es dort inzwischen NGOs und kommerzielle Unternehmen gibt, die gegen Desinformation ankämpfen. Der Effekt dieser Strategie der Volksrepublik ist also begrenzt.

Darüber hinaus gibt es Versuche, pro-chinesische Gruppen in Taiwan zu stützen und zu finanzieren, aber die sind so klein und letztlich so einflusslos, dass auch das ein eher nutzloses Vorgehen ist. Schließlich versucht China weiterhin, taiwanisches Investitions- und Humankapital durch verschiedene Anreize nach China zu locken. Das funktioniert durchaus, schwächt die taiwanische Wirtschaft aber kaum und führt vor allem nicht dazu, die „Herzen und Köpfe“ der Inselbevölkerung auf China auszurichten.

Obwohl China also permanent versucht, einerseits unter der Schwelle einer kriegerischen Eskalation Druck auf Taiwan auszuüben, andererseits wirtschaftliche Anreize zu setzen, um Taiwan an China zu binden, sind die diesbezüglichen Erfolge der chinesischen Regierung als gering einzustufen. Zudem beobachten wir, dass taiwanische Unternehmen seit Jahren insgesamt immer weniger in China investieren und sich andere Märkte erschließen, um ihr Risiko zu streuen. Dass alle Anstrengungen Chinas am Ende nicht zu einem freiwilligen Zusammenschluss Taiwans mit der Volksrepublik führen werden, darüber ist man sich in weiten Teilen des politischen Establishments in Peking meiner Einschätzung nach durchaus im Klaren. Deswegen werden auch die Überlegungen, die militärische Option zu wählen, derzeit offener artikuliert als früher.

Sind wirtschaftliche Sanktionen ein Mittel, mit dem die Volksrepublik versuchen könnte, in Zukunft Zugeständnisse von Taiwan zu erzwingen?

Theoretisch könnte China einiges versuchen, die Frage ist allerdings, was es damit erreichen würde. Taiwan ist wirtschaftlich aufgrund seines Außenhandels zwar immer noch sehr abhängig von China. Würde Peking aber beispielsweise das Rahmenabkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit, das Economic Cooperation Framework Agreement (ECFA), aufkündigen, wäre das für Taiwan nicht besonders dramatisch. Auch wird sich die chinesische Regierung hüten, alle taiwanischen Unternehmen zu vertreiben, denn dafür sind sie zu wichtig: Sie generieren Steuern und sind für die lokale Wirtschaftsentwicklung nach wie vor von einiger Bedeutung. Vor allem die international wettbewerbsfähigen taiwanischen Unternehmen werden in China gebraucht, etwa für die Entwicklung einer eigenen Halbleiterindustrie, in der Nanotechnologie, bei den Zulieferindustrien für die Elektromobilität und so weiter. Mit einer gegen Taiwan gerichteten Sanktionspolitik würde China die Inselbevölkerung völlig von sich entfremden und somit seiner eigenen Strategie das Wasser abgraben. Die Volksrepublik will den Taiwaner*innen ja vermitteln, dass sie etwas davon haben, wenn sie mit China kooperieren. Deshalb sehe ich da jenseits von Symbolpolitik keine großen Möglichkeiten, Taiwan auf dem Weg von Wirtschaftssanktionen zu beeinflussen.

Sie haben bereits die Halbleiterindustrie erwähnt. Der taiwanische Chiphersteller TSMC möchte eine Fabrik in Sachsen bauen, was die deutsche Bundesregierung mit Milliarden subventionieren will. Kann Deutschland damit seine Abhängigkeit von Importen aus Taiwan reduzieren?

Jede Chip-Fabrik trägt dazu bei, Abhängigkeiten zu reduzieren. Trotzdem wird es in den nächsten Jahrzehnten Deutschland und Europa nicht gelingen, sich von Taiwan unabhängig zu machen – jedenfalls nicht im Hinblick auf die modernsten und leistungsfähigsten Chips, etwa für das autonome Fahren, die „smart city“-Revolution und das damit verbundene Internet der Dinge. Diese hochwertigsten Chips werden zwar nicht in Taiwan entwickelt, aber eben dort produziert und verpackt. Taiwan hat diesbezüglich einen enormen Innovationsvorsprung, und diesen zu erhalten ist das erklärte Ziel von TSMC und natürlich auch der taiwanischen Regierung. Die sogenannte „cutting edge“-Technologie der taiwanischen Chip-Produktion wird deshalb in Taiwan bleiben und die Hersteller lediglich bei den älteren Chip-Generationen Know-how an das Ausland abgegeben – etwa in Richtung USA, Indien, Europa und auch nach China!

Und solange die Produktion der neusten Chip-Generationen in Taiwan bleibt, ist es im Interesse vieler Länder, die darauf ausgerichteten globalen Lieferketten aufrecht zu erhalten. Diese systematische Risikostreuung bringt Sicherheit – der berühmte „silicon shield“. Das ist ein Pokerspiel, aber ein sehr rationales. Trotzdem kann man alles verlieren. Die letzte Entscheidung über Taiwans Schicksal wird in Peking getroffen.

„silicon shield”

Der sogenannte „silicon shield” beschreibt die politische Sicherheit, die Taiwan aus seiner Vormachtstellung in der globalen Halbleiterindustrie gewinnt. Der Begriff bezieht sich dabei auf das Silizium, was bei der Herstellung von Chips verwendet wird. Tatsächlich werden etwa 60 Prozent der Chips und sogar 90 Prozent der fortschrittlichsten Chips weltweit in Taiwan hergestellt. Deshalb ist Taiwan für die Produktion zahlreicher Technologien auf globaler Ebene von großer Bedeutung. Aufgrund dieser Abhängigkeit wäre es gegen das wirtschaftliche Interesse zahlreicher Länder, wenn China mit einer militärischen Intervention in Taiwan die dortige Chip-Produktion beeinträchtigen und gefährden würde. Dieser wirtschaftliche Faktor, so der Gedanke hinter dem „silicon shield“, bietet Staaten wie den USA einen Anreiz, sich für den Schutz Taiwans einzusetzen.

Fußnoten

  1. Heide, Dana: "Löcher im Halbleiter-Schutzschild? Warum es in Taiwan Kritik an der Expansion von Chipriese TSMC gibt". Handelsblatt, 11.05.2023. Online verfügbar: Externer Link: https://www.handelsblatt.com/meinung/kolumnen/asia-techonomics-loecher-im-halbleiter-schutzschild-warum-es-in-taiwan-kritik-an-der-expansion-von-chipriese-tsmc-gibt-/29143260.html

Das Interview führte Dominique Ott-Despoix für bpb.de.

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Gunter Schubert ist Professor für „Greater China Studies“ am Asien-Orient-Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen (Abteilung für Sinologie) und Gründer sowie Direktor des „European Research Center on Contemporary Taiwan“ (ERCCT), einer zentralen Einrichtung der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die politische Ökonomie der sino-taiwanischen Beziehungen und taiwanische Innenpolitik. Er forscht seit mehr als dreißig Jahren in Taiwan, der VR China sowie Hongkong und hat dort zahlreiche Gastprofessuren wahrgenommen.