Analyse: Die Wirtschaft Russlands 2016
Der IWF sagte Russland 2017 wieder Wirtschaftswachstum voraus. Sanktionen? Rubelverfall? Vertrauenskrise? – Alles Schnee von gestern? In diesem Beitrag wird der Zustand der russischen Wirtschaft mit dem im Westen verglichen sowie aktuelle Gratwanderungen der russischen Wirtschaftspolitik betrachtet und daraus resultierende Perspektiven für 2017 dargeboten.
Zusammenfassung
Die Wirtschaftsleistung ist in Russland 2016 im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen, mit der Aussicht auf eine schleppende Erholung im Jahr 2017. In diesem Beitrag wird der Zustand der Wirtschaft mit dem im Westen verglichen. Dabei werden die wichtigsten Wirtschaftsmerkmale aus dem Jahr 2016 betrachtet und die Aussichten für 2017 abgeschätzt.Fragen über Fragen …
Russland war 2016 wirtschaftlich in einem schlechteren Zustand als die entwickelten Länder des Westens. Und das will etwas heißen. Die weltweite Wirtschaftskrise und deren Nachwirkungen haben sowohl Russland, als auch den Westen getroffen, allerdings nicht in gleichem Maße oder auf gleiche Weise. Was ist das Spezifische der aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Russlands? Warum gibt es solche Sorgen vor einer "Stagnation"? Wie hat die russische Wirtschaftspolitik auf die Krise reagiert? Welche Aussichten gibt es für die Zukunft?Ost-West-Perspektive
Seit Mitte 2014 wurde erneut Russlands wirtschaftliche Verwundbarkeit gegenüber sinkenden Ölpreisen deutlich. Die Sanktionen des Westens haben die Schwierigkeiten des Landes zusätzlich verstärkt. 2015 und 2016 ist die Wirtschaft Russlands geschrumpft.

Die Entwicklung im Jahr 2016

Im vergangenen Jahr 2016 haben Regierungsmitglieder wiederholt von Anzeichen gesprochen, dass die Rezession zu Ende gehe. Bislang hat sich der Rückgang zwar verlangsamt, ist aber nicht beendet. Mit der sinkenden Inflation haben die Reallöhne wieder angezogen. Andererseits befinden sich die privaten Haushalte im Sparmodus. Sie sparen eher, als dass sie Kredite aufnähmen. Die Verkäufe im Einzelhandel sind weiterhin unter Druck. Der Rückgang der Wirtschaftstätigkeit 2015–2016 fällt insgesamt mit etwas mehr als 4 % milder aus, als der im Jahr 2009 (7,8 %), ist aber länger anhaltend und hat stärkere Auswirkungen auf den Konsum der privaten Haushalte. Günstiges Wetter hat 2016 zu einer Rekordernte beigetragen, allerdings sind solche guten Nachrichten selten. Was sind die unmittelbaren Gründe für dieses Durcheinander? Einige sind externer Natur. Der Ölpreis bleibt,

Die Binnennachfrage ist schwach und wird, wenn überhaupt, wahrscheinlich nur langsam anziehen. Die Anlageinvestitionen, die gemessen an den Standards "aufholender Länder nie groß waren, hatten 2013 stagniert und sind seitdem zurückgegangen. Die Konsumnachfrage wurde von einer Phase zurückgehender Realeinkommen in der Bevölkerung getroffen. Dieser Rückgang war vor allem auf den Anstieg der Inflation zurückzuführen, der durch steigende Importpreise bei fallendem Rubelkurs verursacht wurde. Die derzeitigen Staatsausgaben sind Opfer eines Sparzwangs, der sich jetzt sogar auf die Militärausgaben erstrecken soll (s. Grafik 11).
Probleme im Inneren
Russland ist ganz offensichtlich in einen waschechten Sturm geraten, der vor allem aus fallenden Ölpreisen besteht. Allerdings haben die Probleme mit dem BIP-Wachstum und den Investitionen
Der Ölpreis befand sich zwar auf einem historischen Höchststand, stieg aber nicht mehr so stark. Die Beschäftigung stockte. Die Rolle des Staats in der Wirtschaft schien tendenziell größer zu werden und der Abfluss privaten Kapitals lag zwar unter dem Panikniveau von 2014 (152 Milliarden US-Dollar), blieb aber beträchtlich. Unter diesen Umständen könnten die Schwächen des Systems, die stets vorhanden gewesen waren, deutlicher zum Tragen gekommen sein, als bestimmte konkrete Hindernisse für Wirtschaftswachstum.
Eine wesentliche Rolle könnte hier die Schwäche der Rechtsstaatlichkeit spielen. In der Regel enthält jedes Rezept zur Stärkung der russischen Wirtschaftsleistung einen Hinweis auf eine Verbesserung des Geschäftsklimas. Es scheint hier ein allgemein anerkanntes Problem bei den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu geben. Worin genau es besteht, bleibt oft eher unbestimmt. Gesprochen wird von mehr staatlicher Unterstützung für kleine Unternehmen, Steuererleichterungen und von einer Lichtung des Behördendschungels. Manchmal werden Reformen bei Polizei und Justiz genannt, allerdings für gewöhnlich ohne eingehendere Darstellung der Einzelheiten. Der Elefant aber, der im Raum steht und den niemand zu bemerken scheint, das ist das Kapern von Vermögenswerten. Mit den Worten von Julia Zeplajewa von der "Sberbank": "Von welcher Art [Steuer-]Erleichterungen und Anreizen soll hier die Rede sein, wenn es jederzeit geschehen kann, dass sich ein Beamter oder Funktionär Ihr Unternehmen unter den Nagel reißt" ("Wedomosti"; 9. Mai 2016).
Das Problem besteht darin, dass Konkurrenten eines Unternehmens, die über gute Beziehungen zu korrupten Mitarbeitern der Sicherheits- und Gerichtsbehörden verfügen, dafür sorgen können, dass der Haupteigentümer des betroffenen Unternehmens aufgrund fingierter Beschuldigungen – meist wegen "Wirtschaftsstraftaten" – präventiv festgenommen wird, und die Konkurrenten sich dann zum Teil oder ganz die Kontrolle über das Unternehmen ihrer Opfer sichern – als Gegenleistung für deren Freilassung. Die Anzahl der "aufgedeckten" Wirtschaftsstraftaten wird oft als annäherungsweiser Indikator für das Ausmaß angenommen, in dem Unternehmen gekapert werden. Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen hat es hier einen Anstieg gegeben. Die Anzahl der vom FSB ermittelten Fälle ist von 1.586 im Jahr 2012 auf 2.926 im Jahr 2015 und auf 1.988 in der ersten Jahreshälfte 2016 gestiegen (Nikolaj Petrow und Kirill Rogow in "The New Times", 14. November 2016;
Dieses Element der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Russland schreckt viele davon ab, Unternehmen zu gründen und auszubauen, und trägt somit dazu bei, dass die Investitionen relativ gering bleiben. Wenn sich dieses Phänomen verschärft haben sollte, dürften die Auswirkungen noch schädlicher ausfallen.
Politik in der Krise
Wie auch immer es um die institutionellen Schwächen bestellt sein mag, die Wirtschaftspolitik im makroökonomischen Bereich ist – zum Guten wie Schlechten – in einem westlichen, liberalen
Auch die Fiskalpolitik lässt sich als orthodox bezeichnen. Am 28. Oktober 2016 hat die Regierung dem Parlament den Entwurf für den föderalen Haushalt 2017 sowie die Haushaltspläne für 2018 und 2019 vorgelegt, die (real bemessen) Ausgabenkürzungen vorsahen. Die Ausgaben waren bereits im Lauf des Jahres 2016 gekürzt worden. Die aktuellen Haushaltspläne basieren auf der vom Finanzministerium intensiv vertretenen Annahme, dass der Ölpreis für die Sorte "Urals" bis 2018 im Schnitt bei 40 US-Dollar pro Barrel liegen werde. Wie Grafik 12 verdeutlicht, ist der Ölpreis für die Einnahmen des föderalen Haushalts von entscheidender Bedeutung. Die Haushaltspläne könnten allerdings weniger sicher sein, als das geldpolitische Programm der Zentralbank. In der Tat zählt Elwira Nabiullina die Haushaltspolitik zu einer der Unwägbarkeiten, mit denen die Zentralbank zu kämpfen habe. Die Haushaltskürzungen sind kontrovers gewesen und haben Berichten zufolge zu wütenden Auseinandersetzungen innerhalb der Regierung geführt. 2018 stehen Präsidentschaftswahlen vor der Tür und Ministerpräsident Medwedew hat bereits erklärt, dass die Ausgabenbeschränkungen revidiert werden könnten, falls die Ölpreise über die Haushaltsannahme von 40 US-Dollar pro Barrel hinaus ansteigen sollten. Kurz gesagt, die Haushaltspolitik verfolgt einen Sparkurs, ist aber wie auch in anderen Ländern, die eine "fiskale Konsolidierung" anstreben, eine Politik im Belagerungszustand.
Ausblick
2017 dürfte eine neue Wirtschaftsstrategie zu Tage treten und diskutiert werden. Sie wird wohl kaum kohärent sein. Falls doch, und falls sie sich erheblich von den derzeit geltenden Vorgehensprinzipien unterscheidet, so ist es unwahrscheinlich, dass sie auch verabschiedet und umgesetzt wird. Zwei Gruppen – eine vom ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin angeführte "liberale" und eine etatistisch ausgerichtete unter der Führung von Boris Titow und Sergej Glasjew – arbeiten an eigenen Programmen, die dann zu einer Gesamtstrategie zusammenzuführen wären, die auf ein Wirtschaftswachstum von jährlich rund 4 % abzielt. Die Gruppe um Kudrin befürwortet einen Sparkurs, die Gruppe um Titow und Glasjew steht für Anreize. Es ist nur schwer vorstellbar, wie hieraus ein gemeinsamer Plan mit Substanz entstehen kann. Beide Gruppen erklären, sie wollten die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern. Eine Bewegung in Richtung Rechtsstaat aber, die ohne grundlegenden politischen Wandel unternommen wird, dürfte schwierig werden.Es wird wohl eine allmähliche Erholung beim Konsum und eine anhaltend positive Handelsbilanz geben (selbst ohne einen nachhaltigen Anstieg des Ölpreises). Die finanziellen Reserven könnten – betrachtet man die gegenwärtigen Haushaltspläne – gerade eben so reichen, während das Defizit des föderalen Haushalts von den 4 % im Jahr 2016 zurückgehen dürfte. Der Reservefonds wird im Laufe von 2017 wohl nahezu vollständig in Anspruch genommen werden; allerdings steht noch der nationale Wohlfahrtsfonds mit weiteren Reserven von rund 4 % des BIP zur Verfügung. Die bemerkenswerte "Privatisierung" von "Baschneft" durch die staatliche "Rosneft" und eine weitere Privatisierung durch den Verkauf von 19,5 % der Anteile von "Rosneft" an einen katarischen Wohlstandsfonds und an "Glencore" könnten hilfreich sein, wie zwielichtig die Prozesse auch sein mögen. Die öffentlichen Finanzen werden vermutlich irgendwie über die Runden kommen.
Es wird weithin mit einer langsamen Erholung der Wirtschaftsleistung und einem Anstieg des BIP um 1 % gerechnet. Niemand kann den Ölpreis vorhersagen, doch könnte der sehr wohl günstiger ausfallen, als im Haushaltsplan angenommen. Das würde zwar bei der Bewältigung der drängendsten Probleme helfen, das langfristige Problem des nur zögerlichen Wachstums aber ungelöst lassen.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schöder
Die Russland-Analysen werden von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde erstellt. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb veröffentlicht sie als Lizenzausgabe.