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"Raketenangriffe sind das einzige Mittel, das Russland aktuell übrighat" | Hintergrund aktuell | bpb.de

"Raketenangriffe sind das einzige Mittel, das Russland aktuell übrighat" Interview mit Militäranalyst Niklas Masuhr

Redaktion

/ 8 Minuten zu lesen

Seit Monaten zielen russische Raketenangriffe darauf ab, kritische Infrastrukturen in der Ukraine zu treffen. Der Militäranalyst Niklas Masuhr erklärt im Interview, was Russland damit erreichen will.

Eine russische Rakete verwüstete am 4. Oktober 2022 ein Umspannwerk in der ukrainischen Stadt Charkiw. (© picture-alliance, AA | Sofia Bobok)

Niklas Masuhr ist Mitglied des Global Security Teams der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich und beschäftigt sich mit aktuellen Konflikten, Verteidigungspolitik und militärischen Strategien.

bpb.de: Herr Masuhr, es mehren sich in den vergangenen Wochen die Berichte über russische Angriffe auf die Energie- und Wasserinfrastruktur in der Ukraine. Welches Ziel verfolgt Russland damit?

Niklas Masuhr: Das vorrangige Ziel scheint zu sein, dass man den Widerstandswillen der Ukraine brechen will. Die humanitäre Lage soll derart verschlechtert werden, dass aus der ukrainischen Bevölkerung Druck auf die Regierung in Kiew ausgeübt wird. Eine weitere Folge könnte sein, dass mit Interner Link: steigenden Flüchtlingszahlen ebenfalls der Druck auf die westlichen Regierungen ausgeübt wird. Das sind die strategischen Erklärungsversuche. Was jedoch ebenfalls hinzukommt, ist die Tatsache, dass die russische Armee derzeit nicht in der Lage ist, Offensivoperationen durchzuführen. Solche Raketenangriffe sind das einzige Mittel, das Interner Link: Russland aktuell übrighat, um die Ukraine zu treffen.

bpb.de: Wie lange kann Russland diese Strategie durchhalten?

Niklas Masuhr: Wenn man Beobachtern wie dem Externer Link: Institute for the Study of War (ISW) in Washington, D.C. glaubt, dann war der massive Raketenschlag am 15. November, bei dem etwa 100 Raketen auf die Ukraine abgeschossen wurden, vorerst einer der letzten großen Angriffe. Russland kann es sich bald nicht mehr erlauben, selbststeuernde Präzisionswaffen wie Iskander- oder Kalibr-Raketen für einen solch komplexen Schlag einzusetzen – also Raketen. Der russischen Armee geht die Präzisionsmunition aus. Es gab bereits von Beginn an nur begrenzte Vorräte, und ein gewisser Anteil davon wird wohl auch für eine eventuelle Eskalation mit der Interner Link: NATO zurückgehalten.

bpb.de: Der Iran liefert seit einigen Wochen mutmaßlich Drohnen an Russland. Welchen Einfluss hat das auf das Kriegsgeschehen?

Niklas Masuhr: Im Unterschied zu diesen Drohnen können die Präzisionswaffen genauer treffen. Die Gewissheit, dass ein avisiertes Ziel auch zerstört wird, ist wesentlich höher als bei den iranischen Shahed-136-Drohnen. Was am 15. November stattgefunden hat, war der komplexeste Schlag seit Beginn des Krieges – aus verschiedenen Winkeln, mit boden-, see- und luftgestützten Systemen. Der Koordinationsaufwand war hoch. Und das ist etwas, was Russland nicht unbegrenzt leisten kann.

bpb.de: Nach welchen Maßgaben wurden die Ziele ausgewählt?

Niklas Masuhr: Offenbar wurden die Kenntnisse über das Elektrizitätsnetz ausgenutzt, das noch zu Zeiten der Interner Link: Sowjetunion aufgebaut wurde. So gelang es der russischen Armee, besonders empfindliche Punkte zu treffen.

bpb.de: Welche Verantwortung erwächst für Länder wie Deutschland und andere westliche Verbündete aus den jüngsten Angriffen?

Niklas Masuhr: Klar ist, dass die Ukraine Flugabwehrsysteme braucht. Wir wussten schon zu Beginn des Krieges, dass dies für die Ukraine eine kritische Fähigkeit sein wird. Das wird nun zusätzlich dadurch verschärft, dass Flugabwehrsysteme auf westlicher Seite einen gewissen "Bottleneck" [Anm. der Redaktion: Engpass] darstellen. Man war sich seit 2014 bewusst, dass man diese Systeme wieder brauchen wird, aber allzu viel ist in der Anschaffung nicht passiert. Das System Externer Link: IRIS-T etwa wird bis heute nicht in der Interner Link: Bundeswehr eingesetzt. Jetzt muss man von den vergleichsweise wenigen Systemen, die in westlichen Staaten im Einsatz sind, auch noch eine gewisse Zahl zurückhalten, um die Bündnis- und Landesverteidigung zu gewährleisten.

bpb.de: Deutschland hat der Ukraine Waffen, darunter das genannte Flugabwehrsystem Iris-T und den Flakpanzer Gepard, geliefert. Wie schätzen Sie den Umfang der bisher gelieferten Waffen ein?

Niklas Masuhr: Die Limits liegen beim politischen Willen zur Lieferung und bei der Verfügbarkeit von Waffen. Im Rahmen dessen wird einiges geliefert. Allerdings hängen die Lieferungen auch davon ab, wie viel Munition und wie viele Ersatzteile jeweils zur Verfügung stehen. Das sind die weniger bekannten Resultate der Sparpläne aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, wenn es etwa um die fehlenden Vorräte bei der Munition geht. Mittlerweile betrifft das selbst die USA. Und allzu viel Widerstand haben diese Sparmaßnahmen Interner Link: in der Öffentlichkeit nicht ausgelöst. Als der Gepard ausgemustert wurde, gab es Bauchschmerzen in der Bundeswehr, sonst eher nicht. Wenn Munitionsreserven zusammengespart werden, bekommt das so gut wie niemand mit.

bpb.de: Reicht der Umfang der Waffenlieferungen aus Ihrer Sicht insgesamt aus, damit die Ukraine damit eine Entscheidung in diesem Krieg herbeiführen kann?

Niklas Masuhr: Die Strategie der ukrainischen Armee ist es seit Kriegsbeginn, die russische Logistik abzunutzen und in offensiven Phasen russische Truppen, die von ihrer Versorgung abgeschnitten sind, zu isolieren. Das hat bisher gut funktioniert, auch bei den Gefechten in der Oblast Cherson. Aber das heißt noch lange nicht, dass dies in den Oblasten Luhansk oder Donezk ebenfalls klappt. Wenn es zu Gefechten in Gebieten kommt, wo die Truppendichte größer ist, brauchen die Ukrainer womöglich schwerere Kampffahrzeuge wie gepanzerte Truppentransporter und auch Kampfpanzer. Die Ukrainer sind über den Verlauf des Krieges sehr gut darin gewesen, strategische Effekte zu erzielen, ohne eine "Goldrandlösung" zu haben. Nehmen wir zum Beispiel Schläge in diese Tiefe des gegnerischen Raums: Das kann man sehr gut mit HIMARS-Raketenwerfern bewerkstelligen, die mit Kurzstreckenraketen ausgerüstet sind. Deswegen fordern die Ukrainer auch seit Monaten die Lieferung von Raketen mit deutlich höheren Reichweiten. Was man aber auch gesehen hat: Es geht bisweilen auch ohne solche Lieferungen. Bei dem Angriff auf den russischen Luftwaffenstützpunkt Saki auf der Krim im August ist nach wie vor unklar, wie genau der Schlag durchgeführt wurde – auch wenn einiges auf Loitering Munition („lauernde Munition“), die womöglich von Spezialkräften gestartet wurde, hinweist. Bisher hat die ukrainische Armee es vermeiden können, Frontalangriffe auf verschanzte russische Kräfte führen zu müssen. Sobald das nicht mehr funktioniert, kann das Fehlen von Panzerfahrzeugen stark ins Gewicht fallen.

bpb.de: Was können westliche Länder abseits von Waffenlieferungen tun?

Niklas Masuhr: Es hilft auch alles Weitere, was man abseits des militärischen Bereichs tun kann, um die Funktionsfähigkeit des ukrainischen Staates aufrecht zu erhalten. Da sprechen wir von Interner Link: humanitärer Unterstützung, von organisatorischer Unterstützung und natürlich auch davon, dass im Westen die politische Solidarität hochgehalten werden muss. Russische Versuche, den Westen einzuschüchtern – sei es über die Interner Link: Gaslieferungen, sei es über die Interner Link: nuklearen Drohungen – haben bisher nicht so wie von Moskau gewünscht funktioniert. Wenn man Deutschland als Beispiel für ein Land nimmt, das vor dem Krieg nicht unbedingt zu den Russland-skeptischsten Ländern zählte, dann erkennt man sehr gut: Moskau hat seit Beginn der Invasion viel weniger politisches Kapital, als es sich womöglich manch einer dort erhofft hat. Russland wird nun nach Lücken im System suchen, um den Westen zu spalten. Es wird darum gehen, diese Spaltungsversuche zu verhindern.

bpb.de: Ukrainische Truppen haben im Süden und Osten Gebietsgewinne verzeichnet. Zuletzt wurde Cherson befreit. Wie bedeutsam sind diese Gebietsgewinne für den weiteren Kriegsverlauf?

Niklas Masuhr: Es gibt natürlich eine politische und moralische Wirkung: Die Bilder von den befreiten Gebieten sind wichtig für die Ukrainerinnen und Ukrainer, um zu zeigen, dass es dabei eben nicht nur um Gebietsgewinne, sondern auch um Befreiung geht. Diejenigen Menschen, die immer noch hinter der roten Linie auf der Landkarte in Russisch besetztem Gebiet leben, tun das nicht freiwillig. Auf der militärischen Seite war vor allem die Einnahme von Cherson entscheidend. Über dieses Gebiet kann Russland nun künftig nicht mehr in die Ukraine einfallen, in Richtung Mykolajiw und Odessa. Die Front ist quasi versiegelt. Im Winter, wo es zu einer Verstetigung der Frontlinien kommen könnte, ist dies zusätzlich wichtig – und man kann es auch als eine Vorbereitung für eine künftige Phase des Krieges lesen.

bpb.de: Wie wird die russische Armee durch den Winter kommen?

Niklas Masuhr: Es ist bekannt, dass die Moral bei den russischen Truppen sehr schlecht ist. Die Armee ist extrem heterogen. Da sind zum einen die Zeitsoldaten, denen man ursprünglich mal versprochen hatte, dass ihre Verträge mit dem Jahreswechsel enden würden. Durch das Mobilisierungsgesetz werden diese Verträge nun verlängert. Dann gibt es militärisch unerfahrene Wehrpflichtige. Es gibt auch Söldner und für den Kampf rekrutierte Verbrecher. All das ist keine gesunde Mischung. Von den jüngst mobilisierten 300.000 Soldaten werden laut Kreml bereits 50.000 in der Ukraine eingesetzt, 250.000 könnten also noch in das Land verlegt werden. Hier wird es darauf ankommen, wie gut man diese Truppen ausbilden kann und wie viele Truppen man von der Front rotieren kann. Es gibt ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten, wo die russische Armee am Ende dieses Winters steht. Von einem desolaten Zustand bis hin zur Wiedererlangung gewisser Offensivfähigkeiten ist vieles möglich.

bpb.de: Hat die von Wladimir Putin verkündete Mobilisierung der russischen Armee geholfen?

Niklas Masuhr: Wir sprechen hier von zwei Gruppen von Wehrpflichtigen. Bei den einen geht es darum, die neu aufgebauten Verteidigungslinien zu besetzen und zu verhindern, dass es einen Fronteinbruch gibt. Man weiß, dass diese Leute teilweise nur etwa eine Woche ausgebildet wurden und in manchen Fällen noch nicht einmal scharfe Munition in ihrer Ausbildung verwenden durften. Daher wird es entscheidend sein, ob es Russland schafft, auch andere Wehrpflichtige auszubilden und zu organisieren. Einige der größten Fehler der Russen in diesem Krieg sind auch darauf zurückzuführen, wie man sich organisiert hat.

bpb.de: Welche Bedeutung hat der Einsatz der Söldnergruppe Wagner in der Ukraine?

Niklas Masuhr: Einerseits scheint Wagner in der Praxis Sondereinsatztruppen ähnlich zu sein, die eine gewisse Erfahrung haben und die in der Lage sind, etwas komplexere und vor allem offensive Aufgaben durchzuführen. Die Frage ist aber andererseits, ob Wagner-Soldaten auch eingesetzt werden, um neue Wehrpflichtige auszubilden. Das war die ursprüngliche Aufgabe von Wagner bei früheren Einsätzen etwa in Syrien oder in verschiedenen afrikanischen Ländern. Wo das Verhältnis zwischen diesen beiden Funktionsebenen liegt, lässt sich schwer sagen. Es spricht aber einiges dafür, dass die Rolle von Wagner in der Ukraine kampfbetonter ist als früher. Bei Bachmut in der Oblast Donezk wurden Wagner-Söldner eingesetzt, weil sie eben in der Lage sind, Offensivoperationen durchzuführen. Aus ähnlichen Gründen kann man den russischen Abzug aus Cherson in einem Teilaspekt betrachten: Hier war ein Großteil der verbliebenen Luftlandekräfte stationiert, dem noch eine erhöhte Einsatzbereitschaft zugerechnet wurde. Möglicherweise hat man gedacht, dass diese sehr erfahrenen Kräfte künftig noch an anderer Stelle gebraucht werden – und dass es weniger Sinn ergibt, sie im Häuserkampf zu verlieren.

Das Interview wurde am 17.11.2022 geführt und autorisiert.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine Oblast bezeichnet ein größeres Verwaltungsgebiet. Außer der Ukraine gibt es diese Verwaltungseinheit auch in der Ukraine, Bulgarien, Kasachstan, Kirgisistan und der Slowakei.

  2. Eine Goldrandlösung bezeichnet eine technisch ideale Lösung, die oftmals sehr teuer ist.

  3. Luftlandekräfte oder Luftlandetruppen werden hinter der feindlichen Linie abgesetzt, um inmitten des feindlichen Gebiets zu kämpfen und sogenannte Schlüsselgelände besetzen zu können. Ein Einsatz muss nicht zwangsläufig aus der Luft (Helikopter oder Fallschirm) erfolgen, sondern kann auch per Eilverlegung auf den Straßen vollzogen werden.

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