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Ukraine | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Ukraine

Andreas Umland

/ 9 Minuten zu lesen

Nachdem alle russischen Versuche der Destabilisierung, Unterwanderung und Annexion der Ukraine mehr oder weniger gescheitert sind, hat Moskau einen massiven Angriffskrieg begonnen. Damit ist auch der geopolitische Konflikt zwischen Russland und dem Westen um die europäische Sicherheitsordnung in eine neue Phase eingetreten.

Frisch ausgehobene Gräber in Butscha, 15. Mai 2022. In Butscha waren nach dem Abzug der russischen Truppen Hunderte Leichen gefunden worden – teils mit auf den Rücken gebundenen Händen. Außenministerin Baerbock sprach in Butscha von "Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit". (© picture-alliance, epa)

Aktuelle Konfliktsituation

Mit dem Beginn des offenen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 änderte sich der Charakter des russisch-ukrainischen Konfliktes in mehrfacher Hinsicht. Anstelle der Unterstützung der prorussischen Separatisten in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine griff Moskau nun zum Mittel der direkten und unverdeckten militärischen Aggression. Der Angriff erfolgte gleichzeitig in der Ost-, Nord- sowie Südukraine zu Land, zur See und aus der Luft unter Verwendung des gesamten konventionellen Waffenarsenals, einschließlich Panzern, Artillerie, Raketen und Kampfflugzeugen.

Ukraine - Physische Übersicht, Grenzen und Verkehr (mr-kartographie Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Der Krieg gegen die Ukraine wird auch von in Belarus stationierten russischen Truppen geführt. Zwar kamen bis Anfang Mai 2022 nach bisherigen Erkenntnissen keine regulären belarussischen Einheiten auf ukrainischem Boden oder ukrainische Truppen auf belarussischem Gebiet zum Einsatz. Jedoch änderte die großangelegte russische Nutzung von Belarus als Aufmarschgebiet den Charakter des bis dahin bilateralen russisch-ukrainischen Konflikts und verwandelte ihn in eine nunmehr dreiseitige militärische Auseinandersetzung.

Russland bombardiert parallel zur Bodenoffensive nahezu täglich ukrainische Städte, Infrastruktur, Industrieanlagen sowie Munitionsdepots und Militärbasen. Dabei kommen Kurzstreckenraketen, Marschflugkörper, Jagdbomber, Hubschrauber und Drohnen zum Einsatz. Im Donbas wurden offenbar etliche Landstriche von russischen Truppen vollständig vermint. Die russischen Raketenangriffe wurden teils vom russischen Territorium und teils von Kriegsschiffen im Schwarzen und Kaspischen Meer aus geführt. Sie betreffen u.a. die Hauptstadt Kiew sowie weitere Großstädte, wie Charkiw und Odessa, und reichen bis in die vom Kampfgeschehen im Süden und Osten des Landes weit entfernten westukrainischen Gebiete Galizien, Wolynien and Transkarpatien.

Russische Truppen beschießen offenbar in terroristischer Absicht auch zivile Einrichtungen, wie Krankenhäuser, Schulen, Kultureinrichtungen und Schutzräume. Die massenhafte Plünderung, Folterung, Verstümmelung, Vergewaltigung und Ermordung ukrainischer Zivilisten und Zivilistinnen ist Teil der russischen Kriegführung. Von Kriegsverbrechen besonders betroffen sind die Hafenstadt Mariupol sowie einige Vororte von Kiew, so die Kleinstädte Butscha, Borodjanka und Irpin. Dort und in einigen anderen Orten wurden tausende ukrainische Zivilisten Opfer von gezieltem Terror seitens regulärer russischer Truppen, tschetschenischer Einheiten mit unklarem Status und Verbänden der "Volkrepubliken".

Infolge des Vernichtungskrieges Russlands gegen die ukrainische Zivilbevölkerung hat sich die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge sowohl im In- als auch im Ausland rapide erhöht. Bis Mai 2022 haben ca. 5,4 Mio. Menschen das Land verlassen. Außerdem organisiert Moskau groß angelegte Deportationen, auch minderjähriger Staatsbürger der Ukraine, und den Abtransport ukrainischer Getreidevorräte und Landmaschinen nach Russland. Die Häufung von Kriegsverbrechen hat dazu geführt, dass etliche sowohl politik- als auch geschichts- und rechtswissenschaftlich bewanderte Beobachterinnen und Beobachter den Völkermordbegriff bei der Beschreibung des russischen Verhaltens in der Ukraine verwenden.

Die ukrainischen Streitkräfte mussten zwar erhebliche Verluste hinnehmen, stellten sich jedoch als schlagkräftiger heraus, als von vielen – nicht zuletzt russischen – Beobachtern angenommen worden war. Der relative Erfolg der ukrainischen Armee ist unter anderem auf ihre hohe Kampfmoral, Unterstützung durch die Bevölkerung, teilweise Ausrüstung mit hochmodernen Defensivwaffen aus ukrainischer und westlicher Produktion sowie intensive nachrichtendienstliche Zusammenarbeit mit westlichen Staaten zurückzuführen. Seit April 2022 kommt es zunehmend zu Explosionen und Bränden in Infrastruktureinrichtungen und Militäranlagen in Russland, wobei teils unklar bleibt, von wem und wie genau diese Anschläge verübt werden.

Ursachen und Hintergründe

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 waren der offizielle Status der russischen Sprache (ca. 17 % der ukrainischen Bevölkerung sind ethnische Russen), die Interpretation der zaristischen und sowjetischen Geschichte sowie die geopolitische Orientierung der Ukraine regelmäßige Streitthemen im ukrainischen öffentlichen Diskurs. Doch verliefen diese Auseinandersetzungen für zwei Jahrzehnte friedlich. Anders als in einigen anderen postsowjetischen Staaten, wie Estland, Georgien oder Lettland, wurden Fragen der Identität, Staatsbürgerschaft und Kultur betont liberal behandelt.

Die tiefere Ursache für die gewachsene rhetorische, politische und militärische Aggressivität der russischen Führung während und nach der Euromaidan-Revolution (November 2013 bis Februar 2014) in der Ukraine ist hauptsächlich innen- und weniger außenpolitischer Natur. Durch das Schüren von Verschwörungstheorien und Paranoia will das Putin-Regime neue Legitimationsquellen für die Sicherung seiner autokratischen Herrschaft erschließen. Der bis zur globalen Finanzkrise von 2008 implizite wohlfahrtsautoritäre Gesellschaftsvertrag zwischen der herrschenden Elite und dem Volk war aufgrund der stagnierenden Wirtschaftsentwicklung und schrumpfender Realeinkommen nicht mehr zu erfüllen.

Der Kreml fürchtete zunehmend, dass eine erfolgreich „europäisierte“ Ukraine als ein postsowjetisches Gegenmodell zum "System Putin" kleptokratischer Abschöpfung von Renten aus Rohstoffexporten (nicht zuletzt in die EU) entstehen könnte. Mit der Fertigstellung der ersten Nord Stream-Gaspipeline durch die Ostsee von Wyborg nach Lubmin Ende 2012 sank zudem die Abhängigkeit des russischen Staatskonzerns Gazprom vom ukrainischen Gasleitungssystem. Die zunehmende energiewirtschaftliche Entflechtung zwischen Russland und der Ukraine trug wesentlich zu den sich ab 2013 verschärfenden Spannungen zwischen den beiden UdSSR-Nachfolgestaaten bei.

Vor diesem Hintergrund hat die russische Führung in den Umbruchswirren 2013/14 die kultur- und geopolitische Meinungsgegensätze sowie die wachsende Medienpräsenz marginaler ultranationalistischer Gruppen in der Ukraine gezielt genutzt, um Teile der Bevölkerung des Donezbeckens für einen "Bürgerkrieg" gegen die "Banderowzy" zu mobilisieren. Moskau gelang es, sowohl in der Ukraine als auch in Russland einige zehntausend militante Großrussland-Anhänger für eine paramilitärische Intervention bzw. separatistische Kollaboration im Donbas zu rekrutieren. Eine massive Propagandakampagne verunglimpfte die beginnende Demokratisierung, nationale Emanzipation und Europäisierung der Ukraine als antirussischen, ja „faschistischen“ Putsch und ihre Westorientierung als fundamentale Verletzung nationaler und geostrategischer Interessen Russlands.

Parallel zur völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim und von Teilen der Ostukraine wurde der "hybride Krieg" gegen die Ukraine intensiviert, in dem nichtmilitärische Kampfformen (z.B. Wirtschaft, Medien, "Passportisierung" ) eine ebenso große Rolle spielen wie direkte militärische und verdeckte geheimdienstliche Operationen. Die Krim wurde zunehmend in die russische Administration und Wirtschaft sowie das Kulturleben und Bildungswesen der Russischen Föderation eingegliedert. Mit der Errichtung einer Brücke über der Kertscher Meerenge entstand eine Verkehrsverbindung zwischen der Krim und dem russischen Festland.

Der Machtwechsel in Kiew nach der Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten und Sieg seiner Partei "Diener des Volkes" bei den Parlamentswahlen im Frühjahr und Sommer 2019 bewirkte eine Auswechselung nahezu der gesamten politischen Elite und die Übernahme der Exekutive und Legislative durch eine neue betont antinationalistische politische Mannschaft. Allerdings blieb die proeuropäische und -atlantische Orientierung der Ukraine auch unter der neuen Führung der Ukraine bestehen. Der in Moskau erhoffte prorussische Kurswechsel Kiews nach Abtritt des national orientierten fünften Präsidenten Petro Poroschenko trat nicht ein. Es gab keine ukrainischen territorialen oder politischen Konzessionen im Rahmen der Verhandlungen der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk sowie des sog. Normandie-Formats.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Bereits im März 2014 initiierte die Ukraine gemeinsam mit westlichen Regierungen eine Abstimmung der UN-Vollversammlung, bei der sich 100 Staaten gegen die Annexion der Krim aussprachen, während 11 Staaten (Armenien, Belarus, Bolivien, Kuba, Nikaragua, Nordkorea, Russland, Simbabwe, Sudan, Syrien und Venezuela) die Resolution ablehnten. Auch die OSZE wurde aktiv. Sie entsandte eine spezielle Beobachtermission in die Ukraine mit Schwerpunkt auf dem Kriegsgebiet und unterstützte Friedensverhandlungen in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Dort versuchten im September 2014 und Februar 2015 Deutschland und Frankreich, zwischen Russland und der Ukraine einen Ausgleich bezüglich des Donbas zu vermitteln.

Die Vereinbarungen führten jedoch weder zu einer wirksamen Waffenruhe noch zur Wiederherstellung der Kontrolle Kiews über die Territorien der beiden "Volksrepubliken" in der Ostukraine. Vielmehr besetzten die "Separatisten" mit Unterstützung regulärer russischer Truppen im Februar 2015 in demonstrativer Missachtung des kurz zuvor unterzeichneten zweiten Minsker Abkommens gemeinsam in einer blutigen Schlacht den Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe und umliegende Gebiete.

Anfängliche Bemühungen der ukrainischen Regierung, einen verfassungsmäßigen Sonderstatus der okkupierten Teile der Regionen Luhansk und Donezk zu schaffen, stießen allerdings nicht nur unter ultranationalistischen Gruppen, sondern in den meisten Fraktionen des Parlaments und in einer Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft auf Widerstand. Die meisten Kritiker der Minsker Abkommen verlangten, dass zunächst die illegalen bewaffneten Gruppen aus den Separationsgebieten abziehen und die Grenze zu Russland vollständig unter ukrainische Kontrolle zurückkehren müssten. Erst danach könnten Regional- und Kommunalwahlen durchgeführt und besondere Autonomierechte gewährt werden. Andere Kritiker verwiesen auf die seit 2014 ohnehin stattfindende Dezentralisierung der Ukraine und lehnten darüberhinausgehende Sonderrechte für die vom Kreml kontrollierten Territorien ab.

Unterdessen schritt die Entfremdung zwischen dem ukrainischen Kernland und den annektierten Gebieten auch auf kulturellem Gebiet voran. Mit dem Bildungsgesetz von 2017 wurde Ukrainisch (mit einigen Ausnahmen) als einheitliche Unterrichtssprache in staatlichen Schulen ab der Sekundarstufe eingeführt. 2018 war das Sprachengesetz von 2012, das die Verwendung von Russisch als Amtssprache zuließ, vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig ausgesetzt worden. Das neue Sprachengesetz von 2019 definiert Ukrainisch als alleinige Staatssprache und schreibt seine ausschließliche bzw. überwiegende Anwendung in vielen Gesellschaftsbereichen vor.

Seit Beginn der russischen Großinvasion im Februar 2022 haben sich die Voraussetzungen für eine Verhandlungslösung des Konflikts deutlich verschlechtert. Die Minsker Vereinbarungen sind hinfällig geworden. Stand Mai 2022 gibt es sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite weder eine Verhandlungsgrundlage noch einen Verhandlungswillen. Zwar hatte die Ukraine im März 2022 mögliche Konzessionen angedeutet, darunter einen Neutralitätsstatus des Landes im Falle alternativer Sicherheitsgarantien sowie Verhandlungen mit Russland betreffs der vor dem 24. Februar 2022 besetzten ukrainischen Gebiete. Doch führten auch diese Vorschläge nicht zu einer Annäherung. Stattdessen bewirkte der Fortgang des Krieges und die Aufdeckung von Kriegsverbrechen eine Verhärtung der Positionen.

Geschichte des Konfliktes

Die "Revolution der Würde" am 21. November 2013 begann mit kleineren Demonstrationen gegen die Verschiebung der Unterzeichnung des ukrainischen Assoziierungsabkommens mit der EU. Nach der blutigen Auflösung eines Zeltlagers proeuropäischer Intellektueller und Studierender auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz weiteten sich die Proteste schnell aus. Die antioligarchische und prodemokratische Massenbewegung gipfelte am 21. Februar 2014 im Sieg über das kleptokratische Regime des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch sowie dessen Flucht nach Russland. Das Parlament enthob daraufhin den Präsidenten seines Amtes und setzte Neuwahlen an.

März 2014: Russische Soldaten ohne Abzeichen besetzen eine ukrainische Kaserne in Perevalnoye auf der Krim. (© picture-alliance, cityexpress24)

Russland nahm die unübersichtliche Lage nach dem Sieg des Euromaidans zum Anlass, um die mehrheitlich von ethnischen Russen besiedelte Krim (ca. 60 % der lokalen Bevölkerung) zu annektieren. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde das Parlamentsgebäude der Autonomen Republik Krim in Simferopol von einer Spezialeinheit der russischen Marinebasis in Sewastopol gestürmt. Im Anschluss wurden weitere Verwaltungsgebäude und ukrainische Kasernen von schwerbewaffneten russischen Einheiten ohne Rang- und Hoheitszeichen besetzt. Unter ihrem Druck beschlossen das Republiksparlament und die vom Kreml eingesetzte provisorische Regierung die Sezession und führten ein Pseudoreferendum durch. Am 18. März 2014 wurde in Moskau der (illegale und illegitime) Vertrag über den Beitritt der Republik Krim und der Stadt Sewastopol zur Russischen Föderation unterzeichnet.

Der Krieg in der Ostukraine nahm im Frühjahr 2014 seinen Anfang mit der gewaltsamen Besetzung von Regierungsgebäuden in den Gebieten Luhansk und Donezk durch bewaffnete prorussische Gruppen, die häufig von russischen Staatsangehörigen geführt und mittelbar aus Moskau angeleitet sowie finanziert wurden. Erste traurige Höhepunkte der schnell eskalierenden Kämpfe waren die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen prorussischen und proukrainischen Aktivisten am 2. Mai 2014 in Odessa, bei denen 48 Menschen ums Leben kamen, sowie der Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs durch eine russische Flugabwehrrakete vom Typ "Buk" am 17. Juli 2014 über der Ostukraine, bei dem alle 298 Insassen starben.

Die ukrainische Armee war zu Beginn der Kampfhandlungen 2014 schlecht ausgerüstet und unterfinanziert, ihre Führung teilweise von russischen Agenten unterwandert. Daher spielten in der Anfangsphase des russisch-ukrainischen Krieges zahlenmäßig schwache, jedoch hochmotivierte Freiwilligenverbände eine wichtige Rolle, darunter von Rechtsextremisten gegründete Einheiten, wie das Bataillon "Asow", welches Ende 2014 in ein Regiment umgeformt, in die Nationalgarde des Innenministeriums eingegliedert sowie im Weiteren entideologisiert wurde. Die teils aus den Protesten auf dem Euromaidan hervorgegangenen Verbände verhinderten im Sommer und Herbst 2014 die Ausweitung der verdeckten russischen Intervention im Donbas. Bis auf einige halbreguläre paramilitärische Kleingruppen, wie das Ukrainische Freiwilligenkorps des Rechten Sektors, wurden die Einheiten in die Truppen des Verteidigungs- bzw. Innenministeriums eingegliedert.

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Andreas Umland, Dr. phil., Ph. D., ist Analyst des Stockholmer Zentrums für Osteuropastudien (SCEEUS) am Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten (UI) sowie Dozent für Politologie an der Kiewer Mohyla-Akademie (NaUKMA).