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HIDDEN CODES - mit Serious Games gegen Radikalisierung vorgehen

Theresa Kühnert

/ 7 Minuten zu lesen

Das Spiel HIDDEN CODES soll Jugendliche darin schulen, Radikalisierung zu erkennen und entgegenzutreten. Warum das Spiel ein Novum ist und was es ausmacht, erklären die Entwickler von der Bildungsstätte Anne Frank und Playing History.

Jugendliche lernen in HIDDEN CODES spielerisch auf Radikalisierung im eigenen Freundeskreis zu reagieren. (© Bildungsstätte Anne Frank)

Was ist die Idee hinter dem Spiel HIDDEN CODES und wie kam es zur Zusammenarbeit zwischen der Bildungsstätte Anne Frank und den Spieleentwicklern von Playing History?

Deborah Schnabel, BS Anne Frank: Die Idee hinter dem Spiel ist es, ein Produkt für Jugendliche zu schaffen, bei dem sie für Radikalisierung im Netz sensibilisiert werden und gleichzeitig erste Handlungsmöglichkeiten an die Hand bekommen, um Radikalisierung im eigenen Umfeld entgegenzutreten. Um der Lebensrealität von Jugendlichen möglichst nahe zu kommen, haben wir die sozialen Medien als Handlungsort gewählt. Thematisch fokussieren wir unterschiedliche Formen der Radikalisierung, wie rechtsextremistische und islamistische Radikalisierung. Die Idee für das Spiel haben wir in einer langen Recherchephase intern entwickelt. Durch eine Anschubfinanzierung der Externer Link: Stiftung EVZ und die folgende Modellprojektförderung durch Externer Link: „Demokratie leben!“ können wir das Projekt nun umsetzen. Wir haben sehr viel inhaltliche Kenntnis und eine gute Vorstellung davon, wie man mit Jugendlichen pädagogisch in diesem Themenfeld arbeitet. Für die Spielentwicklung wollten wir einen starken Partner haben, der die Expertise im Bereich Serious Games, vor allem auch für politisch relevante Themen mitbringt. Wir haben das Projekt ausgeschrieben und unsere Wahl ist auf Playing History gefallen.

Martin Thiele-Schwez, Playing History: Uns bringt die Zusammenarbeit mit der Bildungsstätte Anne Frank auch als Unternehmen weiter, da sie uns noch weiter für Themen wie Rassismus und Antisemitismus sensibilisiert. Daher freuen wir uns sehr über die Möglichkeit der Zusammenarbeit.

Welche Formen der Radikalisierung werden in späteren Episoden von HIDDEN CODES bearbeitet und lässt sich mit HIDDEN CODES auch bezüglich anderer Formen der Radikalisierung pädagogisch arbeiten?

Deborah Schnabel: HIDDEN CODES wird sich in den ersten zwei Episoden rechtsextremer Radikalisierung widmen, und zwar einmal der Radikalisierung einer Frau und einmal eines Mannes. In den weiteren Episoden werden wir andere Formen der Radikalisierung thematisieren, etwa islamistische Radikalisierung unter Frauen, aber auch islamistische Radikalisierung bei Männern.

Innerhalb der Radikalisierungprozesse gibt es natürlich Gemeinsamkeiten, die man hinsichtlich der Sensibilisierung von Jugendlichen für Radikalisierung übergreifend vermitteln kann. Und gleichzeitig gibt es Besonderheiten und Unterschiede: bezüglich bestimmter Codes, die verwendet werden, bestimmter Ansprachen, bestimmte Muster, die sehr typisch sind für die eine oder andere Form von Radikalisierungsprozessen. Deshalb streben wir auch unbedingt diese Bandbreite an. Gleichzeitig fokussieren wir uns, entsprechend unserer Expertise im Themenfeld Rassismus und Antisemitismus, auf Prävention rechter und islamistischer Radikalisierung.

Wie soll HIDDEN CODES angewendet werden und wer ist die Zielgruppe des Spiels?

Deborah Schnabel: Das primäre Ziel ist es, eine App zu schaffen, die wir Lehrerinnen und Lehrern für den Unterricht zur Verfügung stellen. Dazu bekommen sie Begleitmaterialien an die Hand und werden geschult, wie das Produkt in den Lehrplan eingebettet und wie den Schülerinnen und Schülern Raum für Reflexion gegeben werden kann.

Martin Thiele-Schwez: Wenn wir es mit Produkten für Schulen zu tun haben, gibt es eigentlich zwei Zielgruppen. Auf der einen Seite soll es den Schülerinnen und Schülern Vergnügen bereiten und sie sollen gestärkt und mit dem Gefühl, etwas gelernt zu haben, aus dem Spiel hervorgehen. Gleichzeitig sind auch die Lehrkräfte ein großer Teil der Zielgruppe, weil sie letztlich die Gatekeeper sind. Denen muss es gefallen und ihnen muss es einleuchten, dass sie das Produkt gern im Schulunterricht einsetzen möchten.

Deborah Schnabel: Wir hatten ursprünglich Jugendliche ab 13 Jahren als Zielgruppe festgelegt, sind jetzt aber bei 14 Jahren gelandet. Der konkrete Einsatz hängt natürlich auch ein bisschen vom Kontext oder der Schulform ab. Prinzipiell ist das Spiel so angelegt, dass es in jeder Schulform angewendet werden kann. Was die Fächer betrifft, kann ich es mir im Politik- oder Wirtschaftsunterricht, aber auch im Deutschunterricht vorstellen. Vielleicht gibt es aber auch einen übergreifenden Projektrahmen, in dem das Spiel angewendet werden kann, der nicht an einzelnen Fächern hängt. Von unserer Seite gibt es da keine Voraussetzung, außer dass die Lehrkraft sich bereit erklärt, das Spiel nicht einfach nur spielen zu lassen, sondern die Themen des Spiels auch aufzugreifen und thematisch mit dem Unterricht zu verknüpfen.

Was muss beim Aufbau und Aussehen des Spiels beachtet werden, um die Zielgruppen zu erreichen?

Das Interface des Spieles ist gängigen Social-Media-Plattformen nachempfunden. (© Bildungsstätte Anne Frank)

Martin Thiele-Schwez: Wir haben uns am Anfang Gedanken darüber gemacht, wo Radikalisierung stattfindet. Dann haben wir uns relativ zügig darauf festgelegt, als Rahmen eine Art Social-Media-Umgebung zu verwenden. Dafür empfinden wir in HIDDEN CODES Plattformen nach, auf denen sich Jugendliche viel bewegen. Aus den Merkmalen dieser Plattformen, wie Storys, Chats und Livevideos, entspinnen sich verschiedene Geschichten. Das Spiel wird mehrere Episoden haben, wobei sich jede Episode einer anderen Form der Radikalisierung widmet. Die Spielerinnen und Spieler sind Teil einer Peergroup. Sie halten sich virtuell in einem Chat mit Freundinnen und Freunden auf, zum Beispiel mit der Redaktion des Schulblogs. Eine Person aus dem Umfeld radikalisiert sich und die Gruppe versucht dagegen vorzugehen. Die Spielerinnen und Spieler können beispielsweise gewisse Bilder erkennen, die die Person postet und darin extremistische Codes entschlüsseln und sich dann mit Freundinnen und Freunden darüber austauschen, was daran problematisch ist, wo diese Codes herkommen und wofür sie stehen. Am Ende gelingt es den Spielerinnen und Spielern im besten Fall einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich ihr Freund oder ihre Freundin nicht radikalisiert.

Werden Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler in die Entwicklung des Spieles einbezogen?

Martin Thiele-Schwez: Wir betonen als entwickelnde Firma immer, dass Tests unerlässlich sind, weil die Erfahrung zeigt, dass das Projektteam irgendwann ein bisschen betriebsblind wird. Unsere Tests sehen üblicherweise so aus, dass wir Schulklassen in einem Raum versammeln und dann über deren Schulter gucken, sie befragen und Fragebögen ausfüllen lassen. Das war natürlich in der zurückliegenden und noch anhaltenden Corona-Zeit nicht möglich, weswegen die Tests "remote" stattfanden. Aus den Tests werden Protokolle angefertigt, bei denen wir schauen, was davon eine Einzelmeinung ist und was möglicherweise Dinge sind, die immer wieder als problematisch angemerkt werden und wo wir nochmal nachjustieren müssen. Das kann inhaltlicher, technischer oder grafischer Art sein.

Deborah Schnabel: Wir haben uns außerdem dazu entschieden schrittweise bei der Veröffentlichung des Spiels vorzugehen und es in diesem ersten Jahr zunächst nur einem kleinen Kreis an Schulen zugänglich zu machen, um das Spiel nochmal im Unterrichtsalltag zu testen. Eine Herausforderung dieses Spiels im Schulkontext ist nämlich auch, dass die Digitalisierung in den Schulen nicht so weit vorangeschritten ist, wie man es sich wünschen mag. Wir sind aber natürlich daran interessiert, dass möglichst viele Jugendliche dieses Spiel in die Hände bekommen, daher möchten wir das Spiel im zweiten Schritt dann mehr Menschen verfügbar machen.

Playing History hat bisher viele historische Themen in Spielen bearbeitet. Gibt es eine besondere Herausforderung daran, aktuelle gesellschaftliche Themen in ein Spielformat zu übersetzen?

Martin Thiele-Schwez: Beides hat so seine Herausforderungen. Wenn wir uns historischen Themen widmen, gibt es die Krux, dass wir auf der einen Seite gerne eine spielerische Freiheit einräumen, die uns erlaubt, Geschichte anders zu denken oder anders zu durchleben. Gleichzeitig schreiben wir uns auf die Fahne, möglichst „historisch korrekt“ zu sein. Geschichte hat ja eine gewisse Absolutheit. Ich glaube, das ist eine wichtige Sache, die von Gamedesignern noch besser verstanden werden muss, dass Gamedesign insofern ein kreativer Akt ist, als dass wir hier eine Welt schaffen, in der wir die Regeln festlegen. Und das ist unweigerlich ein politisches Statement oder eine historische Wertung.

Gegen Radikalisierung spielerisch vorgehen: geht das?

Deborah Schnabel: Wir schaffen in diesem Bereich tatsächlich ein gewisses Novum. Es gibt zwar bereits sehr viele, unterschiedliche Serious Games in der politischen Bildungsarbeit: von Quiz-Apps über animierte Welten mit Avataren und sehr gamehafter Bildsprache bis hin zu narrativen Games, wie wir es machen. Ich würde sagen, dass in unserem ganz spezifischen Bereich von Radikalisierung, in der antisemitismus- und rassismuskritischen Bildungsarbeit, das Potenzial von Spielen noch nicht wirklich genutzt wird. Nicht weil die Akteurinnen und Akteure nicht darauf gekommen sind, sondern weil es wirklich eine große Herausforderung ist. Man muss sehr aufpassen, wie man Dinge anspricht und zeigt, etwa um die Retraumatisierung von Betroffenen zu verhindern. Es braucht in der Spielentwicklung hier einen Partner, der Sensibilität dafür hat, dass man bestimmte Funktionalitäten und Dinge in diesem Themenfeld nicht umsetzen kann. Vermutlich gibt es genau deswegen noch sehr viel Zurückhaltung, spielerische Komponenten in die politische Bildungsarbeit mit reinzubringen. Auch aus dem Missverständnis heraus, dass Spiel immer gleichbedeutend mit Spaßhaben ist. Aber ich bin davon überzeugt, dass es uns gelungen ist, den richtigen Ton zu treffen.

Martin Thiele-Schwez: Ich merke bei der Bildungsstätte, dass es mehr und mehr Bereitschaft gibt, Spiel auch als mediale Ausprägung, als Vermittlungsform ernst zu nehmen und einzusetzen. Das halte ich für wichtig, weil ein Spiel Vorteile hat, die ein anderes, möglicherweise lineares Medium nicht hat: dass wir selbst involviert sind und aktiv werden, dass wir, wenn das Spiel gut gelungen ist, wirklich da drinstecken.

Über unsere Interviewpartnerin und -partner

Deborah Schnabel ist stellvertretende Direktorin bei der Bildungsstätte Anne Frank. Sie ist für den Bereich Digitalisierung der Bildungsangebote, interne Prozesse und Kommunikation verantwortlich. Darüber hinaus ist sie Projektleiterin des Modellprojekts HIDDEN CODES.

Die Externer Link: Bildungsstätte Anne Frank ist das hessische Zentrum politischer Bildung rund um das Thema Antisemitismus, Rassismus und weitere Formen der Diskriminierung. Zudem leistet die Bildungsstätte Opferberatung von Betroffenen antisemitischer oder rassistischer Gewalt.

Martin Thiele-Schwez ist Mitgründer und Geschäftsführer des Spielentwicklungsunternehmens Externer Link: Playing History. Der Arbeitsschwerpunkt von Playing History liegt auf der Vermittlung komplexer historischer und gesellschaftspolitischer Themen durch analoge, digitale und performative Spielformen.

HIDDEN CODES ist ein digitales Lernspiel, welches sich in mehreren kurzen Episoden dem Thema Radikalisierung im Netz widmet. Das Spiel richtet sich primär an Jugendliche ab 14 Jahren und ist zunächst für den Schulkontext konzipiert. Das Spiel erscheint im Frühjahr 2021.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Serious Games sind (häufig digitale) Spiele, die die klare Zielsetzung verfolgen einen thematischen Komplex zu vermitteln. Neben dem Vergnügen sollen Serious Games auch einen didaktischen Zweck erfüllen.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-SA 4.0 - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Theresa Kühnert für bpb.de

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Theresa Kühnert ist seit Juli 2019 als Redakteurin für Externer Link: werkstatt.bpb.de tätig. Davor studierte sie Sozial- und Politikwissenschaften in Leipzig sowie Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts an der FSU Jena. Seit 2020 betreut sie außerdem verschiedene Projekte im Bereich der historisch-politischen Bildungsarbeit.