Anfang der 1960er-Jahre hatten sich viele Vertreterinnen und Vertreter der politischen Bildung von der Institutionenkunde, wie sie bis dahin in der schulischen Praxis vorherrschte, abgewandt. Sie kritisierten, dass eine abstrakte "Kunde", in der es oft nur um die Auflistung von Funktionen der Staatsorgane und die Darstellung der formalen Aspekte des Willensbildungsprozesses ging, zu losgelöst von den Erfahrungen der Lernenden sei. Eine angemessene Vorstellung von Politik in ihrer Interessen- und Machtorientierung und in ihrem Prozess- und Handlungscharakter würde damit nicht ermöglicht. Danach vernachlässigte die politische Bildung in Theorie und Praxis über längere Zeit das Institutionelle, was ebenfalls zu einem einseitigen und verzerrtem Verständnis der politischen Realität führte. Erst seit Ende der 1970er-Jahre versuchte eine Reihe von Autoren der politischen Bildung "institutionenkundliches Lernen" wieder neu zu konzipieren. Heute herrscht in der Theorie und unter Praktiker/-innen der politischen Bildung eine große Übereinstimmung darüber, dass politische Bildung gesellschaftliche und politische Institutionen nicht ausklammern darf. Sie würde dann die politische Wirklichkeit verfehlen.
Politische Bildung steht also vor der Herausforderung, politische Institutionen ausreichend zu berücksichtigen, ohne in die kritisierte "Kunde" abzugleiten. Dies ist keine einfache Aufgabe. Politische Institutionen sind vom unmittelbaren Erfahrungsbereich Jugendlicher und auch vieler Erwachsener weit entfernt. Hinzu kommt, dass die Distanz von Jugendlichen und Erwachsenen zu den traditionellen politischen Institutionen in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen ist. Daraus ergibt sich die Frage, wie es gelingen kann, "institutionenkundliches Lernen" in die politische Bildung zu integrieren. Die Antwort wird auf zwei Ebenen gegeben. Auf der Ebene der Inhalte ist zu klären, was politische und gesellschaftliche Institutionen sind und welche Anforderungen sich daraus für institutionenkundliches Lernen ableiten lassen. Auf der Ebene der Organisation des Lernprozesses sind Wege der didaktischen Erschließung und Methoden aufzuzeigen, die geeignet sind, die Distanz zwischen den Jugendlichen und den Institutionen zu verringern.
Was sind politische Institutionen?
Zwar existiert in den Sozialwissenschaften kein einheitliches Verständnis von Institutionen. In der Politikwissenschaft haben sich jedoch in jüngster Zeit Versuche durchgesetzt, sich der Frage, was Institutionen sind, pragmatisch zu nähern. Danach werden politische Institutionen im engeren und im weiteren Sinne unterschieden. Politisch sind diese Institutionen deshalb, weil sie immer im Zusammenhang mit der Herstellung und der Durchführung allgemeinverbindlicher Entscheidungen stehen.
Unter politischen Institutionen im engeren Sinne versteht man den Staat mit Regierung (Staatsoberhaupt, Kabinette, Ministerien), Parlament, Verwaltung sowie föderative und kommunale Einrichtungen.
Zu den politischen Institutionen im weiteren Sinne zählen gesellschaftliche Organisationen wie Parteien, Verbände und Massenmedien, aber auch z.B. die Verfassung, die Gesetze, Wahlen oder das Mehrheitsprinzip. Damit sind die Inhalte institutionenkundlichen Lernens im Sinne von Wissenselementen benannt.
Die für die politische Bildung wichtigere Frage lautet jedoch, welche Einsichten vermittelt werden sollen, die aus „Wissen" „Verstehen" werden lassen. Auch dafür ist noch einmal ein Blick auf die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Institutionentheorie notwendig, aus denen sich die folgenden Anforderungen an die politische Bildung ableiten lassen. Institutionen enthalten immer Sinnzusammenhänge. Institutionenkundliches Lernen in der politischen Bildung hat daher die Aufgabe, den Lernenden den Sinn von Institutionen zu vermitteln sowie zu verdeutlichen, dass Institutionen in einer Idee gründen und einen Zweck verfolgen. Es sollte im Lernprozess deutlich werden, dass die konkrete Ausgestaltung und das Handeln einer Institution danach bewertet werden können, wie diese Idee und der Zweck verwirklicht werden. So lässt sich z.B. überprüfen, inwieweit die Institution des Bundesverfassungsgerichts die Idee des Grundrechtestaates realisiert. Die Frage nach dem Sinn von Institutionen ist für die politische Bildung entscheidend, aber auch Fragen nach dem Aufbau und den Funktionen von Institutionen dürfen nicht vernachlässigt werden.
Institutionen sind von Menschen gemacht und sie lassen sich daher auch von Menschen verändern, z.B. wenn die Institutionen ihre Aufgaben nicht mehr ausreichend erfüllen. Politische Institutionen dienen der Verwirklichung von Interessen Einzelner und von gesellschaftlichen Gruppen und werden mit Hilfe von Macht und Herrschaft durchgesetzt. Institutionenkundliches Lernen in der politischen Bildung muss diesen Interessen- und Herrschaftsaspekt kritisch analysieren. Erst auf dieser Grundlage kann diskutiert werden, ob und warum vorhandene Institutionen nicht mehr ausreichen, reformiert, weiterentwickelt oder durch neue Institutionen ersetzt werden müssen. Ein Beispiel wäre hier die Diskussion über die Frage, inwieweit Parlamente den politischen Willen der Bevölkerung ausreichend repräsentieren oder direktdemokratische Verfahren, wie etwa Volksentscheide, dazu besser geeignet sind oder zumindest parlamentarische Entscheidungen ergänzen sollten.
Politische Institutionen werden in der „Institutionenkunde" als Teil der formalen Dimension (polity) des Politischen gesehen. Dazu gehören neben Verfassung, Rechtsordnung und Tradition auch die Elemente der politischen Willensbildung z.B. Wahlen, Grundrechte, Parteien, Verbände usw. Die formale Dimension steckt vor allem den Handlungsspielraum der Politik ab. Institutionenkundliches Lernen in der politischen Bildung muss politische Institutionen auch im Zusammenhang mit der prozessualen Dimension von Politik (politics), d.h. den politischen Prozessen der Willensbildung und der Interessenvermittlung von Konflikt und Konsens, beschreiben und analysieren. Ebenfalls muss die inhaltliche Dimension (policy) in Form von politischen Problemen, Zielen, Programmen und Lösungsvorschlägen berücksichtigt werden. Nur so kann "Institutionenkundliches Lernen" die Komplexität der politischen Wirklichkeit angemessen erfassen und verdeutlichen. Wenn wir uns im Politikunterricht und in der außerschulischen politischen Bildungsarbeit mit Institutionen beschäftigen wollen, bieten sich besonders folgende Prinzipien an, nach denen der Unterricht oder die Lernsituation gestaltet werden können: Realitätsbegegnung und Erfahrungsorientierung, Problemorientierung, Binnenorientierung und Handlungsorientierung.
Realitätsbegegnung und Erfahrungsorientierung
Diese Prinzipien haben zum Ziel, eine Brücke zwischen der Alltagswelt der Lernenden und der Politik zu schlagen. Die Lernenden sollen die Schule oder die Bildungsinstitution verlassen und politische Institutionen als außerschulische Lernorte erkunden. So erhalten sie die Möglichkeit, gesellschaftlich-politische Wirklichkeit direkt zu erfahren. Indem die Lernenden die Institution selbst sehen und erleben, soll es ihnen erleichtert werden, ihre Arbeitsweise unmittelbar zu erfassen, zu erschließen, zu ordnen, zu analysieren und zu deuten. Die Trennung der Lebenssituation, für die gelernt wird, und der Lernsituation soll für diesen Zeitraum überwunden werden. Dabei bieten sich zwei Zugangsweisen an: eine subjektbezogene, die die Lernenden in den Mittelpunkt stellt, und eine objektbezogene, die die Institution fokussiert. Der subjektbezogene Zugang macht den Lernenden ihre Alltagserfahrungen bewusst und setzt sie in Zusammenhang mit politischen Institutionen und ihren Aufgaben. Der objektbezogene Zugang geht den umgekehrten Weg. Er setzt auf der Ebene der Institutionen an. Er versucht den Lernenden die Bedeutung der Institutionen für ihre Alltags- und Lebenswelt bewusst zu machen und sie dazu zu befähigen, den Sinn, die Bedeutung und die Funktion von Institutionen für den Einzelnen, für die Gesellschaft und für das politische System zu „verstehen".
Problemorientierung
Institutionen können nicht an sich Gegenstand der politischen Bildung sein. Das würde zu der kritisierten „Institutionenkunde" führen. Damit aus Institutionen ein Bildungsinhalt wird, müssen sie im Zusammenhang mit einem politischen Problem analysiert werden. Ein problemorientierter Zugang lässt sich gewinnen, indem man wichtige politische Kontroversen und Entscheidungsprozesse bearbeitet. In diesem Zusammenhang können exemplarisch Strukturen und Funktionen von politischen Institutionen erschlossen werden. Die Fragen nach ihrem Sinn und nach ihrer Bedeutung für gesellschaftliche Interessen und für die gesellschaftliche Herrschaftsstruktur können diskutiert und beurteilt werden. Darüber hinaus lassen sich auf diese Weise die Verknüpfungen, Vernetzungen und Abhängigkeiten der Institutionen von den prozessualen und inhaltlichen Dimensionen des Politischen erkennen. Problemorientierung ergibt sich sowohl aus der Perspektive der politisch Handelnden als auch aus der Perspektive der von der Politik Betroffenen.
Binnenperspektive
Damit ist ein Ansatz gemeint, in dessen Mittelpunkt die politischen Akteure wie zum Beispiel Politiker/-innen, Interessenvertreter/-innen von Verbänden oder Journalisten und Journalistinnen stehen. Die Lernenden setzen sich mit deren Handeln auseinander. Sie analysieren ihre Einstellungen, Interessen und Motive und sie versuchen das Spannungsfeld von Handlungsspielräumen und institutionellen Zwängen zu erkennen. Eine Binnenorientierung ergibt sich über direkte Begegnungen, über Fallbeispiele aber auch über simulative Methoden, wie etwa Rollen- oder Planspiele.
Handlungsorientierung
Dieses Prinzip beinhaltet im Bezug auf die politischen Institutionen vor allem drei Aspekte. Inhaltlich meint Handlungsorientierung das Handeln der Institutionen und das Handeln in den Institutionen. Als Ziel politischer Bildung meint Handlungsorientierung die Fähigkeit der Lernenden, sich selbst Institutionen zu erschließen. Sie verantworten und organisieren ihren Lernprozess selbst. Handlungsorientierung bedeutet aber auch den Einsatz aktivierender, d.h. handlungsorientierter, Methoden in der politischen Bildung.
Die Anwendung der Prinzipien didaktischer Erschließung
Die einzelnen Prinzipien didaktischer Erschließung stehen in einem engen Zusammenhang und können in der Praxis politischer Bildung in unterschiedlicher Gewichtung miteinander verknüpft werden. Zur Realitätsbegegnung gehört z.B. eine „aktive Rathauserkundung" oder ein Parlamentsbesuch. Beide Institutionen gelten als außerschulische Lernorte, die praxisbezogenes Lernen ermöglichen.
Am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts kann der enge Zusammenhang der Prinzipien didaktischer Erschließung gezeigt werden. Versucht die politische Bildung die Institution des Bundesverfassungsgerichts und ihr Handeln über ihre jeweiligen Entscheidungen zu erschließen, so lassen sich z.B. an den Urteilen zum § 218, zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, zur Kruzifixpflicht in bayerischen Schulen oder zum NPD-Verbot Erfahrungsorientierung und Problemorientierung miteinander verknüpfen. Aus der Analyse der jeweiligen Urteile und ihrer Begründungen, aus dem Vergleich der Mehrheitsentscheidung mit dem Minderheitenvotum von Verfassungsrichter(inne)n ergibt sich eine Binnenorientierung, in deren Mittelpunkt das Handeln der Akteure, d.h. der Richter/-innen des Bundesverfassungsgerichts ebenso steht wie ihre Spielräume und ihre Grenzen zwischen Recht und Politik. Diese Binnenorientierung eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit der Handlungsorientierung durch Rollenspiele oder Planspiele, in denen z.B. der Prozess der Entscheidungsfindung des Gerichts bearbeitet werden kann.
Methoden institutionenkundlichen Lernens
Innerhalb des institutionenkundlichen Lernens lässt sich eine Vielfalt von Methoden einsetzen. Sie reichen von der Sozialstudie und der Fallanalyse über die Projektmethode bis hin zu simulativen handlungsorientierten Methoden wie dem Rollenspiel oder dem Planspiel. Zwei Methoden scheinen allerdings für institutionenkundliches Lernen in besonderer Weise geeignet: Die Erkundung und die Expertenbefragung.
Die Erkundung schafft einen direkten, erlebnisbezogenen Zugang zu einer politischen Institution, zum Beispiel durch den Besuch eines Rathauses oder eines Parlaments wie Landtag oder Bundestag. Die gut vorbereitete Untersuchung einer politischen Institution vor Ort kann rein theoretisches Lernen unterstützen, weiterführen und ergänzen. Während der Erkundung kann man die Perspektiven unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure der Institution kennen lernen. Die eigene, mitunter vorurteilsbehaftete, Perspektive wird mit anderen konfrontiert und so erweitert und korrigiert. Darüber hinaus kann politische Bildung dabei einen wichtigen Teil der politischen Wirklichkeit berücksichtigen und bearbeiten, der sonst nur schwer zugänglich ist. Die Lernenden können die in den Medien meist nicht sichtbaren politischen Vorgänge durch Erkundungen vor Ort in den Institutionen besser erkennen und zumindest in Teilen authentisch rekonstruieren.
Die Expertenbefragung verfolgt einen anderen Weg. Die Lernenden erhalten die Möglichkeit, einer Expertin oder einem Experten aus der Politik Fragen zu stellen und aus erster Hand Antworten zu bekommen. Ein wesentliches Ziel dieser Methode ist es, die politische Bildung gegenüber der institutionellen politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu öffnen. Der Sinn einer Expertenbefragung liegt vor allem darin, über die Expertin oder den Experten Informationen oder Erfahrungen zu erschließen, die auf anderen Wegen - z.B. über Bücher oder Zeitungsmaterialien - nur sehr schwer oder überhaupt nicht zu erhalten sind.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: In der politischen Bildung und in der Politikdidaktik besteht Einigkeit darüber, dass politische Institutionen wichtige Inhalte politischer Bildung sind und dass auf institutionenkundliches Lernen nicht verzichtet werden kann. Politische Bildung, die Verständnis für Politik und Einsichten in politische Zusammenhänge ermöglichen will, muss politische Institutionen einbeziehen und ausdrücklich thematisieren.