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Geteilt und doch verbunden | Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte 1945–1990 | bpb.de

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Informationen zur politischen Bildung Nr. 358/2024

Geteilt und doch verbunden

Dierk Hoffmann

/ 3 Minuten zu lesen

Ein Plädoyer für eine gemeinsame und differenzierte Darstellung der Nachkriegsgeschichte beider deutscher Staaten – anstelle der bis heute üblichen getrennten Erzählung.

(© picture-alliance, dieKLEINERT / Martin Erl)

Mit wachsendem zeitlichen Abstand nehmen die Deutungskämpfe in der Öffentlichkeit über die friedliche Revolution 1989 und die deutsche Einheit 1990 immer mehr zu. Zu den vorgetragenen Kritikpunkten zählen etwa das nach wie vor bestehende Wohlstands- und Lohngefälle zwischen West- und Ostdeutschland, die vergleichsweise niedrigen Renten im Osten, aber auch die fehlende Repräsentanz Ostdeutscher in den Funktionseliten. Während die Bundesrepublik 1990 von einem Großteil der damaligen DDR-Bevölkerung als lang ersehnte Problemlöserin angesehen wurde, erscheint sie in jüngster Zeit hauptsächlich als Problemerzeugerin. Der „Westen“ ist mittlerweile eine Projektionsfläche für viele enttäuschte Hoffnungen.

Diese Sichtweise hat der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in einer Streitschrift unter dem Titel „Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung“ nun auf die Spitze getrieben. Sein Vorwurf lautet, dass der Westen den Osten „diskursiv zurichte[n]“ würde. Er sei verantwortlich für die „seit über 30 Jahren bestehenden Ächtungen und radikalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen des Ostens“. Nach der Wiedervereinigung habe sich nämlich „die Teilung der Geschichte als geteilte Geschichte fortgesetzt“.

QuellentextDiskurs zu Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ – zwei Perspektiven

1. Perspektive

Am Ende fragt der Autor [Dirk Oschmann] selbst, was für ein Buch er da geschrieben hat. „Eine Schmähschrift, eine Tirade, eine Litanei, eine Polemik, ein undifferenzierter Rede­schwall?“ Es ist vor allem eine Wutrede, hemmungslos, wütend, provozierend, undifferenziert und ungerecht. Erstes Gefühl beim Lesen, zumindest für den im Osten sozialisierten Rezensenten: Es hat etwas Reinigendes und, zugegeben, auch Befreiendes. Denn Oschmann fegt den beim Thema Osten bis heute fast ganz westdeutsch dominierten Diskursraum mal so richtig durch und steigert sich in einen Rausch.

[…] Auch 30 Jahre nach der Einheit sei der Osten im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik die Abweichung, der komische Landstrich, der aufholen, lernen und sich normalisieren müsse, während der Westen stets die Norm sei. Die DDR werde bis heute nicht als Teil gesamtdeutscher Geschichte begriffen, der sie zweifellos ist, und die sogenannten neuen Länder würden lediglich als „klapperndes Anhängsel“ betrachtet. Oschmann fordert nun, den Osten zu „desidentifizieren“, also aus seinem ungewollten und zugeschriebenen Ostdeutschsein, „aus der Schmuddelecke“ herauszuholen, „in die ihn der Westen zur Sicherung des eigenen Wohlbefindens erfolgreich verbannt hat“.

Da ist bei aller Polemik viel dran, wie etwa der Umgang mit Rechtsextremismus, der AfD oder den Corona-Protesten zeigt: Sie werden in der Öffentlichkeit fast ausschließlich im Osten verortet, oft mit dem Zusatz, dass es der Osten sei, der spalte. Doch weist der Autor zu Recht darauf hin, dass es die einseitige Zuschreibung dieser gesamtdeutsch auftretenden Probleme ist, die spaltet. Ostdeutschland fungiert in der Bundesrepublik als eine Art gesellschaftliche Bad Bank, in die alle Probleme ausgelagert werden. Oschmann prangert das an. Über den Osten werde „zynisch, herablassend, selbstgefällig, ahistorisch und selbstgerecht“ geredet, Osten sei ein Stigma, Ostdeutschsein „das Allerletzte“. […]

Ähnliches würde in Bezug auf westdeutsche Regionen oder andere Bevölkerungsgruppen wohl kaum durchgehen. Bis heute ist das Adjektiv „ostdeutsch“ in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit ein Mittel negativer Distinktion: Schriftsteller, Sportler, Schauspieler werden ostdeutsch genannt, während ihre West-Pendants nicht westdeutsch, sondern „deutsch“ sind. Ostdeutschen jedoch fehlen der gesamtdeutsche Diskursraum und öffentliche Schaltstellen, in denen sie vertreten sind. […]

Zu viele Ostdeutsche glauben „den Medien“ deshalb gar nichts mehr, was wiederum fatale Folgen bei Themen wie Corona oder dem russischen Angriff auf die Ukraine hat. Oschmann schildert das alles im Duktus eines fortwährenden Wutanfalls und behauptet, dass sich an den Ursachen rein gar nichts ändere. Dabei übersieht er, dass sich seit einiger Zeit zumindest medial doch etwas tut. Jahrzehntelange Stereotype, die den Osten stets nur mit Stasi, Nazis und Hartz IV gleichsetzten, gibt es immer weniger. Die „Tagesthemen“-Rubrik „mittendrin“ etwa liefert ausgewogene Berichte aus Ostdeutschland, und in den Redaktionen großer Tages- und Wochenzeitungen arbeiten nicht mehr nur Alibi-Ossis.

Oschmann gibt zu, dass es eine Mehrzahl Ostdeutscher gibt, die ihre Chance im wiedervereinten Land genutzt und aus ihrem Leben etwas gemacht haben. Er zählt sich selbst dazu. […]

Dieses Buch wird für Furore sorgen, weil es mit dem alten Muster, den Osten aus dem Westen zu erklären, radikal bricht. Anwürfe werden kommen: Darf der überhaupt mitreden? Wie kommt er dazu? Zieht die Mauer wieder hoch! Das alles ist so erwartbar wie belanglos. Oschmann ist niemand, der die DDR wiederhaben will. Er nennt sie uneingeschränkt einen „Unrechtsstaat“, er schätzt die Bundesrepublik, er jammert nicht, sondern kritisiert. [...]

Stefan Locke, „Den Diskursraum kräftig durchfegen“, in: F.A.Z. vom 7. März 2023. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

2. Perspektive

Interview mit Anne Rabe; ihr Roman „Die Möglichkeit von Glück“ spielt in Ostdeutschland nach 1990.

[…] Bei einem Sachbuch denkt man beim Lesen über die Fakten nach, beim Roman ist man als Leser in der Regel anders involviert […]. Haben Sie auch deshalb diese Form gewählt, um dieses Gespräch anzustoßen?

Das ist mir sehr wichtig. […] Man muss wissen, wo man herkommt, die Menschen waren ja nach 1990 nicht einfach andere. Ich möchte, dass die Diktaturgeschichte der DDR in die gesamtdeutsche Geschichte integriert wird. Warum hat das 40 Jahre lang so gut funktioniert? Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her, von der friedlichen Revolution her zu erzählen. […]

Kann in diesem Dialog nicht auch das Buch eines Mannes sozusagen aus Ihrer Elterngeneration helfen – von Dirk Oschmann?

Ich habe da meine Zweifel. Meiner Meinung nach lässt er einfach zu viel aus. Wenn er behauptet, die ostdeutschen Männer waren die diskriminierteste Gruppe nach 1990, kann ich ihm nur widersprechen. Aus dieser Gruppe kam so viel Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten, gegen Andersdenkende oder auch Obdachlose. Da wurden Menschen ermordet. Herr Oschmann hat ein Gespräch mit mir, das auf der Leipziger Buchmesse stattfinden sollte, abgesagt. Soweit ich weiß, waren das keine Termingründe. In Interviews wehrt er sich gegen die Kritik an seinem Buch aus meiner Generation.

Aber er hat eine wichtige Diskussion angestoßen.

Dann muss man die auch führen. Nehmen wir die ökonomischen Fragen: Da wird ausgeklammert, auf welchem Stand die Wirtschaft im Osten damals war und wie das dann ablief. Nach der Vereinigung haben nicht selten auch die alten Seilschaften mitgeholfen, Betriebe zu schließen und an westdeutsche Konkurrenten zu übergeben. Man kann den Osten 30 Jahre nach der Wende nicht als homogene Masse erzählen. Es gab so viele Menschen, die nach 89 keine Chance hatten, weil sie zum Beispiel in der DDR in der Opposition waren und deshalb in Gefängnissen saßen, ohne Ausbildung oder gar Abitur und Studium blieben. […]

Cornelia Geißler, „Es reicht nicht, die DDR immer nur vom Ende her zu erzählen“, in: Berliner Zeitung vom 26. April 2023

Ist dieser Vorwurf berechtigt? Diese Ausgabe der „Informationen zur politischen Bildung“ greift Oschmanns Plädoyer auf, „die geteilte Geschichte nach 1945 und mehr noch nach 1990 als gemeinsame Geschichte zu begreifen“. Im Folgenden geht es darum, die Epoche des geteilten Deutschlands differenziert darzustellen – mit ihren Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten. Dabei wird – ganz anders als bei Oschmann – von der These ausgegangen, dass die Farben der Geschichte nicht Schwarz und Weiß, sondern die verschiedensten Grauschattierungen sind. Oder, um es noch etwas anschaulicher zu sagen: Geschichte ist bunt, so wie das Leben bunt ist.

Das Interesse an der deutschen Nachkriegsgeschichte ist in den letzten Jahren stark gestiegen, was allein die große Anzahl von Buchpublikationen und Fernsehdokumentationen eindrücklich belegt. Manche Deutungen, etwa als Erfolgsgeschichte (für die Bundesrepublik Deutschland) bzw. Misserfolgsgeschichte (für die DDR) sind jedoch umstritten. Obwohl es konzeptionelle Überlegungen für eine integrierte deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte gibt, werden – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die drei westlichen Besatzungszonen bzw. die Bundesrepublik auf der einen und die sowjetische Besatzungszone (SBZ) bzw. die DDR auf der anderen Seite häufig noch getrennt untersucht. Das gilt erst recht für die öffentlichen Debatten, die nicht nur auf einer zweigliedrigen Betrachtungsweise beruhen, sondern auch mangelnde Kenntnisse über die Geschichte Ostdeutschlands offenbaren.

Die im Folgenden ausgewählten inhaltlichen Schwerpunktfelder zeigen jedoch, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West erheblich waren: So ging es nach 1945 zunächst um die Bewältigung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgelasten des Zweiten Weltkrieges und der NS-Diktatur. Ab den 1970er-Jahren mussten Bonn und Ost-Berlin Antworten auf globale Herausforderungen finden, die vom Erdölpreisschock und dem Ende des Wirtschaftsbooms ausgingen. Zu den globalen Trends gehört auch die zunehmende Individualisierung, die in den westlichen, aber auch östlichen Industriegesellschaften zu beobachten ist.

Trotz enger deutsch-deutscher Beziehungen und Verflechtungen ist die Erzählung der Geschichte zweier getrennter deutscher Staaten mit unterschiedlichen Politik- und Wertvorstellungen sowie konträren Wirtschafts- und Sozialsystemen weiterhin legitim. Dafür sprechen nicht zuletzt die in Ost und West getroffenen Weichenstellungen zwischen Kriegsende und Mitte der 1950er-Jahre. Hier geht es jedoch um neue bzw. ergänzende Perspektiven, also um eine vergleichende Untersuchung beider deutscher Staaten: eine beziehungs- und verflechtungsgeschichtliche Betrachtung des Verhältnisses zwischen der Bonner Republik und dem Ost-Berliner Staatssozialismus sowie eine Analyse der teils gemeinsamen, teils unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungshaltungen der Menschen im geteilten Deutschland.

Auf diese Weise lassen sich neue Fragen stellen, die zudem einen Ausweg aus der Sackgasse bieten könnten, in der sich aktuelle Mediendebatten befinden. Diese konzentrieren sich vornehmlich auf den Ost-West-Gegensatz. Wichtig ist, empirische Daten aus Ost und West analytisch zu betrachten und ausgewogen zu interpretieren. Nur so können möglichst tragfähige Ergebnisse bezüglich des Verhältnisses zwischen Ost und West, auch hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Unterschieden, herausgearbeitet werden.

Prof. Dr. Dierk Hoffmann (geb. 1963) ist stellvertretender Leiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam. Seit 2017 leitet er das Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt am IfZ. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte der SBZ/DDR, die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte, die Transformationsgeschichte sowie die Biografieforschung.