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Kalter Krieg und Blockintegration (1949–1955) | Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte 1945–1990 | bpb.de

Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte 1945–1990 Editorial Geteilt und doch verbunden Von der Kapitulation zur doppelten Staatsgründung (1945–1949) Kalter Krieg und Blockintegration (1949–1955) Zwischen Systemwettstreit und Mauerbau (1955–1961) Zwischen Reform und Revolte (1961–1969) Der flüchtige Zauber des Neuanfangs (1969–1975) Zwischen Annäherung und Abgrenzung – von Helsinki zum zweiten Kalten Krieg (1975–1989) Annus mirabilis – friedliche Revolution und deutsche Einheit (1989/90) Zwischen Euphorie und Ernüchterung – das vereinte Deutschland Anfang der 1990er-Jahre Glossar Literatur- und Onlineverzeichnis Impressum
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Kalter Krieg und Blockintegration (1949–1955)

Dierk Hoffmann

/ 12 Minuten zu lesen

Die Teilung Deutschlands und der Kalte Krieg führen zu einem politischen Wettstreit zwischen Ost und West. Welche Auswirkungen hat die Trennung auf die Bevölkerung und wie reagiert sie darauf?

Während die Fronten des Kalten Krieges sich verhärten, zementiert sich auch die Teilung Deutschlands. Der Karikaturist Wolfgang Hicks kom­mentiert 1955 die Genfer Gipfelkonferenz zwischen Regierungschefs und Außenministern der Siegermächte. Hatte die Wiedervereinigung Deutschlands zuvor noch im Raum gestanden, hielt die Sowjetunion nun an der „Zwei-Staaten-Theorie“ fest. (© Stiftung Haus der Geschichte, EB-Nr. 1991/10/500.06420 | Hicks, Wolfgang (Künstler))

Integration in die beiden Blocksysteme

Die veränderte weltpolitische Lage nach 1945, die im Kalten Krieg (siehe Eintrag "Kalter Krieg" im Interner Link: Glossar) Gestalt annahm, führte zur Teilung des europäischen Kontinents. In der ersten Hälfte der 1950er-Jahre verstärkte sich diese Entwicklung und wurde in Deutschland deutlich sichtbar. Unter dem Eindruck der Blockbildung und des Korea-Krieges (1950–1953) wurde die Bundesrepublik politisch, wirtschaftlich und militärisch in die von den USA angeführte westliche Staatengemeinschaft integriert. Dagegen entwickelte sich die DDR zum westlichen Außenposten des sowjetischen Machtbereichs. Ost und West beobachteten sich bei der Blockbildung genau und reagierten auf entsprechende Maßnahmen der jeweils anderen Seite.

Die wichtigsten Stationen sind schnell aufgezählt: Die Bonner Republik wurde Mitglied in der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (1949), im Europarat (1950), in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951), der Westeuropäischen Union (1954), der NATO (1955) und schließlich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie der Europäischen Atomgemeinschaft (1957). Auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“ (so bezeichnete Winston ­Churchill – 1940–1945 sowie 1951–1955 britischer Premier – 1946 die Teilung Europas) trat die DDR dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (1950) und dem Warschauer Pakt (1955) bei.

Während die westdeutsche Bevölkerung in der Bundestagswahl von 1953 mit der Wiederwahl Konrad Adenauers (CDU) mehrheitlich ihre Zustimmung zur Westintegration gab, durfte die DDR-Bevölkerung kein freies Votum über die Ostbindung des Landes abgeben. Der ostdeutsche Scheinparlamentarismus – ein geheim gehaltener Beschluss des Sekretariats des ZK vom 17. Oktober 1949 degradierte Volkskammer und Regierung zu ausführenden Organen der SED – ließ eine offene, geheime und demokratische Wahl nicht zu.

(© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 062110)

(© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 555125)

Londoner Schuldenabkommen und Wiedergutmachung

Um auf das internationale Parkett zurückkehren zu können, musste die Bundesrepublik, die sich in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches sah, die finanziellen Forderungen der Westmächte anerkennen. Nur so ließ sich die internationale Kreditwürdigkeit wiederherstellen. Im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 akzeptierte die Bundesregierung die deutschen Vor- und Nachkriegsschulden in Höhe von 14,5 Milliarden D-Mark, die in jährlichen Raten zurückzuzahlen waren.

Noch bedeutsamer war das im September 1952 abgeschlossene Wiedergutmachungsabkommen „Luxemburger Abkommen“ mit Israel und einem Dachverband jüdischer Organisationen, der Claims Conference. Der Begriff der Wiedergutmachung ist bis heute umstritten, verdeckt er doch das grauenhafte Menschheitsverbrechen des Holocaust und suggeriert „die Umwandlung von Schuld in Schulden“ (so der Historiker Constantin Goschler), die mit Geld beglichen werden könnten. Nach Angaben des Bundesfinanzministeriums hat die öffentliche Hand bis Ende der 1990er-Jahre zwar 103,8 Milliarden D-Mark für die Wiedergutmachung aufgebracht. Dagegen weist die Bilanz für den Lastenausgleich etwa 140 Milliarden D-Mark auf. Die Kriegsopfer­versorgung umfasst sogar ein noch viel größeres Volumen, was darauf zurückzuführen ist, dass die Zahl der Berechtigten größer ist.

Auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“ weigerte sich die SED, diese Form der Wiedergutmachung zu leisten, und verwies auf die umfangreichen Reparationszahlungen an die Sowjetunion. Ost-Berlin füllte den Begriff der Wiedergutmachung ganz anders aus und konzentrierte die individuelle Entschädigung für NS-Verfolgte auf DDR-Bürgerinnen und -Bürger, zuallererst auf verfolgte Kommunistinnen und Kommunisten. Mitte der 1970er-Jahre schien sich etwas zu bewegen, als die SED-Führung über das ostdeutsche Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer an die Claims Conference mit einem Angebot herantrat, das aber nur von dem Motiv getrieben war, die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu den USA zu verbessern und in den Genuss der Meistbegünstigungsklausel zu kommen. Im Jahr der friedlichen Revolution 1989 unternahm Ost-Berlin einen letzten Anlauf, um den Fortbestand der deutschen Teilung und damit die Existenz der DDR zu sichern. Im Zuge der deutschen Einheit 1990 übernahm die Bundesrepublik schließlich die „unabgetragene Hypothek der DDR“ (so der Historiker Hans Günter Hockerts) gegenüber der Claims Conference.

Wirtschaftsaufbau und Systemwettstreit

Magnettheorie

Bereits in den ersten Nachkriegsjahren gab es eine deutsch-deutsche Auseinandersetzung über das bessere Wirtschaftssystem. Für die westlichen Besatzungszonen entwickelten Kurt Schumacher und der spätere Bundeskanzler Adenauer die sogenannte Magnettheorie, die prognostizierte, dass der erwartete wirtschaftliche Aufschwung im Westen eine Sogwirkung auf den Osten entfalten würde. Trotz unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Auffassungen (z. B. in der Sozialisierungsfrage) einte Schumacher und Adenauer die Überzeugung, dass die ökonomische Konsolidierung im Westen das kommunistische Herrschaftssystem in der SBZ/DDR langfristig zum Einsturz bringen würde. In der SBZ hatte der SED-Vorsitzende Otto Grotewohl bereits im Juni 1946 seine Magnettheorie entwickelt, nur mit umgekehrten Vorzeichen.

Alle drei Politiker waren also von der Überlegenheit des eigenen wirtschaftlichen Systems überzeugt und gingen einem direkten Wettbewerb nicht aus dem Weg. Mit teilweise missionarischem Eifer suchten sie die Zustimmung der Bevölkerung im jeweils anderen Teil Deutschlands zu gewinnen. Dazu betrieb die DDR mit großem Aufwand – und in enger Abstimmung mit der Sowjetunion – eine Westpolitik, die darauf abzielte, westdeutsche Politiker zu diskreditieren, für den Kommunismus zu werben sowie linke Parteien und Bewegungen zu unterstützen.

Das provozierte Reaktionen auf westdeutscher Seite. So unternahm die Bundesrepublik alles, um für ihre freiheitlich-demokratische Grundordnung zu werben, die vom Kommunismus ausgehende Gefahr öffentlich anzuprangern und Parteien sowie Initiativen zu bekämpfen, die drohten, die politische Ordnung der Bonner Republik in Frage zu stellen (KPD-Verbot 1956).

QuellentextParteienverbotsverfahren gegen die SRP und die KPD

Für die Kabinettssitzung vom 8. Mai 1951 vermerkt das Protokoll für Konrad Adenauer einen Satz, der auch in der Debatte über ein AfD-Verbot oft zu hören ist: Es dürfe nicht noch einmal dazu kommen, dass die Demokratie, wie es 1933 geschehen sei, an den demokratischen Grundsätzen sterbe.

Damit nahm das Verfahren gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) seinen Lauf, das zum ersten von bisher zwei Parteiverboten in der Bundesrepublik führte. In Niedersachsen hatte die SRP zwei Tage zuvor in der Landtagswahl aus dem Stand heraus elf Prozent der Stimmen und vier Direktmandate erhalten. Die Partei machte kaum einen Hehl daraus, wes Geistes Kind sie war: Uniformierte Saalordner, der „Badenweiler-Marsch“ – Hitlers Erkennungsmelodie, rote Fahnen mit einem schwarzen Reichsadler anstelle des verbotenen Hakenkreuzes und „Reichsredner“ prägten ihre Veranstaltungen.

Auch die personelle Kontinuität war unübersehbar: Die Führungsriege der Partei setzte sich überwiegend aus ehemaligen NSDAP-Funktionären zusammen. Ihre prominenteste Figur war Otto Ernst Remer. Als Kommandeur des Wachbataillons „Großdeutschland“ hatte er in Berlin maßgeblich zur Niederschlagung des Umsturzversuches am 20. Juli 1944 beigetragen.

Der Wahlerfolg der SRP hatte international hohe Wellen geschlagen. Die Sorge um das Ansehen der Bundesrepublik und der Druck der Besatzungsmächte bewogen Adenauer dazu, ein Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu forcieren. […]

Aber auch damals gab es vereinzelt Skeptiker. Adenauers Kanzleramtschef Otto Lenz hatte vor der Niedersachsen-Wahl von einem Parteiverbot abgeraten: In „viel größerem Maße“ als bei den Kommunisten handele es sich bei den Rechtsradikalen um „irregeleitete Menschen“, die man nicht zu Märtyrern machen solle. Am 23. Oktober 1952 war die Regierung Adenauer am Ziel: Das Bundesverfassungsgericht verbot die SRP. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass die Partei „nach ihrem Programm, ihrer Vorstellungswelt und ihrem Gesamtstil der früheren NSDAP wesensverwandt“ sei. […]

Wenige Tage nach dem SRP-Verbotsantrag stellte die Bundesregierung am 22. November 1951 jenen für die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Verboten wurde die KPD jedoch erst vier Jahre nach der SRP. Das Bundesverfassungsgericht zögerte den Beginn des Verfahrens hinaus. Die mündliche Verhandlung wurde erst im November 1954 eröffnet. Der Grund dafür war offenbar, dass es im zuständigen ersten Senat Vorbehalte gegenüber einem KPD-Verbot gab. Zwei an dem Verfahren beteiligte Verfassungsrichter äußerten sich später in diesem Sinne. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Josef Wintrich, suchte Adenauer im Sommer 1954 sogar in Bonn auf – allem Anschein nach, um ihn darum zu bitten, den Antrag zurückzuziehen. Wintrich hatte intern die Auffassung geäußert, ein Verbot sei nicht mehr nötig, weil die KPD mittlerweile bedeutungslos geworden sei – bei der Bundestagswahl 1953 hatte sie nur noch 2,2 Prozent erhalten.

Der Fall der KPD war auch deshalb komplizierter, weil sie noch von den westlichen Besatzungsmächten zugelassen worden war, sie hatte im Parlamentarischen Rat zwei Mitglieder gestellt und war von 1946 bis 1948 an der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen beteiligt. Hinzu kam die deutschlandpolitische Dimension. Dass sich die DDR und die Sowjetunion zu gesamtdeutschen Wahlen bereit erklärten, erschien von vorneherein illusorisch, wenn Kommunisten davon ausgeschlossen wären. Daher sahen vor allem in den Reihen der SPD viele eine Wiedervereinigung durch ein KPD-Verbot in Gefahr.

Die Bundesregierung übte erheblichen Druck auf das Bundesverfassungsgericht aus, um eine Entscheidung herbeizuführen. In ihrem Urteil hoben die Karlsruher Richter am 17. August 1956 hervor, dass eine Partei nicht schon dann verfassungswidrig sei, wenn sie die Prinzipien einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ablehne. Hinzukommen müsse eine aktive kämpferische, aggressive Grundhaltung gegenüber der bestehenden Ordnung. Die sahen die Richter als gegeben an, wenngleich die Partei im März 1956 ihren Aufruf zum revolutionären Sturz der Regierung Adenauer widerrief. Der Bedeutungsverlust der KPD sprach aus Sicht Karlsruhes nicht gegen ein Verbot: Eine Partei sei auch dann verfassungswidrig, wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf bestehe, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft verwirklichen könne. Das KPD-Verbot blieb kontrovers. Auf Betreiben der SED und mit Duldung der Bundesregierung wurde 1968 die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) gegründet. Formal handelte es sich um eine Neugründung, faktisch aber um eine Wiederbelebung der KPD. […]

Thomas Jansen, „Wie Karlsruhe eine Nazipartei und die Kommunisten verbot“, in: F.A.Z. vom 9. Februar 2024. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allge­meine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Dabei entwickelte das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen in der Hochphase des Kalten Krieges operative Maßnahmen, wie beispielsweise Flugblattaktionen und die verdeckte Finanzierung von antikommunistischen Organisationen. Als Vorbild diente die Rollback- und Liberation-Policy der US-Administration, die den sowjetischen Einfluss nicht nur in Europa zurückdrängen sollte, und die psychologische Kriegsführung. Die propagierte Überlegenheit des eigenen Systems in Abgrenzung zum jeweils anderen Teil wirkte überdies identitätsstiftend und trug zur Stabilisierung und Legitimierung der beiden deutschen Staaten bei.

Gründungskrise

Der Ausgang des Systemwettstreits war zunächst noch offen. Die Währungsreform hatte in Westdeutschland die Preise für manche Nahrungsmittel rapide steigen lassen. Gegen die erhöhten Lebenshaltungskosten richtete sich der Zorn vieler Beschäftigter. Daraufhin mobilisierten die Gewerkschaften die Belegschaften und riefen zum Massenstreik am 12. November 1948 auf, an dem fast zehn Millionen Arbeiter, Angestellte und Beamte teilnahmen – der größte Streik in der Geschichte Westdeutschlands. Zu den Forderungen gehörten die Verabschiedung von Gesetzen gegen Wucher und die Rückkehr zur Bewirtschaftung auf dem Ernährungssektor. Es blieb jedoch bei dem eintägigen Ausstand, da die Streikkassen leer waren. Der zeitgleich tagende Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz ausarbeitete, ließ sich von dem gewerkschaftlich organisierten Massenprotest nicht beeindrucken.

Ende 1949 geriet das Wachstum der westdeutschen Indus­trieproduktion ins Stocken. Die Arbeitslosenzahlen kletterten in der Bonner Republik bis Anfang 1950 auf zwei Millionen (zwölf Prozent). Zu diesem Zeitpunkt befand sich das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ noch in weiter Ferne. Angesichts der gewaltigen sozialpolitischen Herausforderungen (z. B. die Vertriebe­nenintegration, die Versorgung der Kriegsbeschädigten und -hinterbliebenen, der Wohnungsbau) hat sich im Fall des jungen Weststaates zu Recht der Begriff der Gründungskrise eingebürgert.

Doch bis Mitte des Jahrzehnts stieg der Lebensstandard in beiden deutschen Staaten. In der DDR konnten die Versorgungslücken bei Grundnahrungsmitteln im Wesentlichen geschlossen werden. Dazu trug auch der Kurswechsel der SED („Neuer Kurs“) 1953 bei, der den sozial- und konsumpolitischen Fragen größere Bedeutung einräumte. Ost-Berlin versuchte, verloren gegangenes Vertrauen insbesondere bei den Arbeiterinnen und Arbeitern zurückzugewinnen.

Korea-Boom

In der Bundesrepublik sanken Mitte der 1950er-Jahre die Arbeitslosenzahlen, die 1950/51 noch ein Rekordniveau erreicht und das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung erschüttert hatten. Der durch den Koreakrieg ausgelöste Wirtschafts-Boom war eine Initialzündung für die westdeutsche Wirtschaft und legte den Grundstein für das „Wirtschaftswunder“. Die DDR verzeichnete ebenfalls hohe Wachstumszahlen, die aber nur erzielt werden konnten, weil mit geringen Investitionsmitteln Kapazitätsengpässe behoben und Kapazitäts­reserven ausgeschöpft wurden. Die Grundlagen des Wirtschaftsaufschwungs unterschieden sich also in Ost und West. Dennoch: Mitte der 1950er-Jahre schien für viele Menschen die entbehrungsreiche Kriegs- und Nachkriegszeit der Vergangenheit anzugehören.

Deutschlandpolitik: Stalin-Noten 1952

Eine verpasste Chance?

Die beiden Staatsgründungen 1949 waren ausdrücklich als Gegen­entwürfe zur Gründung des jeweils anderen deutschen Staates konzipiert, wobei sich die DDR stets in einer größeren Abhängigkeit von der Sowjetunion befand als die Bundesrepublik von den drei Westmächten. Dabei traf die Moskauer Kremlspitze des Öfteren einsame Entscheidungen, ohne die SED-Führung vorab zu informieren. Das wurde unter anderem bei den deutschlandpolitischen Initiativen („Stalin-Noten“) im Frühjahr 1952 deutlich, die für Ost-Berlin völlig überraschend kamen. Das vermeintliche Angebot des sowjetischen Diktators beinhaltete im Kern ein wiedervereinigtes und wiederbewaffnetes Deutschland unter Anerkennung der Blockneutralität und der West­grenze Polens (Oder-Neiße-Grenze).

Obwohl in Moskau vermutlich mehrere deutschlandpolitische Optionen erwogen wurden, scheint die Führungsriege um Stalin vor allem das Ziel verfolgt zu haben, die Westintegration der Bundesrepublik zu torpedieren. Insofern waren die Stalin-Noten ein geschicktes propagandistisches Störmanöver, das zwar Teile der westdeutschen Öffentlichkeit elektrisierte, aber letztlich sein Ziel verfehlte. Zu entsprechenden Verhandlungen kam es erst gar nicht, weil die drei Westmächte den Vorschlag nach einem längeren Notenwechsel ins Leere laufen ließen.

Für die Regierungen in Bonn und Ost-Berlin beinhalteten die sowjetischen Vorschläge unkalkulierbare Risiken. Konrad Adenauer war von der Sorge getrieben, die Siegermächte könnten sich wie zuletzt in Potsdam 1945 über die Köpfe der Deutschen hinweg erneut einig werden. Etwas anders gelagert waren die Sorgen der SED-Führung um Ulbricht, die bei einer Aufgabe der DDR um die politische Macht fürchteten.

Volksaufstand am 17. Juni 1953

Dass die Herrschaft der SED keinen festen Stand hatte, zeigte sich beim Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953. Auslöser war die Erhöhung der Arbeitsnormen, die einen realen Einkommensverlust bedeutete. Deshalb hatte es schon im Frühjahr erste Arbeitsniederlegungen gegeben, in deren Verlauf auch die betrieblichen Parteiorganisationen der SED in die Kritik geraten waren. Mitte Juni breitete sich eine Streikwelle über das ganze Land aus. Aus dem anfänglichen Arbeiteraufstand entwickelte sich rasch ein Volksaufstand.

Die spontanen Kundgebungen, die nicht zentral gesteuert wurden, verloren rasch ihren anfänglichen Streikcharakter. Denn zu den wirtschaftlichen kamen nun auch politische Forderungen. Der Zorn der Demonstrierenden richtete sich immer mehr gegen die SED, die DDR-Regierung und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). In Sprechchören und auf Transparenten wur­den freie Wahlen und die Einheit Deutschlands gefordert.

Am 17. Juni 1953 entbrennt in der gesamten DDR ein Volksaufstand, der zu einem richtungsweisenden Ereignis in den beiden jungen deutschen Staaten wird. Während das Ausmaß des Aufstands in der DDR durch das SED-Regime vertuscht und Protestierenden faschistische Ziele unterstellt werden, erhebt die Bundesrepublik den 17. Juni zum Feiertag. Diese Karte zeigt, in welchen Städten und Ortschaften es Aufstände gab. (© Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, J 153 Nr 539, 1 Plakat)

Aus einer Wirtschaftskrise entwickelte sich ein offener politischer Konflikt, der rasch das ganze Land erfasste und durch die sowjetischen Besatzungstruppen blutig niedergeschlagen wurde. Es gab mindestens 55 Todesopfer und zahlreiche Verletzte. Die ostdeutsche – politisch gesteuerte – Justiz war noch lange mit der Verfolgung der vermeintlichen Rädelsführer beschäftigt.

Langfristige Folgen

Der Volksaufstand ist ein Schlüsselereignis der DDR-Geschichte und löste sowohl bei dem Regime in Ost-Berlin als auch bei der ostdeutschen Bevölkerung einen Lernprozess aus. Denn allen war klar, wo sich das eigentliche Machtzentrum befand: Die SED-Herrschaft wurde letztlich durch die Präsenz sowjetischer Truppen in der DDR garantiert. Ein erneutes Aufbegehren schien sinnlos zu sein, solange Moskau die schützende Hand über die Ost-Berliner Führung hielt.

Während Ost-Berlin die Erhebung als „faschistischen Putsch“ verunglimpfte, verständigten sich die Bundestagsfraktionen (mit Ausnahme der KPD) wenige Tage nach den dramatischen Ereignissen auf die Einführung eines „Tages der deutschen Einheit“, der in der Bonner Republik jedes Jahr am 17. Juni – von 1954 bis 1990 – feierlich begangen wurde. Somit gingen beide deutsche Staaten auch geschichtspolitisch getrennte Wege.

Deutsch-deutsche Kontakte

„Freizeitangebote“

Obwohl die SED-Spitze die Grenze zur Bundesrepublik 1952 abriegelte, um die Abwanderung von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern zu unterbinden, blieb in West-Berlin das Tor zum Westen Deutschlands offen, bis es dann am 13. August 1961 endgültig zugemauert wurde. Zwischenmenschliche Kontakte blieben in diesem Zeitraum trotzdem immer noch möglich, unterlagen aber stellenweise auch der politischen Instrumentalisierung durch Ost-Berlin. So lud die in Düsseldorf gegründete „Zentrale Arbeitsgemeinschaft – Frohe Ferien für alle Kinder“ – eine kommunistisch gesteuerte Organisation in der Bundesrepublik – zu Ferienlagern an die Ostsee, in den Harz oder Thüringer Wald ein, an denen 1955 rund 46.000 Kinder aus der Bundesrepublik teilnahmen.

Wirtschaftskontakte

Trotz Blockbildung brachen auch die wirtschaftlichen Beziehungen nicht ein. Obwohl sich die Rahmenbedingungen verschlechterten, kam der innerdeutsche Handel nicht zum Erliegen. Das Frankfurter Abkommen vom 8. Oktober 1949 regelte den Warenaustausch zwischen beiden deutschen Staaten zunächst befristet und wurde am 20. September 1951 vom Berliner Abkommen abgelöst, das keine zeitliche Begrenzung mehr vorsah. Während der Umfang des innerdeutschen Warenaustauschs am gesamten Außenhandel der Bundesrepublik nie über 2,5 Prozent lag, betrug er in der DDR 1955 fast elf Prozent.

Der Außenhandel war die „Achillesferse“ (so der Wirtschaftshistoriker Christoph Buchheim) der DDR-Wirtschaft. Wegen permanenter Versorgungsengpässe, die unter anderem auf die Autarkiepolitik Ost-Berlins gegenüber Westdeutschland zurückzuführen waren (Aktion „Störfreimachung“), musste Ministerpräsident Grotewohl wiederholt als Bittsteller in den osteuropäischen Hauptstädten auftreten. Dabei erhielt er von den Regierungschefs der sozialistischen Bruderstaaten des Öfteren einen Korb. Dennoch gelang es der DDR, mit Hilfe sowjeti­scher Rohstofflieferungen bis 1956 vom viert- zum zweitgrößten Exporteur im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, ein internationales Bündnis sozialistischer Staaten unter Führung der Sowjetunion, das 1949 als Pendant zur Gründung der OEEC, einem Vorläufer der OECD, entstand) aufzusteigen.

Die Rolle der christlichen Kirchen

Eine wichtige Klammer zwischen Ost und West bildeten die christlichen Kirchen, die trotz fortschreitender Säkularisierung Ausstrahlungskraft auf viele Menschen in Deutschland besaßen. Am 11. Juli 1954 kamen rund 600.000 Menschen zum Abschlussgottesdienst des evangelischen Kirchentages in Leipzig zusammen. Hier begegneten sich nicht nur deutsche Protestanten aus Ost und West, sondern auch deutsche Politiker. So reisten Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU, 1904–1954) und der Staatssekretär im Bundesjustizministerium Walter Strauß (CDU, 1900–1976) in die Messestadt, um sich unter anderem mit dem Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann (LDPD, 1893–1969) und dem stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten Otto Nuschke (CDU, 1883–1957) zu treffen.

Vom Kirchentag ging die Botschaft aus, dass das deutsche Volk nicht gespalten und der Protestantismus in der DDR lebendig sei. Der Dialog und die über Jahre hinweg gepflegten Verbindungen waren nicht abgebrochen, obwohl die SED den Kirchen in der DDR den Kampf angesagt hatte. Da die Machthaber in Ost-Berlin jeden Widerstand gegen die 1952 forcierte Militarisierung der Gesellschaft brechen wollten, geriet die christlich orientierte „Junge Gemeinde“, die den Jugendlichen eine Alternative zur Freien Deutschen Jugend (FDJ) bot, ins Fadenkreuz des ostdeutschen Regimes. Zahlreiche ihrer Mitglieder lehnten die Offerten des von der SED gesteuerten Jugendverbandes ab und fanden Zuflucht unter dem Dach der evangelischen Kirche. Der Konflikt spitzte sich zu, als die FDJ 1953 Veranstaltungen an den Schulen gegen die Junge Gemeinde durchführte. Über 800 Oberschüler­innen und Oberschüler wurden vom Unterricht ausgeschlossen oder gar von der Schule verwiesen. Die SED-Führung gab ihren konfrontativen Kurs erst im Zusammenhang mit dem im Juni 1953 ausgerufenen „Neuen Kurs“ auf.

QuellentextKirchen in der DDR

Das Bild von der Evangelischen Kirche in der DDR ist in der öffentlichen Meinung nach dem Zusammenbruch der DDR plötzlich umgekippt. Erst galt sie als Mutter der Revolution, nun wurde sie als Stütze des Systems verdächtigt. Das eine war zu viel der Ehre, das andere ist zu viel der Schande.

„Mutter der Revolution“ – diese Übertreibung kam dadurch zustande, dass die Kirche der einzige Ort in der DDR war, an dem das freie Gespräch möglich war. Die Evangelische Kirche hat in den 1980er-Jahren oppositionellen Gruppen, die sich mit den Problemen Frieden, Umwelt, Dritte Welt beschäftigt haben, ihr Dach angeboten, auch Nichtchrist*innen. Und sie hat, wenn Oppositionelle aus diesen Gruppen verhaftet wurden, Fürbittengottesdienste und Mahnwachen ermöglicht. Dann gab es ausnahmsweise volle Kirchen. Und nach der Öffnung der Mauer waren überall im Lande die Kirchen der Ort, an dem sich die Bürger*innen zuerst versammelten und sich die neuen politischen Bewegungen vorstellten. Die Bilder von diesen vollen Kirchen im Westfernsehen haben bei vielen im Westen ein gänzlich irreales Bild vermittelt. Denn in Wahrheit waren die Christen in der DDR zu einer Minderheit geschrumpft. Die Kirche war, anders als in Polen, viel zu schwach, um Mutter der Revolution zu sein. Aber sie konnte der Freiheit des Wortes und der Gedanken Raum geben. Dadurch hat sie Verdienste am Zusammenbruch der SED-Herrschaft, von dessen Geschwindigkeit sie allerdings überrascht wurde. […]

In der ersten Verfassung der DDR waren zwar die Rechte der Kirche wunderschön beschrieben, aber die SED hielt sich nicht an diese Verfassung; und ein Gericht, bei dem die Kirche gegen den Verfassungsbruch hätte klagen können, gab es nicht. Der Spielraum der Kirche bestand deshalb nur aus jederzeit widerrufbaren Gewohnheitsrechten.

Da die Kirchen keine Rechtsposition geltend machen konnten, konnten sie nicht verhandeln, sondern nur bitten. Sie mussten, wenn es um die Gleichberechtigung der Christen und die Arbeitsmöglichkeiten der Kirche ging, darzulegen versuchen, dass es im wohlverstandenen Interesse der anderen Seite sei, dieser Bitte nachzukommen.

Dies war nun umso schwieriger, weil die SED von Anfang an und bis zum Schluss der festen Überzeugung war, dass die Kirche erstens „die einzige Institution im Sozialismus [ist], die nicht dem Wesen der sozialistischen Gesellschaftsordnung entspricht, aus ihr nicht erwächst und für den Sozialismus und seine Entwicklung überflüssig ist“ (so ein Funktionär in seiner Dissertation 1983), und dass die Kirche zweitens das Sammelbecken der feindlich-negativen Kräfte sei, der Brückenkopf des Imperialismus usw.

Die Hauptziele der SED-Kirchenpolitik waren Folgende: Die Kirche sollte ihren Einfluss auf die Jugend verlieren. Dem diente die Jugendweihe und die Behinderung kirchlicher Jugendarbeit. Sie sollte beschränkt werden auf den Kult und die Diakonie, also aus der Öffentlichkeit herausgedrängt werden. Sie sollte eine grundsätzliche Loyalitätserklärung zur Politik der SED abgeben. […]

Richard Schröder, Die evangelische Kirche in der DDR, in: Loccumer Pelikan 3 (2023), S. 4–10. (Religionspädagogisches Magazin für Schule und Gemeinde des Religionspädagogischen Instituts Loccum. Online: Externer Link: https://www.rpi-loccum.de/damfiles/default/rpi_loccum/Materialpool/Pelikan/Pelikanhefte/Pelikan-3-2023.pdf-139edc810c40fb5e55889f765738bc29.pdf#page=48)

Das gemeinsame kulturelle Erbe

Gemeinsamkeiten ergaben sich auch beim – in beiden Staaten unübersehbaren – Rückgriff auf das kulturelle Erbe der deutschen Klassik, insbesondere auf Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und Ludwig van Beethoven. Doch bei der Vortragsreise anlässlich des 200. Geburtstages von Goethe, die den deutschen Schriftsteller Thomas Mann (1875–1955) 1949 nach Frankfurt am Main und nach Weimar führte, zeigte sich auch ein erster Riss durch die deutsche Kulturnation. Der Literaturnobelpreisträger trug durch sein Auftreten in Weimar zu einer politischen Aufwertung des SED-Regimes bei und musste sich von westdeutschen Zeitungskommentatoren harsche Kritik gefallen lassen. In der Folgezeit entstand eine Kluft zwischen den Schriftstellerverbänden in Ost und West.

Während die SED in den ersten Nachkriegsjahren Ausstellungen moderner Kunst tolerierte, rief sie im März 1951 zum „Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur“ auf. Künstlerinnen und Künstler hatten sich fortan am sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung zu orientieren. Dagegen wurde die abstrakte Malerei, die in Westdeutschland einen Siegeszug feierte, in zunehmendem Maße verpönt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die sozialen und kulturellen Kontakte zwischen Ost und West frühzeitig von Spannungen und Ambivalenzen geprägt waren. Sie entzogen sich aber der vollständigen Kontrolle durch die Machthaber in Ost-Berlin.

Offizielle und private Kontakte

Zehn Jahre nach Kriegsende war Deutschland geteilt. Zwei deutsche Staaten waren entstanden, deren Integration in zwei Blocksysteme weitgehend abgeschlossen war. Die Regierungen in Bonn und Ost-Berlin verfolgten eine Deutschlandpolitik, die von einem Alleinvertretungsanspruch geprägt war und eine Anerkennung des jeweils anderen Staates ausschloss. Mit der sogenannten Hallstein-Doktrin (benannt nach dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein, 1901–1982) verfolgte die Bundesregierung ab 1955 eine Politik der Nicht-Anerkennung der DDR. Ost-Berlin versuchte die außenpolitische Isolierung zu durchbrechen, was jedoch erst im Zuge der Entspannungspolitik ab Ende der 1960er-Jahre gelingen sollte.

Es verwundert daher nicht, dass das Zusammentreffen der Ministerpräsidenten aller Länder in München am 5. Juni 1947 der einzige offizielle Dialog auf höchster politischer Ebene bis 1970 blieb. Dennoch hat es in den 1950er-Jahren einige Kontakte gegeben. Zu nennen wären hier zum Beispiel die geheimen Unterredungen zwischen Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU, 1888–1967), dem General der Nationalen Volksarmee (NVA), Vincenz Müller (1894–1961), und dem sowjetischen Botschafter in der DDR, Georgi M. Puschkin (1909–1963), 1955/56 oder die Begegnungen zwischen der westdeutschen FDP und der ostdeutschen LDPD zwischen 1956 und 1966. Doch deutsch-deutsche Kontakte gab es auch im Persönlichen: Grenzüberschreitende Familienbande und Freundschaftsbeziehungen bildeten ein vielfältiges Netzwerk, das zusätzlich durch die Fluchtbewegung verstärkt wurde. Derartige Beziehungen prägten auch den gesellschaftlichen Alltag der Deutschen über den „Eisernen Vorhang“ hinweg.

QuellentextBriefwechsel zwischen Marie Louise P. aus Zittau (DDR) und Oskar H. aus Meckenheim (Bundesrepublik), 1950 bis 1974

[…] In einem christlichen und oppositionellen Umfeld bewegte sich […] Marie Louise P., Englischlehrerin in Zittau. Wiederholt gerieten Familienangehörige und Freunde von ihr in Schwierigkeiten, weil sie als Priester, Schüler oder Studenten dem DDR-Staat mit christlichen Positionen kritisch entgegentraten. Über ihre Sorgen um Freunde und Familie schrieb sie ab den 1950er-Jahren an Oskar H., einen ehemaligen Schüler, der zu dieser Zeit in Meckenheim bei Bonn lebte. Neben konkreten Familienschicksalen und Alltagsthemen wurden die Zukunft der Menschheit und der Welt als Ganzes besprochen. Über 20 Jahre nutzten die protestantische Marie Louise P. und der römisch-katholische Oskar H. die Briefe, um ihre Überlegungen und Überzeugungen in politischen, weltlichen und vor allem geistlichen Dingen zu entwickeln und auszutauschen. Der Briefkontakt endete mit dem Tod von Marie Louise P. im Jahre 1974.

Marie Louise P. aus Zittau an Oskar H.
nach Meckenheim am 26.07.1950

Zittau, den 26. Juli 1950.

Lieber Freund,

Was soll ich sagen, zu Ihrem lieben Briefe vom 16. ds., den ich vor einigen Tagen erhielt? Wenn ich tatsächlich wieder beabsichtigt hätte, über die Grenze zu gehen, durch den Vorhang hindurch der immer eiserner uns umklammert, dann hätte ich bestimmt versucht, Sie irgendwie zu erreichen. Aber das ist ganz ausgeschlossen. Nicht nur, weil mir die flüssigen Mittel zu Reise fehlen (Mr. Pr. ist seit Ende April ohne Einkommen, und ich muss also sehen daß ich für uns beide, und seine alte Schwester, die, aus Dresden ausgebombt, bei uns wohnt, - aufkomme, sondern vor allen Dingen haben Sie wohl keine Ahnung, was für Schwierigkeiten zu überwinden sind, ehe man aus diesem Zuchthaus auch nur vorübergehend herauskann. Ich müßte von dort eine Aufenthaltsgenehmigung vorlegen können, sowie das amtsärztliche Zeugnis, daß jemand mit nahe Verwandtes schwerkrank ist und ausgerechnet meiner Pflege bedarf; und selbst wenn es mir nicht das Geringste ausmachen würde, sonst etwas zu behaupten um etwas zu erreichen, so glaube ich doch nicht, daß die Polizei hier mir die Ausreisegenehmigung erteilen würde; ich bin seit 14 Tagen von allen Ehrenämtern entfernt worden, da man allen auch nur entfernt kirchlichen Einfluss unbedingt ausmerzen will; was nun weiter geschehen soll und wird, wer kann das ahnen? […] Jedenfalls waren wir Ihnen sehr dankbar für die Hilfe, die Sie uns sandten; der Gedanke, daß man jenseits der Gefängnismauern noch an uns denkt, ist wohl das Tröstlichste, was es geben kann. Jedenfalls möchte ich Ihnen versichern, daß der mensch tatsächlich nicht von Brot allein lebt, und daß wir den Jahren, in denen wir an allem, was man zum Leben braucht, Mangel gelitten haben und zum Teil auch noch leiden, gelernt haben, daß die Dinge des geistes doch die wichtigsten sind. Es wird vor allen Dingen der Jugend hier stark zugesetzt; sie wird gezwungen, in die kommunistische Jugendverbände einzutreten; es werden ihr Lügen über Lügen erzählt, sowohl über das eigene Volk als über andere Völker; und es sind ihrer nicht mehr sehr viele, die aus anderen Quellen wissen, können, daß die Dinge doch anders liegen und gelegen haben. […] Nun warten wir auf das, was die nächsten Wochen und Monate bringen sollen, Gutes nicht mehr, aber vielleicht doch den Beweis, daß auch diese Bäume nicht in den Himmel wachsen, und daß die Gerechtigkeit Gottes noch da ist, auch wenn wir sie noch nicht sehen und fühlen. – Habe ich recht gelesen, daß Frau H. nach Rom fährt? Ist denn so etwas überhaupt möglich? Von hier aus kann man, wie gesagt, nicht einmal nach den anderen Teilen Deutschlands, ohne daß die Polizei, das Finanzamt und natürlich die kommunistische Partei ihre Finger mit am Werke haben. Sodaß ich alles aufgegeben habe; ich hatte zwei Ringe meiner verstorbenen Mutter zurecht gelegt, um einmal eine kleine Reise damit zu bezahlen, habe sie aber jetzt schon verkauft, um die Kohle für den Winter und die auf dem Hause liegenden Steuern bezahlen zu können. Aber wir hungern zur Zeit noch nicht wieder und auch nicht mehr, obwohl beides bald wieder der Fall sein kann. Quälen Sie sich nicht mit Schreiben, aber vergessen Sie nicht, daß auch ein Wort ein grosses Geschenk sein kann. […] Und nun will ich schliessen. Wer weiss, ob und wann es noch einmal zum Schreiben kommen wird. Herzlichen Dank, und Ihnen allen alles Gute. Ihre

Marie P.

Oskar H. aus Meckenheim an Marie Louise P.
nach Zittau am 16.12.1972

Dear Mrs. P.!

Es war wirklich wieder einmal eine ziemlich lange Pause seit meinem letzten Brief. […]

Inzwischen ist auch eine Menge geschehen, was zumindest Grund zum Gespräch bietet. Ein Volk, das sicher immer besonders mokiert hatte darüber, daß wir dem Hitler so auf den Leim haben gehen können, ist einer Propaganda erlegen, welche an Dummheit und Kurzsichtigkeit der deutschen Kriegspropaganda in nichts nachsteht. Ich meine die Norweger, welche zu einer Volksabstimmung um den EWG Beitritt aufgefordert worden waren. Die EWG-Gegner haben gesiegt mit Parolen wie: Wir wollen keine katholischen Weinsäufer werden! und Plakaten auf denen Brandt, ausgerechnet Brandt, mit Stahlhelm und Hakenkreuz abgebildet war. Und unsere Bundestagswahl war ja auch nicht durch den Verstand sondern durch Emotionen bestimmt. Abgesehen von dem Vateridol Brandt, das die Leute getäuscht hat, waren es durchaus ehrenwerte Motive, welche die Leute bestimmt haben. Endlich Frieden auch nach dem Osten. Mehr Menschlichkeit, Politik der kleinen Schritte zur Annäherung. Aber wird ihre Entscheidung richtig sein? Ich zweifele sehr daran. Die plötzlich leichten Erfolge werden die Verhandlungspartner kaum friedlicher machen. Im Gegenteil, man wird auch das noch zu erreichen suchen, was man jetzt noch nicht erreicht hat. Das dürfte in erster Linie die DDR betreffen.

Unsere eigenen Partner im Westen sehen die Entwicklung leider so ungern nicht. Ihnen ist der Russe an der Elbe immer noch das kleinere Übel als etwa eine Wiedervereinigung.

Man könnte dem Ganzen auch gute Seiten abgewinnen, wie zum Beispiel bessere Durchlässigkeit der Grenzen und damit eine langsamere Entfremdung. Aber wer kennt nicht das Raffinement der dortigen Behörden und Parteiapparate Verpflichtungen dem Buchstaben nach zu erfüllen und ihnen dabei in Wirklichkeit das Leben zu nehmen. Doch mag ja auch ein gesteigertes Selbstbewußtsein einen Abbau der bisherigen so kleinlichen Aggressivität bedeuten, wenn auch vorläufig die Zeichen eher nach Betrug als nach Solidarität aussehen. […]

Über manches in der Welt könnte man wahrhaftig lachen, wie über die Reden und Streiche von Schuljungen, wenn nicht der Verdacht immer wieder genährt würde, daß zwischen den Sowjets und den Amerikanern eine Verständigung erreicht werden könnte, welche Westeuropa bezahlen müßte

Glücklicherweise sind wir in der Sache nicht allein. Westeuropa macht große Anstrengungen zur Integration. Dazu könnten allerdings ein paar Emotionen und etwas mehr Begeisterung nicht schaden. Doch auch ohnedies sind die Kräfte der Integration sehr stark. Ob es nun ein „Europa der Vaterländer“ oder ein „Vaterland Europa“ gibt, das wird sich zeigen. Die Schnelligkeit und die Schmerzen dieser Entwicklung kann niemand voraussagen. Sie wird hoffentlich abgeschlossen sein bevor die Stürme aus der dritten Welt alles vernichten kann.

Allerdings: ob die Welt von Morgen mehr Gerechtigkeit und Humanität aufweisen wird, glaube ich kaum. Es werden wieder die Starken stärker und die Reichen reicher werden. Worauf warten wir eigentlich? […]

Ganz tief in uns bleibt die Hoffnung lebendig, daß das Gute erhalten bleibt. Daß es nicht sterben kann, daß es sich immer wieder durchsetzt, daß der glimmende Docht nicht ausgelöscht wird. Trotz der Mächtigen, welche alles vernichten, das ihnen widerstehen könnte, trotz des Eigennutz der Reichen, trotz der Gierigen.

Ich wünsche Ihnen für dieses Fest, daß Sie teilnehmen können an der Hoffnung auf das Leben. Ein Leben in einer Welt, welche uns nur geschenkt werden kann.

Es grüßen

NB ein Paket ist auf der Reise. Mögen Sie sich freuen daran.

Disclaimer: An den Briefen wurden keine redaktionellen Änderungen vorgenommen, daher sind an einigen Stellen Rechtschreib-, Zeichen- und Tippfehler zu finden.

Quelle: Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Briefesammlung. Online: Externer Link: https://www.briefsammlung.de/post-von-drueben/konvolut_skizze.html?action=detail&what=collection&id=166

Prof. Dr. Dierk Hoffmann (geb. 1963) ist stellvertretender Leiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam. Seit 2017 leitet er das Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt am IfZ. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte der SBZ/DDR, die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte, die Transformationsgeschichte sowie die Biografieforschung.