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Zwischen Systemwettstreit und Mauerbau (1955–1961) | Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte 1945–1990 | bpb.de

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Zwischen Systemwettstreit und Mauerbau (1955–1961)

Dierk Hoffmann

/ 18 Minuten zu lesen

Von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt und einer Annäherung weit entfernt, spitzt sich der Ost-West-Konflikt weiter zu. Unzählige Menschen flüchten von der DDR in die Bundesrepublik – bis zum Mauerbau 1961.

Ein Bild, das zur Ikone des Kalten Krieges wurde: Zwei Tage nach Beginn des Mauerbaus springt der DDR-Grenzpolizist Conrad Schumann am 15. August 1961 über den Stacheldrahtzaun nach West-Berlin. Heute ist das Foto auf dem Gelände der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße in Berlin zu sehen. (© picture-alliance/dpa, Rainer Jensen )

Offener Systemwettbewerb

Im globalen Kalten Krieg befanden sich beide deutsche Staaten an der Nahtstelle der Systemauseinandersetzung. Beide Seiten waren davon überzeugt, über das bessere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Modell zu verfügen. Obwohl die DDR einige Rückschläge einstecken musste, suchte sie immer wieder den Wettbewerb mit der Bundesrepublik.

Vorherrschaft im Weltraum

In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre schien sich aus Sicht Ost-Berlins endlich ein sozialistisches Wirtschaftswunder abzuzeichnen, das – so die Hoffnung der SED-Führung um Ulbricht – das westdeutsche Wirtschaftswunder in den Schatten stellen sollte. Auslöser dafür war der erfolgreiche Start des sowjetischen Weltraumsatelliten Sputnik 1 am 4. Oktober 1957. Während die Sowjetunion und die osteuropäischen Staaten das Ereignis als Zeichen für die Überlegenheit des Kommunismus feierten, löste der Raketenstart in der westlichen Welt Staunen und Entsetzen über die technologische Leistungsfähigkeit der Sowjetunion aus. Der Sputnik-Euphorie im Osten entsprach der Sputnik-Schock im Westen.

Zwei Monate später scheiterte der US-amerikanische Versuch, einen eigenen Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schießen. Vor laufenden Fernsehkameras löste sich das Unternehmen mit einem explosionsartigen Knall in Luft auf. Doch die Euphorie in den osteuropäischen Hauptstädten währte nicht lange: Mitte der 1960er-Jahre war der sowjetische Vorsprung eingeholt, und am 20. Juli 1969 stand mit dem US-amerikanischen Astronauten Neil Armstrong (1930–2012) der erste Mensch auf dem Mond.

SED-Konsumversprechen

Die durch den erfolgreichen Sputnik-Start befeuerten Überlegenheitsphantasien prägten auch den V. SED-Parteitag im Juni 1958, auf dem Ulbricht ein utopisches Wirtschaftsprogramm verkündete, das erneut die Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft gegenüber der sozialen Marktwirtschaft prophezeite. Damit versuchte die Ost-Berliner Parteiführung im Übrigen auch an die Aufbruchsstimmung anzuknüpfen, die Anfang der 1950er-Jahre zu Beginn des ersten Fünfjahrplanes (1951–1955) noch geherrscht hatte.

Das Wirtschaftsprogramm („ökonomische Hauptaufgabe“) sah im Wesentlichen vor, dass die Bundesrepublik im Verbrauch wichtiger Lebensmittel und Konsumgüter bis 1961 eingeholt werden sollte. Dieses ambitionierte Ziel sollte durch eine intensi­vierte Kooperation mit den RGW-Staaten, die Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen und den Ausbau von Schlüsseltechnologien (vor allem der chemischen Industrie) erreicht werden.

Doch die Begeisterung hielt nicht lange: 1959 wurde der ­zweite Fünfjahrplan vorzeitig abgebrochen und nach dem sowjetischen Vorbild durch einen Siebenjahrplan ersetzt. In der Zwischenzeit hatte sich bei einigen politischen Verantwortlichen die Einsicht durchgesetzt, dass langfristige Wirtschaftspläne das Papier nicht wert waren, auf denen sie gedruckt wurden, sobald die zugrunde gelegten Rahmenbedingungen nicht mehr stimmten. Vom eingeschlagenen Kurs ließ sich aber das Politbüro, das höchste politische Führungsgremium der SED, nicht mehr abbringen.

Ostdeutsches Wirtschaftswunder?

Ulbrichts Wohlstandsversprechen beeindruckten offenbar auch Bundeswirtschaftsminister Erhard, der in einem Gastbeitrag für die Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT einräumte, dass sich die Zuwachsraten des Sozialprodukts der DDR-Wirtschaft „auf der Höhe der größten Erfolge westlicher Volkswirtschaften“ bewegen würden. Erhard erblickte in den Ankündigungen des Parteitages eine große Herausforderung für die Bundesrepublik. Gleichzeitig begrüßte er „diese Art des Wettbewerbs auf friedlichem Felde“. Dabei sei er sogar „zu unterliegen bereit“.

Ost-Berlin griff die Aussagen des Vaters des westdeutschen Wirtschaftswunders begierig auf und instrumentalisierte sie für eigene politische Zwecke. In einem Leitartikel des parteiamtlichen Organs Neues Deutschland wurde Erhards Zeitungsbeitrag sinnentstellend zusammengefasst, indem die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung mit den Plänen zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr in Verbindung gebracht wurde.

Die Wirtschaftspolitik besaß also nach wie vor große Bedeutung für die deutsch-deutsche Systemauseinandersetzung, bei der die DDR offenbar einige Trümpfe in der Hand hielt. So fragte der Politikwissenschaftler und Publizist Peter Molt in einer vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen herausgegebenen Sonderausgabe 1960 besorgt: „Erreicht der Osten unseren Lebensstandard?“

DDR-Flucht: „Abstimmung mit den Füßen“

Doch auf einem anderen Gebiet wurde ab Mitte der 1950er-Jahre unübersehbar, dass die DDR den Wettstreit mit der Bundesrepublik zu verlieren drohte. Bis zum Mauerbau 1961 verließen mindestens 2,8 Millionen Menschen ihre Heimat und gingen in den Westen. Darunter befanden sich besonders viele gut ausgebil­dete Fachkräfte und Jugendliche. Diese Westmigration vollzog sich in mehreren Wellenbewegungen.

Während die Zahl der Abwanderungen 1952 noch bei rund 186.000 gelegen hatte, erhöhte sie sich im darauffolgenden Jahr auf fast 300.000. Nach einem Rückgang 1954 stiegen die Zahlen ab 1955 wieder deutlich an und stabilisierten sich auf hohem Niveau: 315.235 (1955), 363.661 (1956) und 351.668 (1957). Der „Neue Kurs“ hatte offenbar keine positiven Effekte auf die Akzeptanz des politischen Systems in der ostdeutschen Bevölkerung. Die Zahl derjenigen, die die DDR verließen, ging bis Ende der 1950er-Jahre etwas zurück und erreichte 1959 ihren niedrigsten Wert (144.225), um dann 1960 – im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft – wieder auf 202 711 zu klettern.

Die Folgen für die demografische Entwicklung waren beträchtlich: Bis zum Mauerbau verließen knapp 15 Prozent der Menschen, die 1950 in der DDR gelebt hatten, das Land. Da etwa die Hälfte der Geflüchteten unter 25 Jahren alt war, drohte zudem eine Überalterung der DDR-Bevölkerung. Dagegen nutzte die Bundesrepublik den Bevölkerungszustrom aus der DDR, um den Arbeitskräftebedarf in der Epoche des „Wirtschaftswunders“ zu stillen. Die DDR-Flüchtlinge hatten einen entscheidenden Anteil am wirtschaftlichen Aufstieg der Bonner Republik.

Fluchtmotive

Das Spektrum der individuellen Beweggründe für die Flucht in den Westen war groß und umfasste nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische und persönliche Motive. Ein weiterer Grund bestand in der Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) am 18. Januar 1956. In der DDR war die Bereitschaft zum Dienst an der Waffe äußerst gering. Nachdem die Aufstellung eigener Kampfverbände bekannt geworden war, registrierten SED und FDJ vor allem unter Jugendlichen eine weit verbreitete Ablehnungshaltung. Daher führte die ostdeutsche Führung die allgemeine Wehrpflicht erst 1962 nach dem Mauerbau ein.

Flucht als Propagandawaffe

Die Fluchtbewegung entwickelte sich erst 1952 zu einer Propagandawaffe im Kalten Krieg und ließ sich im Westen als „Abstimmung mit den Füßen“ ausschlachten. Das bundesdeutsche Notaufnahmeverfahren, das den Zugang zu Sozialleistungen regelte, wurde durchlässiger: Während die Aufnahmequote 1951 nur bei 38,8 Prozent der Antragstellenden gelegen hatte, schnellte sie ein Jahr später auf 78,7 Prozent hoch. 1953 lag sie bereits bei 95,5 Prozent.

Darin spiegelte sich das veränderte Verhalten der bundesdeutschen Parteien und Verwaltungen gegenüber den Geflüchteten wider. Im Gegenzug begann die SED-Führung mit der Untersuchung der Abwanderung durch die staatlichen Organe sowie die Blockparteien und Massenorganisationen, um Gegenmaßnahmen einzuleiten. Die Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei (HVDVP) und das MfS berichteten nun systematisch und regelmäßig über die von der SED abwertend als „Republikflucht“ bezeichnete Abwanderung.

QuellentextZwangsadoptionen in der DDR

„... so hätte ich weit Gräßlicheres zu erzählen: Geschichten von Kindern, die man ihren Eltern wegnahm.“
Der russische Revolutionär Petr Kropotkin (1842–1921) über die Zarenzeit.

Die Fluchthelfer hatten bereits die erste Rate bekommen, der Fluchtplan schien perfekt. Bestens getarnt holperte das Ehepaar samt Kindern im Versteck des Fluchtwagens der Bundesrepublik entgegen – ausgerechnet am Grenzkontrollpunkt aber begann eines der Kinder zu weinen.

DDR-Grenzsoldaten holten am 21. Dezember letzten Jahres aus dem Versteck das Ärztehepaar Mathias und Gabriele Kiefer aus Leipzig, Sohn Markus, 1, Sohn Alexander, 3. Eltern und Kinder wurden separiert, der Verhaftung folgte der Prozeß. Am 24. Mai dieses Jahres [1975, Anm. d. Red.] sprach ein DDR-Gericht das Urteil: vier Jahre für Mathias Kiefer, dreieinhalb Jahre für seine Frau.

Das Ärgste aber steht den Eltern, die derzeit ihre Strafe in der DDR verbüßen, womöglich noch bevor: Die DDR-Behörden haben ein Verfahren in Gang gebracht, das Eltern und Kinder auf Dauer trennen soll. Den Kiefers werden die Kinder streitig gemacht. Ihre beiden Söhne sollen durch Fremde adoptiert werden.

Was dem Arztehepaar aus Leipzig droht, ist für andere Eltern schon vollendete Tatsache geworden. In aller Heimlichkeit ist die DDR zu einer Rechtspraxis übergegangen, die wie ein Rückfall in den Kalten Krieg anmutet. Eltern, die bei einem Fluchtversuch oder bei der Flucht aus der DDR ertappt werden, müssen neuerdings damit rechnen, daß ihre Kinder nicht nur, wie früher üblich, für die Dauer der Haft von ihnen getrennt werden.

Vielmehr betreiben die zuständigen Jugendbehörden in Städten und Kreisen die Separierung der Eltern und Kinder – quasi eine amtliche Familientrennung, die auf Weisung oder doch Empfehlung des Volksbildungsministeriums vollzogen wird; das Ministerium, das von Margot Honecker, der Frau des SED-Chefs, geführt wird, ist für die Jugendämter in der DDR „Jugendhilfen“ genannt, zuständig.

Und die „Jugendhilfen“ waren es, die in letzter Zeit bei Gerichten durchgesetzt haben, daß Kinder zur Adoption durch linientreue DDR-Bürger freigegeben werden. Sogar Geschwister werden dabei auseinandergerissen.

„Was sich in dieser Hinsieht tut, ist eine Tragödie“, sagt der West-Berliner Rechtsanwalt Jürgen Stange, seit 15 Jahren als Rechtshelfer zwischen Ost und West tätig. Und auch sein Ost-Berliner Kollege Clemens de Maizière, in der DDR ansässiger Bruder des ehemaligen Bundeswehr-General­inspekteurs Ulrich de Maizière, wandte sieh [sic!] Anfang des Jahres an den Präsidenten des Obersten Gerichtes der DDR: „Ein solches Verhalten ist mit den humanitären Grundsätzen unserer Verfassung unvereinbar. Ich stehe nicht an, es als unmenschlich zu bezeichnen.“

Was das Regime bewogen hat, das Unmenschliche zu inszenieren, ist schwer auszumachen. Einen Abschreckungs­effekt auf fluchtwillige Bürger kann sich die DDR nicht versprechen, denn bislang wurden Straf-Adoptionen strikt geheim gehalten. Sendungsbewußte Funktionäre könnten die üble Praxis intern womöglich damit rechtfertigen, daß manche Eltern bei Fluchtversuchen ihren Kindern hohe Risiken zumuteten – mehrere Kinder sind während des Transports in engen Verstecken erstickt; in anderen Fällen nahmen es Eltern hin, daß Fluchthelfer den Kindern unkontrollierte Dosen von Beruhigungsmitteln verabreichten.

Solche Fälle elterlicher Fehleinschätzung rechtfertigen freilich nach keinem rechtsstaatlichen Standard eine derartige brachiale staatliche Vergeltung, wie sie die DDR mit ihren Zwangsadoptionen übt: „Wegen eines einmaligen Fehlverhaltens sollen den Angeklagten ihre Kinder für ewige Zeit entzogen werden“, so Anwalt de Maizière.

Wie die DDR-Behörden dabei zu Werke gehen, zeigt ex­em­plarisch der Fall der Familie Grübel, die im August 1973 versuchte, in der Nähe des Ortes Slavonice die tschechoslowakisch-österreichische Grenze zu überqueren.

Otto Grübel, damals 36, Wohnraumgestalter aus Ost-Berlin, und seine Frau Bärbel, 24, hatten mit ihren Kindern Ota, 4, und Jeannette fast 3, gerade den Stacheldrahtverhau durchkrochen, als sie von tschechischen Grenzsoldaten doch noch gestellt wurden, womöglich auf österreichischem Territorium. Ein DDR-Gericht verurteilte die Eheleute zu je zwei Jahren und zehn Monaten Haft. Nach knapp 22 Monaten, am 21. Mai 1975, wurden sie vorzeitig in die Bundesrepublik entlassen – ohne Ota und Jeannette, die sie seit dem dritten Tag nach ihrer Verhaftung nicht mehr gesehen hatten.

In der vergangenen Woche erfuhr der SPIEGEL, was bis dahin nicht einmal die Grübels wussten: Die Kinder sind, vermutlich schon seit Monaten, von irgendwelchen, jedenfalls den Grübels nicht bekannten DDR-Bürgern adoptiert.

Für solche Prozedur liefert das DDR-Familiengesetzbuch diverse Rechtsgrundlagen, so im Paragraphen 51, wonach „bei schwerer schuldhafter Verletzung der elterlichen Pflichten“ das Erziehungsrecht entzogen werden kann; so im Paragraphen 70, wonach eine Adoption auch gegen den Willen der Eltern oder eines Elternteils verfügt werden kann (selbst dann, wenn den Eltern das Erziehungsrecht noch gar nicht formell entzogen worden ist).

o.A., „Nie wiedersehen“, in: DER SPIEGEL 51/1975

Hilflosigkeit Ost-Berlins

Es schmerzte die SED-Parteiführung, dass vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter und Jugendliche der DDR den Rücken kehrten. Der Versuch, im Gegenzug Facharbeiterinnen und Facharbeiter, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Ärztinnen und Ärzte zum Wechsel aus der Bundesrepublik in die DDR zu bewegen, war nicht von Erfolg gekrönt. Die gebotenen Anreize waren letztlich nicht sonderlich überzeugend. Bis zum Mauerbau 1961 gelang es nicht, die Abwanderung in den Westen durch eine gezielte Einwanderungsbewegung in den Osten zu kompensieren. Die Gesamtzahl derjenigen, die aus der Bundesrepublik in die DDR übersiedelten, lag in den 1950er-Jahren nur bei circa 620.000.

Nach Berechnungen der Staatlichen Plankommission, die Ulbricht in Auftrag gegeben hatte, beliefen sich die wirtschaftlichen Verluste im Zusammenhang mit der „Republikflucht“ auf immerhin 136,3 Milliarden DM (Ost), wobei in dieser Rechnung sowohl geschätzte Produktionsausfälle zwischen 1951 und 1961 als auch Ausbildungskosten Berücksichtigung fanden.

Politische Stabilisierung in West und Ost

Zustimmung zur Demokratie in der Bonner Republik

Die Zufriedenheit über den dynamischen Wirtschaftsaufschwung, der mit einem steigenden Lebensstandard einherging, schlug sich in der Bonner Republik auch in einer wachsenden Zustimmung der Bevölkerung zur Demokratie nieder. Das war nicht selbstverständlich. Bei der Bundestagswahl 1957 konnten CDU und CSU zum ersten und bisher einzigen Mal die absolute Mehrheit erringen. Für den Wahlerfolg waren dabei die Rückführung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zwei Jahre zuvor und die mit den Stimmen der SPD-­Opposition verabschiedete Rentenreform ausschlaggebend.

Bundeskanzler Adenauer befand sich auf dem Gipfel seiner Macht: Den Unionsparteien war es in wenigen Jahren gelungen, konkurrierende Parteien im katholischen Milieu (Zentrumspartei, Bayernpartei) und bürgerlich-konservative Strömungen in protestantischen Regionen Norddeutschlands (Deutsche Partei) sowie die große Wählerschaft der Vertriebenen und Geflüchteten (Gesamtdeutscher Block/Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten) zu einem großen Teil in die Union zu integrieren.

In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre hatte sich die politische Ordnung der Bundesrepublik stabilisiert und ein Drei-Parteien-System (CDU/CSU, SPD, FDP) herauskristallisiert, das bis zum Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 Bestand haben sollte. Nach langwierigen Debatten löste sich die SPD mit ihrem Godesberger Programm 1959 endgültig von marxistischen Vorstellungen, schloss ihren Frieden mit der Bonner Außen- und Sicherheitspolitik und legte damit den Grundstein für die Entwicklung zu einer modernen Volkspartei.

Ulbrichts Machtsicherung

1957 war auch für Ulbricht ein entscheidendes Jahr, denn es gelang ihm, seine Herrschaft in der DDR wieder zu stabilisieren, die vier Jahre zuvor akut bedroht gewesen war. Der Tod Stalins und der Volksaufstand hatten seine Position in der SED ins Wanken gebracht. Innerhalb der SED-Führung hatte sich eine Opposition gegen Ulbricht aufgebaut, dem im Politbüro nur noch Erich Honecker und Hermann Matern die Stange hielten. Als sich jedoch nach dem Sturz des sowjetischen Geheimdienstchefs Lawrentij P. Berija (1899–1953) ein politischer Richtungswechsel in Moskau abzeichnete, wagten es die Politbüromitglieder nicht mehr, den ungeliebten Generalsekretär vom Thron zu stürzen.

Hinzu kam die Tatsache, dass Moskau nach dem 17. Juni nicht mehr an einem Machtwechsel in Ost-Berlin interessiert war. Die wichtigsten parteiinternen Kritiker Ulbrichts – der MfS-Chef Wilhelm Zaisser (1893–1958) und der Chefredakteur des Neuen Deutschland Rudolf Herrnstadt (1903–1966) – verloren die Unterstützung der neuen Machthaber im Kreml und wurden entmachtet. Nachdem der Ungarn-Aufstand 1956 niedergeschlagen und das Land durch sowjetische Truppen besetzt worden war, nutzte Ulbricht die Gunst der Stunde. Er ging gegen intellektuelle Reformer in der SED vor, die im Zuge des XX. Parteitages der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) 1956, der eine Entstalinisierung im sowjetischen Machtbereich eingeläutet hatte, mutiger geworden waren.

Innerparteiliche Kritiker in Ost-Berlin

Dabei bot sich der Parteiphilosoph Wolfgang Harich (1923–1995) als Zielscheibe an, der unter anderem die Auflösung des MfS vorgeschlagen hatte. Damit stellte er die Machtfrage, da die Staatssicherheit längst zu einem der wichtigsten Herrschaftsinstrumente der SED geworden war. Um die Abrechnung mit Harich politisch instrumentalisieren zu können, konstruierte die Zentrale Parteikontrollkommission im Auftrag des Politbüros die „Gruppe Harich“ und erweckte so den Eindruck, in der DDR gebe es oppositionelle Netzwerke wie in Ungarn. Diese sollten zerschlagen werden. Die Verurteilung Harichs zu zehn Jahren Zuchthaus war auch eine Warnung an die Widersacher Ulbrichts in der Parteiführung, die nun damit rechnen mussten, bei der Bekämpfung des sogenannten Revisionismus als nächste an der Reihe zu sein.

Auf einer ZK-Sitzung im Februar 1958 blies Ulbricht zum Angriff, wobei seinem politischen Ziehsohn Erich Honecker die Aufgabe zufiel, mit den Kontrahenten abzurechnen. Zu denen gehörten die Politbüromitglieder Fred Oelßner (1903–1977) und Karl Schirdewan (1907–1998), der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit (kurz Stasi) Ernst Wollweber (1898–1967), der führende Wirtschaftsfunktionär Gerhart Ziller (1912–1957), der Industrieminister Fritz Selbmann (1899–1975) sowie die ­spätere Notenbankchefin Margarete Wittkowski (1910–1974). Gleichzeitig beschloss das Politbüro, den Staatssicherheitsdienst noch enger an die SED zu binden. Neuer Behördenchef wurde Erich Mielke (1907–2000), der das MfS bis zum Ende der SED-Herrschaft 1989 leitete.

Rentenreform in beiden deutschen Staaten?

Der Systemwettstreit erfasste auch die Sozialpolitik: Während der Bundestag 1957 in Bonn nach jahrelangen Debatten eine Rentenreform („Dynamische Rente“) verabschiedete, die einen Paradigmenwechsel einläutete und langfristig der Altersarmut in Westdeutschland entgegenwirkte, plante die SED-Führung im Gegenzug eine „sozialistische Rentenreform“. Ulbricht, der zunächst zu den Bremsern einer grundlegenden Neuordnung der DDR-Alterssicherung gezählt hatte, stellte sich auf einer ZK-Tagung Ende Juli 1956 an die Spitze der Reformbefürworter, als er in seinem Grundsatzreferat erklärte, dass „nicht nur die Verbesserung der Renten, sondern eine Rentenreform vorbereitet werden soll“. Im Kern sollten die Rentenleistungen – wie in der Bundesrepublik – an die Entwicklung der Löhne und Gehälter gekoppelt werden.

Wenige Wochen später geriet die Reformdebatte ins Stocken. Am 10. Oktober veröffentlichte das Politbüro im Neuen Deutschland eine Erklärung, in der der Begriff Rentenreform nicht mehr auftauchte. Die SED-Führung war offenbar zu der Einsicht gelangt, dass es keinen finanziellen Spielraum für eine grundlegende Verbesserung der Rentenbezüge gab. Ost-Berlin stand nun vor dem Problem, die Rentenpolitik gegenüber der Bevölkerung glaubhaft zu kommunizieren. Eingaben (= Schreiben an staatliche Institutionen) aus der Bevölkerung, die an die Rentenkommission des ZK der SED gerichtet waren, zeigten, dass die Verwirrung in der Öffentlichkeit groß war.

Das Politbüro beschloss letztlich nur eine Aufstockung aller Altersbezüge um 30,– DM (Ost). Damit blieb die wirtschaftliche und soziale Lage der Rentnerinnen und Rentner prekär, die in der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft ein Schattendasein fristeten. Die unregelmäßig vorgenommenen Rentenerhöhungen konnten ein Absinken des Rentenniveaus nicht verhindern. Der oftmals niedrige Lebensstandard der DDR-Rentnerinnen und -Rentner konnte zwar durch Preissubventionen einigermaßen stabilisiert werden. An der Wohlstandsentwicklung der ostdeutschen Erwerbsgesellschaft konnten sie jedoch nicht teilhaben.

Vorzüge der DDR-Sozialpolitik

Auf einigen sozialpolitischen Feldern war die DDR aber durchaus weiter als die Bundesrepublik. Das gilt etwa für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, die in der DDR bereits Anfang der 1950er-Jahre gewährt, in der Bundesrepublik aber erst zum 1. Januar 1970 eingeführt wurde. Diese Feststellung trifft aber vor allem für den Ausbau der staatlichen Betreuung von Kindern in der DDR seit den 1970er-Jahren zu, dessen emanzipatorische Wirkung viele ostdeutsche Frauen bis heute betonen.

QuellentextWar die DDR eine Vorreiterin bei der Gleichberechtigung von Frauen?

Dieses Jahr [2019, Anm. d. Red.] wird der Internationale Frauentag am 8. März erstmals in ganz Berlin als Feiertag gefeiert. Es gibt kaum ein Thema, über das zwischen Ost und West so heftig gestritten wird, wie über die sogenannte „Frauenfrage“ in der DDR. […]

Viele Feministinnen im Westen bestritten damals und bestreiten heute noch, dass es in der DDR eine Frauenemanzipation gegeben habe. Die Frauen seien allein aus ökonomischen Gründen, wegen des Mangels an Arbeitskräften, in den Produktionsprozess getrieben worden und hätten sich dabei nicht emanzipiert, sondern einer patriarchalischen Männerwelt unterworfen. Diese reservierte weiterhin alle Spitzenpositionen für sich. Statt wirkliche Emanzipation von den Männern zu praktizieren, seien sie einer eigentlich unerträglichen Dreifachbelastung von Berufsarbeit, häuslicher Arbeit und Besorgungsarbeit in der Mangelwirtschaft unterworfen worden.

Woher kommt diese Gereiztheit zwischen Ost und West in dieser Frage? Ich vermute, es liegt an einem im Westen weitverbreiteten Grundmissverständnis über die Rolle des Staates und der SED in der DDR. Die westdeutschen Kritiker­innen meinen, der Staat der DDR sei geprägt von dem egoistischen Machterhalt einer opportunistischen und korrupten Parteielite und unterstellen der DDR-Führung in allem Handeln niedere Motive wie Machterhalt und Vorteilsnahme. […]

Die DDR war mit ihrem Bestreben nach Verwirklichung des Kommunismus in der „Frauenfrage“ eindeutig auf eine Wahrheit festgelegt. […]

Daher musste die SED in der „Frauenfrage“ insbesondere die Gleichstellung von Mann und Frau in der außerhäuslichen produktiven Arbeit anstreben. Wie das geschehen ist, beschreibt aus DDR-Sicht sehr detailliert und gut belegt die langjährige Professorin für Familienrecht in der DDR, ­Anita Grandke, in ihrem Buch „Die Entwicklung des Familienrechts in der DDR“. Dort wird gezeigt, wie von Anfang an auf die Gleichstellung und Selbständigkeit der Frauen durch Teilnahme nicht nur in der Produktion, sondern am ganzen öffentlichen Leben gedrängt wurde. Sie schreibt: „Typisch für die Ostzone war eine starke Beteiligung der Frauen an wesentlichen sozialen Prozessen.“ Die Frauen mussten nicht wie im Westen den aus dem Krieg zurückgekehrten Männern ihre Positionen räumen. Sie blieben überall beteiligt.

Entscheidend war jedoch die Lohnpolitik. Im Westen war der Männerlohn traditionell der Familienlohn. Frauen durften bis 1977 nur mit dem Einverständnis des Mannes ein Zubrot verdienen. In der DDR wurde von Anfang an darauf hingearbeitet, dass das Familieneinkommen die Summe eines etwa gleichen Männer- und Frauenlohns war. So wurde schon 1946 auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration für die Frauen gleicher Lohn für gleiche Arbeit festgelegt. Und in der nicht an der Sowjetunion, sondern an Weimar orientierten Verfassung von 1949 heißt es in Art. 30,2: „Gesetze und Bestimmungen, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Familie beeinträchtigen, sind aufgehoben.“

1965 schließlich brach die DDR mit den familienrechtlichen Bestimmungen des im Westen weiterhin gültigen BGB und erließ ein Familiengesetzbuch, das zum Beispiel die Kategorie der unehelichen Geburt abschaffte und es damals schon einführte, dass als Familienname der Name des Mannes oder der Frau verwendet werden kann. Die dort zum Ausdruck kommende Vorstellung von der idealen Familie ist auf Gemeinsamkeit und Gleichheit ausgerichtet. Sie schließt auch die freie Entscheidung eines Ehegatten ein, den Beitrag zur Familie „allein durch Arbeit im Haushalt und die Betreuung der Kinder“ zu leisten.

Die Folgen sieht man bis heute. Die Einkommensunterschiede zwischen Mann und Frau waren im Jahr 2014, also 24 Jahre nach der Wiedervereinigung, im Westen mehr als doppelt so hoch wie im Osten. Das zeigt die neueste Studie des DIW zum Gender Pay Gap. […]

Bei aller Erziehungsdiktatur und Repression hat die DDR mit ihrer Verpflichtung auf die sozialistische Doktrin in der Geschlechtergleichstellung etwas Richtiges und Wichtiges geleistet, das bis heute nachwirkt.

Wolf Wagner, „Frauen in der DDR: Wie der Sozialismus die Emanzipation vorantrieb“, in: Tagesspiegel vom 4. März 2019

Aufstieg der Konsumgesellschaft

Für die Bevölkerung in beiden deutschen Staaten war die ­zweite Hälfte der 1950er-Jahre gekennzeichnet von einem zunächst langsam, aber stetig wachsenden Wohlstand. Immer mehr Menschen konnten sich Produkte der expandierenden Konsumgüter­industrie leisten. Bei hochwertigen Artikeln – Kühlschränken, Waschmaschinen und Pkw – entstand jedoch ein West-Ost-­Gefälle, das sich in den 1960er-Jahren bemerkbar machte.

Demokratisierung des Konsums in Westdeutschland?

Dennoch sollte man sich vor übereilten Schlüssen hüten. Denn für die Mehrzahl der westdeutschen Arbeitnehmerhaushalte begann sich erst Ende der 1950er-Jahre das Blatt langsam zu wenden. Mit anderen Worten: Die Zeit der entbehrungsreichen Jahre endete für sie nicht abrupt. Viele mussten auch weiterhin gut haushalten, da nicht alle Konsumgüter für alle auch erschwinglich waren.

Von einer allgemeinen „Demokratisierung des Konsums“ (so der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser) kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede sein. Die setzte für den sogenannten Otto Normalverbraucher erst in der Übergangszeit zu den 1960er-Jahren ein. Das lässt sich beispielsweise am Konsum von Bohnenkaffee zeigen, der in den 1950er-Jahren ein „Sonntagsgetränk“ blieb. Werktags wurde Kaffee-Ersatz getrunken. Im Bundesdurchschnitt eines Vier-Personen-Arbeitnehmerhaushalts überschritt die monatliche Einkaufsmenge Bohnenkaffee erst 1960 ein halbes Kilogramm.

Verzögerte Verbesserung: Abschaffung der Lebensmittelkarten in der DDR

In der DDR dauerte die Verbesserung des Lebensstandards etwas länger: Hier übertraf der private Verbrauch (pro Kopf der Bevölkerung) erst 1958 das Vorkriegsniveau und erreichte rund 60 Prozent des westdeutschen Konsums. Versorgungslücken wurden teilweise durch sowjetische Lieferungen geschlossen. Auch nach der Abschaffung der Lebensmittelkarten 1958 funktionierte die Versorgung der ostdeutschen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nicht reibungslos. Dabei ließ vor allem die Butterversorgung zu wünschen übrig. In einem Stimmungsbericht des MfS vom September 1959 wurden einige Arbeiter im Bezirk Dresden mit den Worten zitiert, „dass sie wohl erst streiken müssten, bevor es wieder Butter geben würde“. In Verkaufsstellen des Kreises Riesa erklärten einige Frauen, „ihre Ehemänner nicht mehr arbeiten zu lassen, so lange die Butterversorgung nicht garantiert ist“.

Doch Ost-Berlin drohte noch eine ganz andere Gefahr, denn die Löhne und Gehälter waren seit der Verkündung des „Neuen Kurses“ zu schnell gestiegen. Da der Bargeldumlauf größer war als das Warenangebot, ergab sich ein Kaufkraftüberhang, der durch eine Reduzierung der umlaufenden Geldmenge 1957 nicht bereinigt werden konnte. Bei den Wirtschaftsexperten machte sich Inflationsangst breit und am Horizont zeichnete sich ein beträchtliches Staatsdefizit ab.

Versorgungskrisen in der DDR

Während das Leitbild der bundesdeutschen Marktwirtschaft das Versprechen enthielt, der Kunde sei König, glaubte die SED-Führung über die Köpfe der ostdeutschen Bevölkerung hinweg entscheiden zu können. Dabei sorgten Sparmaßnahmen bei den Konsumgütern immer wieder für politischen Sprengstoff in der DDR. Das zeigte sich 1977 bei der sogenannten Kaffee-Krise, als die SED-Führung den Verkauf von günstigen Kaffeesorten, die allgemein sehr beliebt waren, stoppte. Außerdem wurde die Einführung eines Mischkaffees (im Volksmund: „Erichs Krönung“) beschlossen, der zu fast 50 Prozent aus Surrogaten (Ersatzprodukten) bestand.

QuellentextDer politische Witz in der DDR

Am Ende war die Luft raus, und der politische Witz in der DDR verschwand und machte Platz für platte Ossi- und Wessi-­Witze nach der Masche: „Wie stellt man an der Berliner Mauer die Himmelsrichtung fest? Lege eine Banane auf den Sims, wo sie angeknabbert wird, da ist Osten.“ Aber in der DDR gab es eine sehr eigenständige und „lebendige Lach­kultur“, wie der in Schwerin arbeitende und in Nagold geborene Historiker Eckart Schörle berichtet, der sich intensiv mit dem Thema befasst hat. Die hatte eine politische Funktion. Einer der kürzesten DDR-Witze zeigt gleich das Repressionspotenzial des Staates auf, der sogenannte 08/15-Witz: „Für acht Sekunden Lachen gibt es 15 Jahre Bautzen.“ Tatsächlich mussten Erzähler politischer Witze nicht gleich eine Verhaftung befürchten – etwa wegen „Verunglimpfung des Staates“. Das war eher ein Merkmal der stalinistischen Ära.

Nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 war der DDR-Führung sogar daran gelegen, durch Humor ein Ventil fürs Volk zu schaffen. Die Satire-Zeitschrift „Eulenspiegel“ wurde im Jahre 1954 gegründet. Doch die Satire hatte Gren­zen. Als der „Eulenspiegel“ einmal eine Karikatur des SED-Vorsitzenden Walter Ulbricht veröffentlichte, wurde der Chefredakteur gefeuert. Aber auch später, unter dem SED-Generalsekretär Erich Honecker Anfang der 70er Jahre, wurde der verkrampfte Umgang der DDR-Führung mit Humor sichtbar, wie Eckart Schörle recherchiert hat. Damals untersuchte die Ostberliner Wochenzeitung „Sonntag“ verschiedene Theaterprogramme und fand heraus: „Es wird nicht genug gelacht.“ Die Zeitschrift vertrat die Ansicht, dass das Publikum Gelegenheit erhalten sollte, „sich von dem Druck mancher Ungereimtheiten des Alltags im Lachen frei zu machen“.

Statt über staatlich verordneten Humor lachten die DDR-Bürger vermutlich lieber im stillen Kämmerlein oder unter Gleichgesinnten – beispielsweise über ihre Politiker. „Politische Witze dienten auch dazu, sein Gegenüber am Arbeitsplatz oder im privaten Bereich auszutesten, sich einer gemeinsamen Haltung zu versichern oder auch nicht“, sagt Schörle. Die Spott-Witze über ungeliebte Führungsgrößen gibt es allerdings in allen Diktaturen – es seien „Wanderwitze“, sagt Schörle und nennt als Beispiel den folgenden: „Walter Ulbricht macht eine Spritztour durch Thüringen, dabei fährt sein Fahrer ein Schwein tot. Ulbricht bittet seinen Fahrer, er möge ins Dorf gehen und sich entschuldigen. Nach Stunden kommt der Chauffeur betrunken und mit Geschenken beladen zurück. Verwundert fragt Ulbricht, was gewesen sei: ,Nu, Genosse Ulbricht, ich bin zu den Bauern gegangen und habe gesagt: Guten Tag, ich bin der Fahrer vom Ulbricht und habe das Schwein totgefahren.‘“ […]

Christoph Link, „Die DDR, wie sie lacht und protestiert“, in: Stuttgarter Zeitung vom 6. November 2014

Das Politbüro wollte mit den getroffenen Maßnahmen den Import von Rohkaffee verringern, um die DDR-Handelsbilanz zu entlasten, unterschätzte aber den dadurch ausgelösten Proteststurm. Die Stimmungsberichte des MfS verdeutlichten, dass die ostdeutsche Bevölkerung nicht nur die Qualitätsverschlechterung und die versteckte Preiserhöhung durchschaut hatte, sondern auch einen Dominoeffekt bei anderen Konsumwaren befürchtete. Die „Kaffee-Krise“ konnte erst entschärft werden, nachdem der Weltmarktpreis für die schwarze Bohne wieder gesunken war.

Von Päckchen und Propaganda

Mit Lebensmitteln und Genussartikeln ließen sich im doppelten Deutschland auch politische Ideen und Botschaften transportieren. Als Reaktion auf den Volksaufstand am 17. Juni 1953 hatte US-Präsident Dwight D. Eisenhower (1890–1969) der ost­deutschen Regierung angeboten, Lebensmittel im Wert von 15 Millionen US-Dollar zu liefern. In Washington war man sich darüber im Klaren, dass Ost-Berlin und Moskau ein solches Angebot ablehnen würden. So gelangten die Hilfsgüter auf anderem Wege in die DDR, wobei die Aktion durch den West-Berliner Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter (SPD, 1889–1953) organisiert wurde.

Über Ausgabestellen im Westteil der Stadt wurden mehr als 5,5 Millionen Lebensmittelpakete in zwei großen Wellen (Juli/August, Oktober) an die Bevölkerung Ost-Berlins und der DDR kostenlos ausgegeben. Jedes Paket enthielt unter anderem 800 Gramm Schmalz, vier Büchsen Kondensmilch, ein Pfund Hülsenfrüchte und ein Kilo Weizenmehl. Die Paketaktion rief eine gewaltige Propagandaschlacht hervor, denn die Bezieher eines Westpakets wurden in der DDR teilweise öffentlich an den Pranger gestellt. Die DDR scheute sich nicht, die Herausforderung des Westpakets im sogenannten Päckchen-Krieg anzunehmen.

Über Ausgabestellen im Westteil der Stadt wurden mehr als 5,5 Millionen Lebensmittelpakete in zwei großen Wellen (Juli/August, Oktober) an die Bevölkerung Ost-Berlins und der DDR kostenlos ausgegeben. Jedes Paket enthielt unter anderem 800 Gramm Schmalz, vier Büchsen Kondensmilch, ein Pfund Hülsenfrüchte und ein Kilo Weizenmehl. Die Paketaktion rief eine gewaltige Propagandaschlacht hervor, denn die Bezieher eines Westpakets wurden in der DDR teilweise öffentlich an den Pranger gestellt. Die DDR scheute sich nicht, die Herausforderung des Westpakets im sogenannten Päckchen-Krieg anzunehmen. So ließ Ost-Berlin Hilfspakete für streikende Arbeiter ins Ruhrgebiet verschicken; Essener Bergarbeiterfamilien erhielten zum Weihnachtsfest 1958 Geschenkpakete von Arbeitern aus Leipzig.

Ungeachtet der Versorgungsengpässe im eigenen Land kon­terte der „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ zwei Westpakete mit anderthalb Ostpäckchen. Der grenzüberschreitende Paketverkehr blieb ein stabiles Beziehungsmuster (so der Historiker Rainer Gries) im deutsch-deutschen Kommunikationsraum, dessen sozialpsychologische Bedeutung bis in die Gegenwart reicht.

Von der Berlin-Krise zum Mauerbau

Nachdem die Staats- und Regierungschefs der vier Siegermächte auf der Genfer Gipfelkonferenz 1955 keine Annäherung in der Deutschlandpolitik erzielt hatten, verkündete der Erste Sekretär der KPdSU (1953–1964) und spätere Regierungschef der Sowjetunion Nikita S. Chruschtschow (1894–1971) bei seiner Rückkehr nach Moskau während eines Zwischenstopps in Ost-Berlin am 26. Juli 1955 die „Zwei-Staaten-Theorie“. Die SED erhielt die lang ersehnte Zusicherung, dass der Kreml die DDR bei Verhandlungen mit den Westmächten nicht mehr aufgeben würde. Beide Länder schlossen dann am 20. September einen „Vertrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR“, der offiziell die vollständige Souveränität der DDR feststellte.

Das Berlin-Ultimatum Chruschtschows und die Reaktion der Westmächte

Doch die außenpolitischen Handlungsspielräume Ost-Berlins blieben gering. In der Deutschland- und Berlin-Frage gingen die entscheidenden Impulse nach wie vor von der Sowjetunion aus, die Ende der 1950er-Jahre erneut den Versuch startete, ihren Einflussbereich auszudehnen. Ende November 1958 stellte der Kremlchef den Viermächtestatus Berlins infrage und löste damit die zweite Berlin-Krise (nach der Berlin-Blockade 1948/49) aus. Gleichzeitig forderte er die Regierungen in Washington, London und Paris ultimativ auf, West-Berlin innerhalb von sechs Monaten zu verlassen. Sollten sich die drei Westmächte dieser Forderung verweigern, drohte die Sowjetunion damit, ihre Hoheitsrechte in Berlin der ostdeutschen Regierung zu übertragen und einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen.

Chruschtschow wollte die ungelöste deutsche Frage im Sinne Moskaus lösen und vor allem die DDR stabilisieren. Das schloss einen Stopp der Wanderungsbewegung nach Westen mit ein. Die Westmächte lehnten das Ultimatum jedoch ebenso ab wie einen sowjetischen Friedensvertragsvorschlag vom 10. Januar 1959. Obwohl die gesetzte Frist verstrich, machte der sowjetische Parteichef seine Drohungen nicht wahr. Der neu gewählte US-amerikanische Präsident John F. Kennedy (1917–1963) konterte schließlich den sowjetischen Schachzug mit einer Rundfunk- und Fernsehansprache am 25. Juli 1961, in der er die three essentials der USA zur Berlin-Frage formulierte, die nicht verhandelbar waren: der freie Zugang nach Berlin, die Anwesenheit der Westmächte in der Stadt und das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung West-Berlins.

Die Entscheidung zum Mauerbau

Aus Sicht der SED war Berlin eine offene Wunde, die dringend geschlossen werden musste, um das Ausbluten der DDR zu verhindern. Deshalb bereiteten die Regierungen in Moskau und Ost-Berlin die Schließung der Grenzen in Berlin vor. Dabei preschte die SED-Führung seit dem Herbst 1960 mit eigenen Überlegungen vor, die im Kreml aber noch nicht auf Zustimmung stießen. Moskau wartete letztlich vergeblich auf ein Einlenken des Westens beim Berlin-Ultimatum.

Ende März 1961 gelang es Ulbricht, die sowjetische Führung von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Grenzen in Berlin endgültig zu schließen. Jetzt ging es nur noch um den richtigen Zeitpunkt. Die offizielle Entscheidung fiel auf einer Tagung des Warschauer Pakts in der sowjetischen Hauptstadt am 3. August. Durch die Zustimmung Moskaus verringerte sich der Ost-­Berliner Handlungsspielraum wieder, da die Sowjetunion einen bewaffneten Konflikt um Berlin auf jeden Fall vermeiden wollte. Deshalb musste Ulbricht Kontrollmaßnahmen an der Sektorengrenze, die zu einer Zuspitzung der Lage beigetragen hätten, zurücknehmen. Mit dem Mauerbau wurde Ulbricht wieder zum Befehlsempfänger Moskaus degradiert.

13. August 1961: Die Abriegelung West-Berlins

Die Durchführung des Mauerbaus in Berlin lag in den Händen von Erich Honecker. Er leitete die logistischen Vorarbeiten als verantwortlicher Stabschef und stieg anschließend zum wichtigsten Mann in der DDR hinter Ulbricht auf, der nur wenige Genossen vorab ins Vertrauen gezogen hatte: unter anderem Willi Stoph (1914–1999), der den erkrankten Ministerpräsidenten Otto Grotewohl vertrat, Staatssicherheitsminister Erich Mielke, Innenminister Karl Maron (1903–1975) und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann (1910–1985). Die übrigen Mitglieder des Ministerrates und des Staatsrates wurden von Ulbricht erst am späten Abend des 12. August 1961 über die unmittelbar bevorstehende Grenzabriegelung West-Berlins (Deckname: „Operation Rose“) informiert.

Im Morgengrauen des 13. August riegelten dann Verbände der Polizei, der Kampfgruppen-Miliz und der Armee den Westteil der Stadt von der Außenwelt nahezu hermetisch ab. In den folgenden Tagen wurden die anfangs verwendeten Barrieren in Form von sogenannten Spanischen Reitern und der eilig gezogene Stacheldrahtzaun durch eine fast durchweg gemauerte Grenzbefestigungsanlage ersetzt. Ulbricht und seine Mitstreiter, denen der Volksaufstand am 17. Juni 1953 noch tief in den Knochen steckte, ließen sich mehrmals vom MfS über die Reaktionen der Ost- und West-Berliner Bevölkerung unterrichten. Es blieb ruhig, auch an den Grenzübergängen. Die Unterbrechung des U- und S-Bahnverkehrs bereitete keine Probleme. Nur einzelne Ost-Berliner übten den Stasi-Berichten zufolge offen Kritik. Schnell wurde klar, dass mit einer Wiederholung der Ereignisse von 1953 nicht zu rechnen war.

Die Reaktionen im Westen

Obwohl die Geheimdienste vereinzelt Informationen über Trup­penverlegungen ins Berliner Umland gesammelt hatten, wurde der Westen durch den Mauerbau überrascht. Dazu hatte Ulbricht mit einer Lüge beigetragen. Auf einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961 in Ost-Berlin hatte er auf eine entsprechende Nachfrage erklärt: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Die westlichen Staats- und Regierungschefs zeigten sich gänzlich unvorbereitet: Während des Mauerbaus segelte US-Präsident Kennedy mit seiner Yacht vor der Küste von Massachusetts. Zeitgleich jagte der britische Premierminister Harold Macmillan (1894–1986) Moorhühner in Schottland und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle (1890–1970) war auf Kurzurlaub in der Champagne.

Der Westen sah tatenlos zu, wobei seine Handlungsspielräume auch begrenzt waren. Washington reagierte sehr zurückhaltend, da die three essentials aus Sicht Kennedys nicht verletzt worden waren. Anfang der 1960er-Jahre hatten sich zudem die sicherheits- und geopolitischen Interessen gewandelt. Für die westliche Führungsmacht besaßen nunmehr die Stabilisierung des Status quo und die Verhinderung eines Nuklearkrieges oberste Priorität. Dagegen stand die Überwindung der deutschen Teilung nicht mehr ganz oben auf der politischen Agenda. Deshalb gab es nur symbolische Gesten: So wurde die US-amerikanische Garnison in West-Berlin personell verstärkt. Außerdem besuchten Vizepräsident Lyndon B. Johnson (1908–1973) und der Held der Luftbrücke von 1948/49, General Lucius D. Clay (1898–1978), am 19./20. August die geteilte Stadt.

Die Reaktionen der Bevölkerung

Die politische Untätigkeit verstärkte das in der Bevölkerung um sich greifende Gefühl, allein gelassen zu sein. Heinrich Krone (1895–1989), der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, notierte in seinem Tagebuch: „In der Berliner Bevölkerung herrscht Wut und Verbitterung. Verbitterung gegen den Westen, der nichts tut. Berlin fühlt sich verlassen.“ Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (1913–1992, SPD) brach seine Fahrt zu einem Wahlkampfauftritt in Kiel ab und kehrte nach Berlin zurück. Dagegen flog Bundeskanzler Adenauer erst zehn Tage später nach West-Berlin. Das war ein Fehler, wie sich bei der Bundestagswahl am 17. September 1961 herausstellte, als die Unionsparteien ihre absolute Mehrheit verloren. Adenauer hatte die Stimmungslage falsch eingeschätzt und wertvolle Sympathiepunkte bei den Wählerinnen und Wählern verloren, wohingegen sich Brandt in der Krise profilieren konnte.

Doch die Krise war nicht vorbei: Am 27. Oktober 1961 standen sich in Berlin am Checkpoint Charlie erstmals in der Geschichte des Kalten Krieges mehrere Stunden lang US-amerikanische und sowjetische Panzer gefechtsbereit gegenüber. Ihr Abzug einen Tag später markierte einen wichtigen Wendepunkt, denn beide Supermächte machten auf diese Weise deutlich, dass sie in Berlin den Status quo anerkannten.

Prof. Dr. Dierk Hoffmann (geb. 1963) ist stellvertretender Leiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam. Seit 2017 leitet er das Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt am IfZ. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte der SBZ/DDR, die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte, die Transformationsgeschichte sowie die Biografieforschung.