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Der flüchtige Zauber des Neuanfangs (1969–1975) | Gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte 1945–1990 | bpb.de

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Der flüchtige Zauber des Neuanfangs (1969–1975)

Dierk Hoffmann

/ 11 Minuten zu lesen

In beiden deutschen Staaten findet ein Machtwechsel statt – mit jeweils unterschiedlichen Auswirkungen. In Bonn wird eine neue Ostpolitik verfolgt, in Ost-Berlin liegt der Fokus auf der Sozialpolitik.

Machtwechsel: In Bonn wird 1969 Kurt Georg Kiesinger von Willy Brandt als Bundeskanzler und in Ost-Berlin 1971 der SED-Parteichef Walter Ulbricht durch Erich Honecker abgelöst. Beide Politiker versprechen Reformen mit weitreichenden Veränderungen. Erst 1985 begegnen sich die beiden, als Brandt (l.) in seiner Funktion als SPD-Vorsitzender Honecker in der DDR besucht (r.). (© picture-alliance, Dieter Klar)

Aufbruchsstimmung in Bonn und Ost-Berlin

Machtwechsel in Bonn und neue Ostpolitik

Wie bereits aufgeführt, gab es nach der Bundestagswahl 1969 einen „Machtwechsel“ in Bonn. Die SPD bildete eine Koalition mit der FDP und stellte mit Willy Brandt zum ersten Mal den Bundeskanzler. Er löste den bisherigen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) ab, die Unionsparteien befanden sich von nun an auf den harten Oppositionsbänken. Der Regierungswechsel hatte sich schon wenige Monate zuvor angekündigt, als Gustav Heinemann (SPD, 1899–1976) mit den Stimmen der FDP zum Bundespräsidenten gewählt worden war. Der politische Wechsel war verknüpft mit weitreichenden Hoffnungen und Erwartungen, die Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in seiner ersten Regierungserklärung selbst aufgriff: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

Mit dem Regierungswechsel verbanden sich nicht nur ein neuer Politikstil, sondern auch außen- und innenpolitische Reformprojekte. Im Vordergrund stand die neue Ostpolitik, die auf eine Verständigung mit den osteuropäischen Nachbarstaaten unter Anerkennung des Status quo hinauslief. Von zentraler Bedeutung waren die Verträge von Moskau und Warschau (beide 1970), die von der Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen ausgingen, ohne das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in Frage zu stellen. Eine wichtige Ergänzung stellte das von den vier Siegermächten ausgehandelte Abkommen über Berlin (1971) dar, mit dem die hoch umstrittene Frage über den Status der ehemaligen Reichshauptstadt entschärft werden konnte.

Für das deutsch-deutsche Verhältnis bildete wiederum der Grundlagenvertrag (1972) eine wichtige Zäsur, denn er hielt die Besonderheit der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten fest. Er diente als Rahmenvertrag für weitere Abkommen und legte die Basis für die Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Daraufhin wurden in Bonn und Ost-Berlin „ständige Vertretungen“ (statt Botschaften) eröffnet. Die Ostverträge waren in der westdeutschen Öffentlichkeit wegen der damit verbundenen Anerkennung des Status quo der bestehenden Grenzen in Europa zunächst hoch umstritten.

Die parlamentarische Auseinandersetzung war jedoch – nach einem gescheiterten Misstrauensantrag der CDU/CSU-Opposition – mit dem SPD-Wahlsieg bei der Bundestagswahl 1972 weitgehend entschieden. Trotz aller Kritik wurde der deutschlandpolitische Kurs nach dem Regierungswechsel 1982 von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU, 1930–2017) und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP, 1927–2016) weitgehend fortgesetzt. Das zeigte sich etwa beim Besuch Honeckers in Bonn am 7. September 1987, der mit fast allen protokollarischen Ehren eines Staatsbesuchs verbunden war. Auf diesem Politikfeld überwogen also die Kontinuitäten.

Innenpolitische Reformprojekte der sozialliberalen Koalition

Große gesellschaftliche Debatten lösten auch die innenpolitischen Reformwerke der sozialliberalen Koalition aus, insbesondere beim Ehe- und Familienrecht, bei § 218 des Strafgesetzbuches (Schwangerschaftsabbruch) sowie bei der betrieblichen Mitbestimmung. Die Reform des Scheidungsrechts verfolgte das Ziel, die Stellung der Frau zu stärken, indem das Schuld- durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt wurde. Das bedeutete, dass eine Ehe geschieden werden konnte, wenn sie gescheitert war. Die sogenannte Schuldfrage, die in Scheidungsverfahren vom Gericht bislang geklärt werden musste, spielte keine Rolle mehr. Außerdem sollte durch einen Versorgungsausgleich die Lage des sozial schwächeren Partners verbessert werden. Damit wurden jedoch viele schwierige Detailfragen aufgeworfen, die dazu führten, dass ein entsprechendes Gesetz erst Mitte 1976 zustande kam.

Das Vorhaben, die strafrechtlichen Bestimmungen zur Abtreibung zu reformieren, führte zu heftigen Reaktionen. Als die im Frühjahr 1974 im Bundestag verabschiedete Neufassung des § 218 die Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft für straffrei erklärte, klagten die unionsregierten Bundesländer vor dem Bundesverfassungsgericht, das die Fristenlösung Anfang 1975 verwarf. Daraufhin wurde das Gesetz im Sinne eines Indikationsmodells überarbeitet und im Mai 1976 verabschiedet. Das neue Gesetz enthielt zwar weiterhin das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs. Es sollte aber keine Strafverfolgung geben, wenn eine Abtreibung aus medizinischen, ethischen oder sozialen Gründen erfolgte.

In der Mitbestimmungspolitik drängte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) darauf, das Prinzip der paritätischen Mitbestimmung, das seit 1951 nur in der Montanindustrie (= Bergbau und rohstoffverarbeitende Schwerindustrie) verankert war, auf alle Großunternehmen auszudehnen. Das betraf die Stimmenverhältnisse in den Aufsichtsräten. Während die SPD die Gewerkschaftsposition übernahm, beharrten FDP und CDU/CSU darauf, dass die letzte Entscheidung in den Aufsichtsräten bei den Eigentümervertretern zu bleiben habe. Der Kompromiss, der schließlich im Bonner Parlament gefunden wurde, sah eine Sondervertretung der leitenden Angestellten vor und durchbrach so das Prinzip der Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Steigende Inflation in Westdeutschland

Das Reformtempo verlangsamte sich jedoch, was einerseits mit den politisch-rechtlichen Hindernissen der einzelnen Gesetzes­vorhaben zusammenhing, andererseits auf die finanziellen Grenzen staatlicher Haushaltspolitik zurückzuführen war. Zunächst stieg die Teuerungsrate von zwei Prozent (1969) auf fast sieben Prozent (1972) und löste in Teilen der Bevölkerung Inflationsangst aus. Anschließend schwächte sich auch noch die Konjunktur ab. Zu den gestiegenen Staatsausgaben, die öffentlich als mangelnde Haushaltsdisziplin kritisiert wurden, kamen noch hohe Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst (plus ca. elf Prozent) hinzu, die zur Richtschnur der Tarifrunde 1974 wurden.

Spionagefall in Bonn 1974

In der Öffentlichkeit setzte ein Stimmungsumschwung ein, der mit sinkenden Sympathiewerten Brandts einherging. Vor diesem Hintergrund ist die Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume zu sehen, der als Referent und enger Vertrauter Brandts im Kanzleramt gearbeitet hatte. Seine Enttarnung war der folgenreichste Spionagefall in der Geschichte der Bundesrepublik und einer der Gründe, die Brandt am 6. Mai 1974 zum Rücktritt bewegten. Nachfolger wurde Helmut Schmidt (SPD). Der Amtswechsel bedeutete eine „Tendenzwende“ (so der Politikwissenschaftler und Historiker Karl Dietrich Bracher) – und zwar vom Visionär Brandt zum Macher Schmidt, dessen Kanzlerschaft unter dem Motto „bewahren“ und „sichern“ stand. Die Reformeuphorie war verflogen; die westdeutsche Gesellschaft befand sich in einer Phase des Umbruchs und der Neuorientierung.

Machtwechsel in Ost-Berlin

In der DDR bröckelte Ende der 1960er-Jahre die Machtstellung Ulbrichts. Mehrere Gründe waren dafür ausschlaggebend:

  • Erstens eignete sich die wirtschaftliche Misere der DDR zur Demontage des SED-Chefs. Ulbricht wurde die Verantwortung für das Scheitern der Wirtschaftsreform in die Schuhe geschoben.

  • Zweitens verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Ost-Berlin und Moskau, was teilweise mit den anders gelagerten sowjetischen Zielen in der Außen- und Deutschlandpolitik zusammenhing.

  • Drittens spielte der Führungsstil Ulbrichts, der schon beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 fast zu dessen Sturz geführt hatte, eine wichtige Rolle bei der Absetzung.

Doch dieses Mal musste er sich seinen Gegnern geschlagen geben: Nach einem klärenden Gespräch mit dem Kremlchef Leonid I. Breschnew (1906–1982) erkannte Ulbricht die Ausweglosigkeit seiner Position und verkündete auf einer Politbürositzung am 27. April 1971 seinen Rücktritt. An seine Stelle trat Erich Honecker, der mit Unterstützung Breschnews erfolgreich gegen ihn intrigiert hatte. Der Führungswechsel in Ost-Berlin, der in der ostdeutschen Bevölkerung vorübergehend eine gewisse Euphorie auslöste, war auch ein Generationenwechsel, der in den 1960er-Jahren zunächst den Partei- und Staatsapparat auf der mittleren Ebene erfasst hatte. In der Wirtschaftspolitik wurden Entscheidungen wieder zentralisiert; die Zeit der Experimente war vorbei.

Ende der Utopie in Ost-Berlin

Während die Bundesrepublik nach dem Ende des Wirtschaftsbooms Anfang der 1970er-Jahre aus dem „Traum immerwährender Prosperität“ (so der Soziologe Burkart Lutz) aufwachte, verschob die SED das Ziel einer kommunistischen Gesellschaft immer weiter in die Zukunft. Stattdessen rückte Sozialpolitik ins Zentrum des „real existierenden Sozialismus“. Mit der proklamierten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ waren Wohlstandsversprechen verbunden, die der Herrschaftsabsicherung dienten. Trotz klammer Kassen hielt die SED-Führung bis zum Ende ihrer Herrschaft 1989 daran fest. Dabei war der sozialpolitische Handlungsdruck durchaus groß. Das galt insbesondere für die Versorgung der Rentnerinnen und Rentner, von denen sich viele am Rande der Armut befanden. So forderte Mitte 1973 ein aufgebrachter Briefschreiber Honecker auf: „Tut etwas! Die Stimmung ist nicht gut!“

Sozialpolitik zur Herrschaftssicherung

Doch die SED hatte mit ihren sozialpolitischen Maßnahmen weiterhin nur die Erwerbsbevölkerung im Blick. Der neue sozialpolitische Kurs Ost-Berlins war allerdings ein zweischneidiges Schwert: Einerseits stabilisierte er kurzfristig die SED-Herrschaft. Andererseits schuf er langfristig neue Abhängigkeiten, denn er weckte in der DDR-Bevölkerung kaum zu befriedigende Erwartungen. Das Politbüro hatte Umfragen in Auftrag gegeben, auf deren Grundlage eine „Dringlichkeitsliste“ erstellt wurde, die den Wohnungsbau, das Gesundheitswesen, die Einkommen und Renten, aber auch die Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen umfasste. So hoffte man, die Wünsche der Ostdeutschen erfassen zu können. Anschließend veröffentlichte die SED einen üppigen Leistungskatalog, obwohl sich die ökonomischen Rahmenbedingungen inzwischen verschlechtert hatten.

Zum Kernstück der Sozialpolitik Honeckers avancierte ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm, mit dem Ost-Berlin eine alte Forderung der Arbeiterbewegung erfüllen wollte. Für die Lösung der Wohnungsfrage legte ein Beschluss der SED-Führung fest, dass innerhalb von fünf Jahren 500.000 zusätzliche Wohnungen durch den Neubau fünf- bzw. sechsgeschossiger Gebäude geschaffen werden sollten. Das Ziel war jedoch zu hochgesteckt. Die Anzahl der fertiggestellten Wohnungen stieg nämlich von 76.020 (1971) auf nur 107.347 (1975). Hinzu kamen staatliche Mietzuschüsse, die primär Arbeiterinnen und Arbeiter der volkseigenen Wirtschaft zugutekamen, während andere Bevölkerungsgruppen leer ausgingen.

QuellentextUrlaub in der DDR

„Frei vom Alltag“, verspricht der hellgrüne Bus mit den verschmitzten Augen und der Blume im Mundwinkel. Er ziert das Cover einer Broschüre von 1958, die Urlaubsangebote des staatlichen Reisebüros der DDR bewirbt. Die freundliche Aufmachung verströmt ein Gefühl der Fröhlichkeit, Leichtigkeit, Unkompliziertheit.

Die Realität sah oft anders aus: Das Bangen um den Sommerurlaub begann für DDR-Bürger schon im Winter. Bis zu einem Stichtag mussten die Bestellscheine für Busfahrten oder für begehrte Auslandsreisen in den Ostblock beim DDR-Reisebüro eingegangen sein. „Da kam bei uns säckeweise Post an“, erinnert sich Bärbel Schindler, die elf Jahre im sächsischen Kamenz bei Dresden eine Außenstelle des DDR-Reisebüros leitete. Von 1000 Anträgen seien nur etwa 30 genehmigt worden. „Das war dann wie ein großer Lottogewinn!“

Nichts mit Last-Minute-Mentalität: Urlaub in der DDR war zwar äußerst günstig, aber bis ins Kleinste reglementiert. Obwohl der Staat von Beginn an Urlaub als eine zentrale sozialpolitische Aufgabe verstand, Ferien mit Milliarden subventionierte und eine Infrastruktur für Massentourismus aufbaute, blieb das Reisen bis zum Schluss ein Politikum: Unzufriedene beschwerten sich über die Begrenzung der Urlaubsziele auf die „sozialistischen Bruderstaaten“ oder bespöttelten den DDR-Reiseatlas als „kleinstes Buch der Welt“. Als 1989 Massenproteste das DDR-System erschütterten, forderten viele neben mehr Demokratie auch etwas völlig Undenkbares: „Visafrei nach Hawaii!“

Der Wunsch nach Reisefreiheit beschleunigte den Zusammenbruch der DDR, die vier Jahrzehnte mit patriarchalischer Fürsorge versucht hatte, das Freizeitverhalten seiner Bürger zu finanzieren, zu steuern und zu kontrollieren. Symbolisch kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache 1989 „Reisefreiheit“ zum Wort des Jahres.

Es war das Ende einer langen Tradition des Wohlfahrtstourismus: Schon bei der Staatsgründung 1949 schrieb die DDR für jeden Arbeitenden das „Recht auf Erholung“ und „auf jährlichen Urlaub gegen Entgelt“ gar in Artikel 16 der Verfassung. Das „Handbuch der DDR“ bejubelte das sozialistische Urlaubssystem als „große soziale Errungenschaft der DDR“.

Der hohe Anspruch lautete: Bezahlbarer Urlaub für alle. Das Ziel war „Entspannung, Erholung und Erhaltung der Arbeitskraft“, wie es auf offiziellen Werbeplakaten hieß. Das sollte jedoch nicht als Aufruf zum Hedonismus verstanden werden: „Erholungsurlaub war nicht Privatsache, sondern Teil der Politik“, erklärt Andreas Ludwig, Leiter des Dokumentationszentrums „Alltagskultur der DDR“ in Eisenhüttenstadt, das derzeit eine Ausstellung über Urlaub in der DDR präsentiert. „Einfach abzuhängen und nichts zu tun wurde anfangs nicht so gerne gesehen.“

Vielmehr erwartete die DDR, dass sich ihre Bürger in der Freizeit fortbildeten oder an gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnahmen. Der Urlaub mit Kollegen sollte das Kollektiv festigen. Doch früh musste die Staatsmacht einsehen, dass ihre hehren Ansprüche auf wenig Gegenliebe stießen. „Schon in den fünfziger Jahren gab es viele in der SED, die einfach sagten. 'Lasst die Leute doch einfach schlafen im Urlaub, wenn sie das wollen!'“, erzählt Ludwig.

An einem anderen Ziel hielt die DDR-Führung dagegen eisern fest: den Sozialtourismus schnell massentauglich zu machen. Dabei ging man nicht zimperlich vor: 1953 durchsuchten Hunderte Polizisten in der „Aktion Rose“ mehr als 700 private Hotels, Gaststätten oder Pensionen an der Ostseeküste. Der Vorwurf: Die Hoteliers würden „illegal eingeführte Westwaren“ verkaufen und für die „Agentenzentralen des amerikanischen Imperialismus“ arbeiten. Am Ende der Aktion wurden 440 Hotelbesitzer enteignet und unter dem Vorwand krimineller Machenschaften verhaftet.

Hauptnutznießer war der Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), der viele der enteigneten Häuser übernahm. Schon seit Jahren hatte der FDGB regel­mäßig Zehntausende in seine staatlich subventionierten Häuser geschickt – zu unschlagbar günstigen Konditionen: Nur ein Drittel der Kosten mussten die Urlauber zahlen; das galt sogar schon für die Hinreise mit der Reichsbahn. Zwei Wochen Vollpension im Ostseebad Boltenhagen kosteten 1965 beispielsweise schlappe 95 Mark pro Person – bezahlt mit einem der begehrten rosafarbenen „FDGB-Ferienschecks“.

Doch der vermeintliche Volltreffer barg handfeste Nachteile. Ein FDGB-Urlaub klang wie ein Krankenhausaufenthalt: Auf den Ferienschecks war von der „Einweisung ins FDGB-Urlauberdorf“ und „Verpflegungsstellen“ die Rede. Der Sozialversicherungsausweis durfte nicht fehlen, Sportkleidung war ausdrücklich erwünscht – und zu guter Letzt mussten manche auch ihren Chef oder einen unliebsamen Kollegen beim kollektiven Mittagessen ertragen. In den stets ausgebuchten Heimen wurden Renovierungen verschoben, Wasserhähne tropften, Betten quietschten – und morgens begann der Kampf um die Etagendusche. […]

Manch einer hätte einen FDGB-Ferienscheck aber nicht einmal geschenkt genommen: Plan-Urlaub in einer Plan-Wirtschaft war für viele DDR-Bürger ein Alptraum. Sie hatten keine Lust auf das Gemeinschaftsgetue, auf das sozialistische Rahmenprogramm in überfüllten Betriebsferienheimen an einer ebenso überfüllten Ostsee. Ihnen war das eigene Land längst zu klein geworden. Sie träumten von Australien oder New York – und kamen höchstens nach Ungarn oder Bratislava. Sie wollte [sic!] individuell und nicht im Kollektiv reisen. […]

Christoph Gunkel, „Zwangseinweisung ins Ferienheim“, in: DER SPIEGEL vom 9. Juli 2009. Online: Externer Link: https://www.spiegel.de/geschichte/verreisen-in-der-ddr-a-948359.html

Ökonomische Überforderung: das Devisenproblem der DDR

Das 1972 geschnürte Sozialpaket markierte einen Dammbruch, da die Kosten rasant stiegen. Statt der ursprünglich angesetzten 1,4 Milliarden Mark gingen die ostdeutschen Wirtschaftsexperten wenig später von über fünf Milliarden Mark aus. Damit hatten sich die Ausgaben innerhalb eines Jahres mehr als verdreifacht, ohne dass die SED die Frage der Gegenfinanzierung beantwortet hatte. Da die Wirtschaftspolitik nicht die erhofften Effekte erzielte und auch die Konkurrenzfähigkeit von DDR-Produkten auf den internationalen Märkten abnahm, stieg der Importüberschuss und damit das Handelsbilanzdefizit. Die SED-Führung diskutierte Mitte der 1970er-Jahre erstmals über die drohende Gefahr eines Staatsbankrotts. Angesichts der Schieflage, in der sich die DDR-Handelsbilanz befand, nahm Honecker im Politbüro 1975 kein Blatt vor den Mund: „So ein Problem hat noch nie vor der DDR gestanden. An sich müssten wir pleite anmelden.“

Devisenbeschaffung durch die KoKo

Um die Probleme des DDR-Außenhandels zu lösen, entwickelte sich das MfS zu einem wirtschaftspolitischen Akteur, der immer mehr an Bedeutung gewann. Das galt insbesondere für die Technologiespionage und die Absicherung illegaler Außenhandelsgeschäfte. Im Zentrum stand die Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo), die bereits am 1. Oktober 1966 im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel (MAI) gegründet und ab 1967 von Alexander Schalck-Golodkowski (1932–2015) geleitet wurde. Dieser organisierte auch den Kunst- und Antiquitätenhandel sowie den Müllimport aus der Bundesrepublik. Auch dadurch zeigte sich die immer größer werdende wirtschaftliche Abhängigkeit der DDR von der Bundesrepublik.

Oberstes Ziel war die Überwindung der Zahlungsbilanzkrise durch die Beschaffung von ausländischen Devisen. Dabei schreckte die SED-Führung auch nicht davor zurück, der Bundesregierung Häftlinge zum Freikauf anzubieten. Auf diese Weise kamen zwischen 1963 und 1989 über 33.000 politische Häftlinge frei. Im Gegenzug erhielt das SED-Regime Waren im Wert von rund drei Milliarden D-Mark. Schalck-Golodkowski handelte schließlich mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU) 1983 und 1984 zwei Milliardenkredite aus, die nicht nur Geld in den DDR-Haushalt spülten, sondern auch die internationale Kreditwürdigkeit des ostdeutschen Staates wiederherstellten. Die Bundesrepublik bürgte nun für die Schulden der DDR. Obwohl die SED den drohenden Staatsbankrott noch abwenden konnte, war der wirtschaftliche Niedergang des Landes nicht aufzuhalten.

Erdölpreisschock und Strukturwandel

Mitte der 1970er-Jahre war die Aufbruchsstimmung in Ost und West weitgehend verflogen. Das lag auch an globalen Veränderungen in der Wirtschaft, die durch den Erdölpreisschock von 1973 ausgelöst wurden. Die arabischen Erdöl exportierenden Länder hatten nach Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges (1973) im Nahen Osten – als Syrien, Ägypten sowie weitere arabische Staaten Israel am höchsten jüdischen Feiertag angriffen – die Rohölförderung um ein Fünftel gedrosselt und so den Preis nach oben getrieben. Damit schien die sicher geglaubte Energieversorgung der Industrienationen in Frage zu stehen. Die Bundesregierung reagierte darauf mit Sparmaßnahmen und beschloss unter anderem die Einführung von vier autofreien Sonntagen.

Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik

Da die Erdölkrise die westlichen Volkswirtschaften in eine ­tiefe Rezession stürzte, keimte in Ost-Berlin die Hoffnung auf, den ökonomischen Wettlauf mit der Bundesrepublik doch noch gewinnen zu können. Seit ihrer Gründung hatte die SED den Zusammenbruch des Kapitalismus herbeizureden versucht. Sie sah sich nun in ihren Untergangsprophezeiungen bestätigt, denn die Arbeitslosigkeit stieg in Westdeutschland sprunghaft an und erreichte ein ungeahnt hohes Niveau. Bereits 1975 war die Millionengrenze überschritten: Bei den Arbeitsämtern waren insgesamt 1,074 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet – fast doppelt so viele wie ein Jahr zuvor. Das entsprach einer Arbeitslosenquote von 4,7 Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der registrierten Beschäftigten in Kurzarbeit von 292.000 (1974) auf 773.000 (1975).

Zur Massenarbeitslosigkeit gesellte sich ein weiteres Schreckgespenst: die Inflation. Während sich in der Bonner Republik die Verbraucherpreise erhöhten, sank das reale Sozialprodukt auch noch um 1,8 Prozent. Dagegen gab es in der DDR offiziell keine Erwerbslosigkeit. Die seit Mitte der 1950er-Jahre irrelevant gewordene Arbeitslosenversicherung wurde auf Geheiß der SED-Führung 1977 abgeschafft. Ost-Berlin hatte aber mit einem vergleichbaren Problem zu kämpfen: der sogenannten Arbeitskräftehortung. Die Betriebe horteten nämlich nicht nur Materialien, sondern auch Arbeitskräfte, die in der DDR aufgrund der permanenten Arbeitskräfteknappheit dringend benötigt wurden. Die DDR-Planwirtschaft bekam dieses Problem nie in den Griff. Die Arbeitskräftehortung entsprach einer verdeckten Arbeitslosigkeit, die in der DDR nach Schätzungen westlicher Wirtschaftsinstitute mitunter im zweistelligen Bereich lag (ca. 15 Prozent).

Probleme der DDR-Planwirtschaft: Energiekrise

Obwohl sich die Bundesrepublik in einer echten Wirtschaftskrise befand, konnte Ost-Berlin daraus kein politisches Kapital schlagen. Das Neue Deutschland meldete zwar monatlich die aktuellen Zahlen von der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit. Hinzu kamen Berichte über die Folgen der Energiekrise sowie ausführliche Artikel über Streiks, Arbeitsniederlegungen und Einzelschicksale. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte die SED-Führung bereits mit eigenen Problemen zu kämpfen. Auf das ostdeutsche Außenhandelsdefizit und die beginnende Verschuldung ist bereits hingewiesen worden.

Ein weiterer Faktor kam hinzu: Ende der 1970er-Jahre traf der Erdölpreisschock die DDR mit voller Wucht. Im Zusammenhang mit einer Änderung des Preismechanismus, der im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe langfristig vereinbart worden war, wälzte die Sowjetunion – als größter Hauptlieferant von Rohöl – den gestiegenen Weltmarktpreis auf die DDR und die anderen Staaten in ihrem Macht- und Einflussbereich ab. Während die DDR bis 1976 rund 50 Prozent des Weltmarktpreises für das aus der Sowjetunion importierte Öl aufbringen musste, waren es 1978 bereits 80 Prozent. Außerdem weigerte sich Moskau, dem Wunsch Ost-Berlins nach einer größeren Liefermenge zu folgen. Dadurch geriet die bis dahin sicher geglaubte Energieversorgung der DDR in Gefahr. Daraufhin schlug die Staatliche Plankommission eine Energiewende mit fatalen Folgen vor: die Rückkehr zur Braunkohle.

QuellentextUmweltschutz in der DDR

„Luft und Wasser [...] machen bekanntlich an Grenzen nicht halt. Daher [ist] gerade mit Blick auf den vorsorgenden Umweltschutz, vor allem in der Luftreinhaltung, die Zusammenarbeit mit der DDR dringend erforderlich.“ Mit diesen Worten kommentierte Bundesumweltminister Klaus Töpfer die am 10. Juni 1987 paraphierte Umweltvereinbarung mit der DDR. Als dann am 7. September 1987 – vor 30 Jahren – Erich Honecker das erste und letzte Mal als Staatschef der DDR in die Bundesrepublik reiste, hatte er für den als „Arbeits­besuch“ definierten Aufenthalt drei unterschriftsreife Vereinbarungen im Gepäck sowie die dafür zuständigen Minister im Gefolge. Und einer der zwischenstaatlichen Verträge behandelte eben die Frage des gemeinsamen Umweltschutzes.

Das Thema, über das Experten aus Ost und West zwei ­Jahre lang verhandelt hatten, war nicht neu – und schon länger auf der deutsch-deutschen Agenda. Industrielle Umwelt­verschmutzung erhielt seit etwa 1970 weltweit erhöhte Aufmerksamkeit, nachdem die Versauerung skandinavischer Gewässer durch grenzüberschreitende Luftverschmutzung entdeckt worden war. Die Industrieländer begegneten diesen Problemen mit dem Aufbau administrativer Strukturen, wie beispielsweise 1970 der Environmental Protection Agency (EPA) in den USA. Die beiden deutschen Staaten reagierten ebenfalls auf den internationalen Trend: Die Bundesregierung etablierte ein Umweltaktionsprogramm und gründete eine Abteilung Umweltschutz im Bundesinnenministerium; die DDR schuf 1972 gleich ein ganzes Ministerium für Umwelt und Wasserwirtschaft.

Obwohl die infrastrukturellen Voraussetzungen nun gegeben waren, und der Gegenstand „Umwelt“ sogar als Thema für Nachfolgeverhandlungen im Grundlagenvertrag festgeschrieben wurde, kam es während der 1970er Jahre zwischen der Bundesrepublik und der DDR in dieser Frage zu keinen nennenswerten Fortschritten. Warum stießen die beiden deutschen Staaten hier an die Grenzen ihres Machbaren?

Zum einen hatte das Vier-Mächte-Abkommen von 1971 einen zentralen Streitpunkt nicht auflösen können: Über die „Bindungen“ zwischen der Bundesrepublik und Westberlin bestanden weiterhin unterschiedliche Auffassungen. Während die DDR ihren Abbruch forderte, betrieb die Bundesrepublik den Ausbau der bestehenden Beziehungen. Mit der Gründung des Umweltbundesamtes in West-Berlin 1974 lieferte die Bundesrepublik der DDR letztlich einen willkommenen Vorwand, nicht mehr über Umweltprobleme reden zu müssen. Denn diese Institution sollte die „Bindungen“ nach Westdeutschland stärken, was die SED-Funktionäre wiederum zu verhindern suchten. Die Gespräche zum Umweltschutz mit Vertretern der Bundesregierung wurden schließlich auf unbestimmte Zeit abgebrochen. Mehr noch, Schikanen auf der Transitstrecke gegen Mitarbeiter des neuen Bundesamtes sorgten dafür, dass das Bundeskabinett ebenfalls beschloss, „alle laufenden Vertragsverhandlungen mit der DDR“ vorerst ruhen zu lassen (DER SPIEGEL 32/1974).

Zum anderen kosten Umweltschutzmaßnahmen Geld. Die DDR war Anfang bis Mitte der 1970er nicht zu größeren Investitionen bereit – jedenfalls nicht in der Höhe, von der man meinte, dass die Bundesrepublik sie einfordern ­würde. Dementsprechend war das Interesse in Ost-Berlin an derartigen Verhandlungen zu diesem Zeitpunkt gering. Aber auch die westdeutschen Politiker verloren im Zuge der Ölkrise von 1973 und ihrer Nachwirkungen den Umweltschutz aus den Augen.

Doch der öffentliche Druck auf die Bundesregierung, etwas gegen die Verschmutzung aus dem Osten zu unternehmen, ließ nicht nach. Im Gegenteil, die Sensibilisierung der Bevölkerung nahm immer weiter zu. Umweltproblem Nummer eins war für die Westdeutschen die Versalzung der Werra durch die Kali-Werke der DDR. Sie leiteten salzhaltige Abwässer aus der Produktion direkt in die Werra, so dass der Fluss einen Salzgehalt aufwies, der über dem der Nordsee lag (DER SPIEGEL 22/1982, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Januar 2014). Nicht nur kreuzte die Werra mehrmals die deutsch-deutsche Grenze, sie führt auch in die Weser und damit weit hinein in bundesdeutsches Territorium. Fischsterben und Trinkwassergefährdung waren die Folge. Über dies wurden Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre die grenzüberschreitende Luftverschmutzung und das Waldsterben problematisiert, ebenso die Schadstoffbelastung der Elbe und die Abfallentsorgung aus dem Westen in die DDR.

Erschwerend kam hinzu, dass die DDR ihre Umweltdaten ab 1982 als „geheim“ einstufte, sie also nicht mehr zur Ver­öffentlichung freigegeben wurden. Dennoch näherten sich genau zu diesem Zeitpunkt Ost und West über „kleine Schritte“ wieder einander an: Sie erzielten eine Einigung über die Berliner Gewässer (1982) und über die von Thüringen nach Oberfranken fließende Röden (DER SPIEGEL 33/1983). In beiden Fällen wurden moderne Kläranlagen in der DDR gebaut.

Den endgültigen Startschuss für eine allgemeine Umweltvereinbarung gaben Helmut Kohl und Erich Honecker auf ihrem Treffen in Moskau 1985. Dreizehn Expertengesprächsrunden und zwei Jahre später stand ein Text, mit dem alle Beteiligten zufrieden waren: Das Abkommen sollte für fünf Jahre gelten, die umstrittene Einbeziehung des Umweltbundesamtes wurde durch Kompromisse gelöst, gleiches gilt für die aus ostdeutscher Sicht problematischen „Bindungen“ nach West-Berlin. Zudem wurden gemeinsame Arbeitspläne ausgearbeitet. Thematisch verständigten sich beide Seiten auf einen Informationsaustausch zum Naturschutz und damit über gemeinsame Problemlagen wie Luftschadstoffe, die rationelle Nutzung und den Schutz von Gewässern, den Umgang mit Waldschäden oder die Beseitigung von Abfallstoffen.

Bereits im Juni 1989 trug diese Vereinbarung erste Früchte: Klaus Töpfer und Hans Reichelt, Minister für Umwelt und Wasserwirtschaft der DDR, schlossen einen weiteren Vertrag über sechs Umweltschutzpilotprojekte ab. Sie sollten in der DDR mit Hilfe bundesdeutscher Finanzmittel realisiert werden und hauptsächlich der Quecksilberreduzierung in der Elbe dienen. Während es für die Elbsanierung also bereits vor dem Fall der Mauer langsam Fortschritte zu verzeichnen gab, ist die Werraversalzung bis zum heutigen Tag ein Umweltproblem – nur jetzt eben ein innerdeutsches.

Sophie Lange, Umweltschutz über Grenzen. Die deutsch-deutsche Umweltvereinbarung von 1987, in: Blog des Berliner Kollegs Kalter Krieg vom 26. September 2017

Verschlafener Strukturwandel in der DDR

Die Ölkrise fiel zeitlich mit dem Ende des Wirtschaftsbooms der 1950er- und 1960er-Jahre zusammen. Die westlichen Industrienationen standen vor einem tiefgreifenden Strukturwandel, der zu einem massiven Abbau der Beschäftigungszahlen in der Industrie führte. Das betraf insbesondere den Bergbau, die Eisen- und Stahlindustrie sowie die Textilindustrie. Dem Veränderungsdruck konnte sich die DDR-Wirtschaft nur teilweise und vorübergehend entziehen. So ging der Beschäftigtenanteil in der Landwirtschaft (primärer Sektor) von 27,9 (1950) über 11,8 (1970) auf 10 Prozent (1989) zurück. Der sekundäre Sektor (produzierendes Gewerbe) veränderte sich nur geringfügig, denn hier stieg der Beschäftigtenanteil zunächst von 43,3 (1950) auf 48 (1970), um dann bis 1989 wieder auf 45 Prozent zu sinken.

Im deutsch-deutschen Vergleich fallen noch weitere Unterschiede auf: Ende der 1980er-Jahre entsprach die Struktur der ostdeutschen Wirtschaft jener der Bundesrepublik von 1981. Von langfristiger Bedeutung war die Tatsache, dass die DDR im Dienstleistungssektor (tertiärer Sektor) einige Merkmale aufwies, die von den westlichen Industriegesellschaften abwichen. Die offiziellen Statistiken Ost-Berlins wiesen zwar einen Beschäftigtenanteil von 45 Prozent (1989) im Dienstleistungssektor aus. Doch diese Zahl verdeckte die Besonderheiten einer staatssozialistischen Planwirtschaft, die mit einem hohen Personalbedarf im Staats-, Sicherheits- und Wirtschaftslenkungsapparat zusammenhing. Dagegen wurden Beschäftigte, die in den Kombinaten und volkseigenen Betrieben für Dienstleistungen der betrieblichen Sozialpolitik zuständig waren (z. B. Kinderbetreuung und ärztliche Versorgung), dem Industriesektor zugeordnet.

Prof. Dr. Dierk Hoffmann (geb. 1963) ist stellvertretender Leiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam. Seit 2017 leitet er das Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt am IfZ. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte der SBZ/DDR, die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte, die Transformationsgeschichte sowie die Biografieforschung.